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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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Ans den Briefen Goethes

Herr im eignen Hause werden, und viele Mißbräuche, die ihren Ursprung und
ihre Stütze gerade in der Abhängigkeit vom Staate haben, würden verschwinden,
zur großen Genugthuung der Bischöfe, die bisher vergebens oder doch nnr mit
geringem Erfolge gegen sie angekämpft haben.

Daß die Kirche noch einen festen Halt im Lande hat und bei allen
Schäden und schwachen Seiten doch einen gute" Kern enthält, wird durch
nichts besser bewiesen als durch die rühmliche Opferwilligkeit ihrer Anhänger
und die entsagungsvolle Arbeit so vieler Geistlichen Mancher Priester auf
guter Pfründe mag ja sein Amt uur als eine milchende Kuh betrachten und
von seinen Pflichten gerade soviel erfüllen, als unumgänglich nötig ist, bei
den meisten, seien sie aus den obern Zehntausend oder aus der Million ent¬
sprossen, herrscht ein ernster Geist redlicher Pflichterfüllung, Das herrliche
Bild, das Chaucer von dein kleinen Pfarrer entworfen hat, paßt auch jetzt auf
tausende:


Was Christus samt den zwölf Aposteln sprach.
Das lehrt' er, doch zuerst that er danach.

Dieser Geist, der jetzt alle Schichte" der Geistlichkeit durchdrungen hat, ist
hauptsächlich eine Folge der Oxforder Bewegung, und das darf nicht vergessen
werden, wenn man die ritualistischen Auswüchse verurteilt. Noch hat es
nirgends eine starke Bewegung gegeben, die voll häßlichen Auswüchsen frei
geblieben ist. Eine ernste Gefahr für die Kirche liegt in dem ritualistischen
Treiben nicht, und an Einbußen ist sie gewöhnt, Wohl aber kaun die Krisis
heilsame Wirkung ausüben, indem sie die öffentliche Teilnahme erregt und ver¬
einte Aufmerksamkeit auf die Gebrechen, die der Kirche anhaften, lenkt. Nur
das schwerste Gebrechen kann nicht berührt werden; denn das liegt in der
eigentümlichen Zlvitterstelluilg der anglikanischen Kirche zwischen Protestan¬
tismus und Katholizismus. Sie wird neue Kämpfe zu bestehn haben lind
wird wahrscheinlich nach rechts lind links Mitglieder verlieren. Ob sie ent-
staatlicht wird oder nicht, eine Zwitterkirche muß sie bleiben oder überhaupt
aufhören zu sein.




Aus den Briefen Goethes

or kurzer Zeit ist ein neuer Band der Weimarer Ausgabe vou
Goethes Briefen erschienen. Es ist dies der dreiundzwanzigste
und umfaßt die Zeit vom Mai 1812 bis August 1813, also
sechzehn Monate. Man kann daraus ungefähr entnehmen, wie
viel Bände noch erforderlich sein werden, um die ganze Samm¬
lung zum Abschluß zu bringen. Die meisten der Briefe sind schon bekannt, aber
weit zerstreut gewesen; doch siud nicht wenige mit dem Stern bezeichnet, der


Ans den Briefen Goethes

Herr im eignen Hause werden, und viele Mißbräuche, die ihren Ursprung und
ihre Stütze gerade in der Abhängigkeit vom Staate haben, würden verschwinden,
zur großen Genugthuung der Bischöfe, die bisher vergebens oder doch nnr mit
geringem Erfolge gegen sie angekämpft haben.

Daß die Kirche noch einen festen Halt im Lande hat und bei allen
Schäden und schwachen Seiten doch einen gute» Kern enthält, wird durch
nichts besser bewiesen als durch die rühmliche Opferwilligkeit ihrer Anhänger
und die entsagungsvolle Arbeit so vieler Geistlichen Mancher Priester auf
guter Pfründe mag ja sein Amt uur als eine milchende Kuh betrachten und
von seinen Pflichten gerade soviel erfüllen, als unumgänglich nötig ist, bei
den meisten, seien sie aus den obern Zehntausend oder aus der Million ent¬
sprossen, herrscht ein ernster Geist redlicher Pflichterfüllung, Das herrliche
Bild, das Chaucer von dein kleinen Pfarrer entworfen hat, paßt auch jetzt auf
tausende:


Was Christus samt den zwölf Aposteln sprach.
Das lehrt' er, doch zuerst that er danach.

Dieser Geist, der jetzt alle Schichte« der Geistlichkeit durchdrungen hat, ist
hauptsächlich eine Folge der Oxforder Bewegung, und das darf nicht vergessen
werden, wenn man die ritualistischen Auswüchse verurteilt. Noch hat es
nirgends eine starke Bewegung gegeben, die voll häßlichen Auswüchsen frei
geblieben ist. Eine ernste Gefahr für die Kirche liegt in dem ritualistischen
Treiben nicht, und an Einbußen ist sie gewöhnt, Wohl aber kaun die Krisis
heilsame Wirkung ausüben, indem sie die öffentliche Teilnahme erregt und ver¬
einte Aufmerksamkeit auf die Gebrechen, die der Kirche anhaften, lenkt. Nur
das schwerste Gebrechen kann nicht berührt werden; denn das liegt in der
eigentümlichen Zlvitterstelluilg der anglikanischen Kirche zwischen Protestan¬
tismus und Katholizismus. Sie wird neue Kämpfe zu bestehn haben lind
wird wahrscheinlich nach rechts lind links Mitglieder verlieren. Ob sie ent-
staatlicht wird oder nicht, eine Zwitterkirche muß sie bleiben oder überhaupt
aufhören zu sein.




Aus den Briefen Goethes

or kurzer Zeit ist ein neuer Band der Weimarer Ausgabe vou
Goethes Briefen erschienen. Es ist dies der dreiundzwanzigste
und umfaßt die Zeit vom Mai 1812 bis August 1813, also
sechzehn Monate. Man kann daraus ungefähr entnehmen, wie
viel Bände noch erforderlich sein werden, um die ganze Samm¬
lung zum Abschluß zu bringen. Die meisten der Briefe sind schon bekannt, aber
weit zerstreut gewesen; doch siud nicht wenige mit dem Stern bezeichnet, der


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[0514] Ans den Briefen Goethes Herr im eignen Hause werden, und viele Mißbräuche, die ihren Ursprung und ihre Stütze gerade in der Abhängigkeit vom Staate haben, würden verschwinden, zur großen Genugthuung der Bischöfe, die bisher vergebens oder doch nnr mit geringem Erfolge gegen sie angekämpft haben. Daß die Kirche noch einen festen Halt im Lande hat und bei allen Schäden und schwachen Seiten doch einen gute» Kern enthält, wird durch nichts besser bewiesen als durch die rühmliche Opferwilligkeit ihrer Anhänger und die entsagungsvolle Arbeit so vieler Geistlichen Mancher Priester auf guter Pfründe mag ja sein Amt uur als eine milchende Kuh betrachten und von seinen Pflichten gerade soviel erfüllen, als unumgänglich nötig ist, bei den meisten, seien sie aus den obern Zehntausend oder aus der Million ent¬ sprossen, herrscht ein ernster Geist redlicher Pflichterfüllung, Das herrliche Bild, das Chaucer von dein kleinen Pfarrer entworfen hat, paßt auch jetzt auf tausende: Was Christus samt den zwölf Aposteln sprach. Das lehrt' er, doch zuerst that er danach. Dieser Geist, der jetzt alle Schichte« der Geistlichkeit durchdrungen hat, ist hauptsächlich eine Folge der Oxforder Bewegung, und das darf nicht vergessen werden, wenn man die ritualistischen Auswüchse verurteilt. Noch hat es nirgends eine starke Bewegung gegeben, die voll häßlichen Auswüchsen frei geblieben ist. Eine ernste Gefahr für die Kirche liegt in dem ritualistischen Treiben nicht, und an Einbußen ist sie gewöhnt, Wohl aber kaun die Krisis heilsame Wirkung ausüben, indem sie die öffentliche Teilnahme erregt und ver¬ einte Aufmerksamkeit auf die Gebrechen, die der Kirche anhaften, lenkt. Nur das schwerste Gebrechen kann nicht berührt werden; denn das liegt in der eigentümlichen Zlvitterstelluilg der anglikanischen Kirche zwischen Protestan¬ tismus und Katholizismus. Sie wird neue Kämpfe zu bestehn haben lind wird wahrscheinlich nach rechts lind links Mitglieder verlieren. Ob sie ent- staatlicht wird oder nicht, eine Zwitterkirche muß sie bleiben oder überhaupt aufhören zu sein. Aus den Briefen Goethes or kurzer Zeit ist ein neuer Band der Weimarer Ausgabe vou Goethes Briefen erschienen. Es ist dies der dreiundzwanzigste und umfaßt die Zeit vom Mai 1812 bis August 1813, also sechzehn Monate. Man kann daraus ungefähr entnehmen, wie viel Bände noch erforderlich sein werden, um die ganze Samm¬ lung zum Abschluß zu bringen. Die meisten der Briefe sind schon bekannt, aber weit zerstreut gewesen; doch siud nicht wenige mit dem Stern bezeichnet, der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/514>, abgerufen am 22.06.2024.