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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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Landflucht und Polenfrcige

der Gemeinde und ist der Fürsorge des Staates nur mwertrant, Sie hat
allgemein menschliche Zwecke, höhere als die des Nationalismus oder gar des
Nationalitätenkaiupfes. Noch gefährlicher ist es, den Religionsunterricht an¬
zutasten, und wenn man auch nur den Schein erweckt, als wollte man ihn
mit solchen Zwecken verflechten. Beim Kampf mit der Kirche wird der Staat
immer verlieren. Das formale Recht mag für ihn sein, das innere Recht
wird immer gegen ihn sein. Er versucht mit dem Teil der Menschenseele zu
experimentieren, der zu fein ist für seine groben Hände. Das ist nutzlose
Quälerei. Im Namen der allein erlaubten Nationalität, des nationalen
Staates wird da derselbe Frevel ausgeübt, der in frühern Jahrhunderten im
Namen einer alleinseligmachenden Kirche oder im Namen des Landesherrn
geschah, der für seine Landeskinder die Religion ausgewählt hatte, nämlich
die Vergewaltigung des Gewissens. Aber so verkehrt ist die Welt; was
man darf, davor scheut man sich, und wovor man sich ewig scheuen sollte, das
eben wagt man.

Manche Maßnahmen unsrer Polenpolitik kommen mir vor wie die Be-
schwörmlgsformeln, womit die Chinesen das Feuer eiues großen Brandes zu
löschen suchen, währenddem das Feuer immer weiter frißt, statt daß sie dem
Feuer die Nahrung wegrisseil! Wir modernen Menschen sehen hinter dem
Phänomen den Zusammenhang von Ursache und Wirkung, und hiernach richtet
sich unser Handeln.

Die Ursache: das ist das Abwandern der deutschen Landbevölkerung, und
das Wachstum der Polen ist nur eine der vielen Wirkungen dieser Ursache.
Ju den mitteleuropäischen und besonders in den deutschen Städten liegt zur
Zeit ein Maximum von Arbeitsgelegenheit oder ein Minimum von Arbeits¬
losigkeit und Elend. Dorthin wird die bewegliche Arbeiterbevölkerung geradezu
mit Macht angesogen. Diese negative Drnckschwankuug zieht die polnischen
Arbeitermassen tiefer in das Herz Deutschlands hinein. Sie müssen die Lücken
füllen, die von den deutschen Arbeitern gelassen werden. Ebenso werden über
die holländischen, dünischen, österreichischen Grenzen und von Italien her
Arbeitermassen hereingesogen, während zugleich die deutsche Auswandrung
versiegt. Diese negative Druckschwankung ist es auch, die Böhmens Städte,
oben sie wachsen, tschechisch macht, und die die altdeutsche Stadt Wien
slawisiert.

Hat man erst erkannt, worin die Ursache der Polenbewegnng besteht,
uümlich im Wegziehu der Deutschen, so wird man den Druck auf die Polen
für nutzlos halten und die Rettung suchen in der Vermehrung der Deutschen.
Es ist nicht unsre Pflicht, die Polen mit Gewalt und List deutsch zu machen.
Damit verlieren wir bloß die Zeit, ganz abgesehen davon, daß wir uns damit
zugleich an unserm Deutschtum und an der Menschheit versündigen; sondern
es ist unsre Pflicht, dafür zu sorgen, daß wir, daß unsre Partei, unsre Lands¬
leute nicht weiterhin das Feld räumen. Hier ist ein Schachspiel im Gange,
das nicht mit Paragraphen und Verordnungen, sondern nnr mit lebendigen,


Landflucht und Polenfrcige

der Gemeinde und ist der Fürsorge des Staates nur mwertrant, Sie hat
allgemein menschliche Zwecke, höhere als die des Nationalismus oder gar des
Nationalitätenkaiupfes. Noch gefährlicher ist es, den Religionsunterricht an¬
zutasten, und wenn man auch nur den Schein erweckt, als wollte man ihn
mit solchen Zwecken verflechten. Beim Kampf mit der Kirche wird der Staat
immer verlieren. Das formale Recht mag für ihn sein, das innere Recht
wird immer gegen ihn sein. Er versucht mit dem Teil der Menschenseele zu
experimentieren, der zu fein ist für seine groben Hände. Das ist nutzlose
Quälerei. Im Namen der allein erlaubten Nationalität, des nationalen
Staates wird da derselbe Frevel ausgeübt, der in frühern Jahrhunderten im
Namen einer alleinseligmachenden Kirche oder im Namen des Landesherrn
geschah, der für seine Landeskinder die Religion ausgewählt hatte, nämlich
die Vergewaltigung des Gewissens. Aber so verkehrt ist die Welt; was
man darf, davor scheut man sich, und wovor man sich ewig scheuen sollte, das
eben wagt man.

Manche Maßnahmen unsrer Polenpolitik kommen mir vor wie die Be-
schwörmlgsformeln, womit die Chinesen das Feuer eiues großen Brandes zu
löschen suchen, währenddem das Feuer immer weiter frißt, statt daß sie dem
Feuer die Nahrung wegrisseil! Wir modernen Menschen sehen hinter dem
Phänomen den Zusammenhang von Ursache und Wirkung, und hiernach richtet
sich unser Handeln.

Die Ursache: das ist das Abwandern der deutschen Landbevölkerung, und
das Wachstum der Polen ist nur eine der vielen Wirkungen dieser Ursache.
Ju den mitteleuropäischen und besonders in den deutschen Städten liegt zur
Zeit ein Maximum von Arbeitsgelegenheit oder ein Minimum von Arbeits¬
losigkeit und Elend. Dorthin wird die bewegliche Arbeiterbevölkerung geradezu
mit Macht angesogen. Diese negative Drnckschwankuug zieht die polnischen
Arbeitermassen tiefer in das Herz Deutschlands hinein. Sie müssen die Lücken
füllen, die von den deutschen Arbeitern gelassen werden. Ebenso werden über
die holländischen, dünischen, österreichischen Grenzen und von Italien her
Arbeitermassen hereingesogen, während zugleich die deutsche Auswandrung
versiegt. Diese negative Druckschwankung ist es auch, die Böhmens Städte,
oben sie wachsen, tschechisch macht, und die die altdeutsche Stadt Wien
slawisiert.

Hat man erst erkannt, worin die Ursache der Polenbewegnng besteht,
uümlich im Wegziehu der Deutschen, so wird man den Druck auf die Polen
für nutzlos halten und die Rettung suchen in der Vermehrung der Deutschen.
Es ist nicht unsre Pflicht, die Polen mit Gewalt und List deutsch zu machen.
Damit verlieren wir bloß die Zeit, ganz abgesehen davon, daß wir uns damit
zugleich an unserm Deutschtum und an der Menschheit versündigen; sondern
es ist unsre Pflicht, dafür zu sorgen, daß wir, daß unsre Partei, unsre Lands¬
leute nicht weiterhin das Feld räumen. Hier ist ein Schachspiel im Gange,
das nicht mit Paragraphen und Verordnungen, sondern nnr mit lebendigen,


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[0503] Landflucht und Polenfrcige der Gemeinde und ist der Fürsorge des Staates nur mwertrant, Sie hat allgemein menschliche Zwecke, höhere als die des Nationalismus oder gar des Nationalitätenkaiupfes. Noch gefährlicher ist es, den Religionsunterricht an¬ zutasten, und wenn man auch nur den Schein erweckt, als wollte man ihn mit solchen Zwecken verflechten. Beim Kampf mit der Kirche wird der Staat immer verlieren. Das formale Recht mag für ihn sein, das innere Recht wird immer gegen ihn sein. Er versucht mit dem Teil der Menschenseele zu experimentieren, der zu fein ist für seine groben Hände. Das ist nutzlose Quälerei. Im Namen der allein erlaubten Nationalität, des nationalen Staates wird da derselbe Frevel ausgeübt, der in frühern Jahrhunderten im Namen einer alleinseligmachenden Kirche oder im Namen des Landesherrn geschah, der für seine Landeskinder die Religion ausgewählt hatte, nämlich die Vergewaltigung des Gewissens. Aber so verkehrt ist die Welt; was man darf, davor scheut man sich, und wovor man sich ewig scheuen sollte, das eben wagt man. Manche Maßnahmen unsrer Polenpolitik kommen mir vor wie die Be- schwörmlgsformeln, womit die Chinesen das Feuer eiues großen Brandes zu löschen suchen, währenddem das Feuer immer weiter frißt, statt daß sie dem Feuer die Nahrung wegrisseil! Wir modernen Menschen sehen hinter dem Phänomen den Zusammenhang von Ursache und Wirkung, und hiernach richtet sich unser Handeln. Die Ursache: das ist das Abwandern der deutschen Landbevölkerung, und das Wachstum der Polen ist nur eine der vielen Wirkungen dieser Ursache. Ju den mitteleuropäischen und besonders in den deutschen Städten liegt zur Zeit ein Maximum von Arbeitsgelegenheit oder ein Minimum von Arbeits¬ losigkeit und Elend. Dorthin wird die bewegliche Arbeiterbevölkerung geradezu mit Macht angesogen. Diese negative Drnckschwankuug zieht die polnischen Arbeitermassen tiefer in das Herz Deutschlands hinein. Sie müssen die Lücken füllen, die von den deutschen Arbeitern gelassen werden. Ebenso werden über die holländischen, dünischen, österreichischen Grenzen und von Italien her Arbeitermassen hereingesogen, während zugleich die deutsche Auswandrung versiegt. Diese negative Druckschwankung ist es auch, die Böhmens Städte, oben sie wachsen, tschechisch macht, und die die altdeutsche Stadt Wien slawisiert. Hat man erst erkannt, worin die Ursache der Polenbewegnng besteht, uümlich im Wegziehu der Deutschen, so wird man den Druck auf die Polen für nutzlos halten und die Rettung suchen in der Vermehrung der Deutschen. Es ist nicht unsre Pflicht, die Polen mit Gewalt und List deutsch zu machen. Damit verlieren wir bloß die Zeit, ganz abgesehen davon, daß wir uns damit zugleich an unserm Deutschtum und an der Menschheit versündigen; sondern es ist unsre Pflicht, dafür zu sorgen, daß wir, daß unsre Partei, unsre Lands¬ leute nicht weiterhin das Feld räumen. Hier ist ein Schachspiel im Gange, das nicht mit Paragraphen und Verordnungen, sondern nnr mit lebendigen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/503>, abgerufen am 22.06.2024.