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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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und drehte sich um Heiraten und Erbschaften, die Kraft eines Staates lag in
seiner Spitze. Osterreich, ans sechs Völkern zusammengesetzt, war damals
beinahe der mächtigste Staat. I/e-tat o'oft moi, sagte der König, und das
war nicht Frivolität, sondern Wahrheit. Aber seitdem die Welt demokratisch
geworden ist, giebt die Masse des Volkes der Nation den Namen, giebt
der Politik die Ziele und der .Kultur den (Geschmack. Nationalismus und
Demokratie siud zusammen geboren. Nationalismus ist offiziell gewordne
Demokratie, Demokratie unter Glas und Rahmen. Jetzt heißt es: IVvwt, ez'est
mora: das Volk; und wo es mehrere Völker giebt, da giebt es bald auch
mehrere Staaten. In Staaten, wo mehrere Völker sind, da kann nicht demo¬
kratisch regiert werden, und in einem Staate, wo demokratisch regiert wird, da
darf es nicht mehrere Völker geben. Das Beispiel ist Österreich, aber andre
Länder sind es auch. Die nationale Grundfarbe aller verschollnen Völker und
Völkerreste wird durch die Lackfarbe der übergepinselten "höhern" Kultur
hindurch wieder sichtbar. Man denke an die Vlamen in Belgien. Wäre Polen
noch das alte Adelstand ohne Bürger und Bauern, und stünde hinter dem
Begriff Preußen nur ein absoluter König wie einst, so würde Polen weiter
schlafen. Weil in ihm aber mühsam gepflegt durch die gewissenhafte Kultur¬
arbeit Preußens ein Arbeiterstand entsteht, der lesen und schreiben und sprechen
und wühlen kann, und weil ans diesem ein Mittelstand herauswächst von
Kleinbauern und Handwerkern und Kleinbürgern, Ärzten nud Anwälten, und
schließlich auch von Kaufleuten lind Fabrikbesitzer"! -- deun diese alle haben
als Mittel und als Ursache ihres Daseins den Arbeiterstnnd nötig, für den
und mit dem sie arbeiten --, kurzum weil hier ein wirkliches, modernes Volk
entsteht, das noch dazu mit Fleiß mündig gemacht wird durch die erzwungne
Teilnahme ein allen Gütern der westeuropäischen, demokratischen Kultur, darum
hat Polen wieder eine Zukunft. Sie kann ihm nicht genommen werden. Sie
kann ihm höchstens durch Gewalt vorenthalten werden. Wie soll aber solche
Gewalt aussehen in einem Gemeinwesen, zu dessen Lebensluft die demokratische
Freiheit gehört?

Germanisieruugspolitik heißt diese Gewalt. Neuerdings wird diese Ger-
manisierung der Russifizierung immer ähnlicher. Aber auch wenn die Russi-
fiziernng ihr Ziel erreicht, die Germanisierung wird es auf diesem Wege nie
erreichen. Deal alle deutsche Kultur und Geschichte predigt mit tausend Zungen,
daß der Geist nicht gefesselt werden kann und darf.

Politische Versammlungen in polnischer Sprache abzuhalten, das kann
verboten werden. Deal wir brauchen keinem Fremden politische Rechte anzu¬
bieten. Das Recht, zu wählen, gehört nicht unter die Menschenrechte und
kann wie gegeben, so genommen werden. Aber es ist schon sehr zweifelhaft,
ob es gerechtfertigt werden kann, wenn der Staat die Schule zu Germanisie-
rnngszwecken benutzt, z. B. wenn er bei den Schülern nach polnischen Ge¬
schichtsbüchern suchen läßt, oder privaten Unterricht verbietet. Die Schule ist
nicht die Dienerin des Staates; sie gehört von Hans aus der Kirche oder


Landflucht »ut j?>olenfrcige

und drehte sich um Heiraten und Erbschaften, die Kraft eines Staates lag in
seiner Spitze. Osterreich, ans sechs Völkern zusammengesetzt, war damals
beinahe der mächtigste Staat. I/e-tat o'oft moi, sagte der König, und das
war nicht Frivolität, sondern Wahrheit. Aber seitdem die Welt demokratisch
geworden ist, giebt die Masse des Volkes der Nation den Namen, giebt
der Politik die Ziele und der .Kultur den (Geschmack. Nationalismus und
Demokratie siud zusammen geboren. Nationalismus ist offiziell gewordne
Demokratie, Demokratie unter Glas und Rahmen. Jetzt heißt es: IVvwt, ez'est
mora: das Volk; und wo es mehrere Völker giebt, da giebt es bald auch
mehrere Staaten. In Staaten, wo mehrere Völker sind, da kann nicht demo¬
kratisch regiert werden, und in einem Staate, wo demokratisch regiert wird, da
darf es nicht mehrere Völker geben. Das Beispiel ist Österreich, aber andre
Länder sind es auch. Die nationale Grundfarbe aller verschollnen Völker und
Völkerreste wird durch die Lackfarbe der übergepinselten „höhern" Kultur
hindurch wieder sichtbar. Man denke an die Vlamen in Belgien. Wäre Polen
noch das alte Adelstand ohne Bürger und Bauern, und stünde hinter dem
Begriff Preußen nur ein absoluter König wie einst, so würde Polen weiter
schlafen. Weil in ihm aber mühsam gepflegt durch die gewissenhafte Kultur¬
arbeit Preußens ein Arbeiterstand entsteht, der lesen und schreiben und sprechen
und wühlen kann, und weil ans diesem ein Mittelstand herauswächst von
Kleinbauern und Handwerkern und Kleinbürgern, Ärzten nud Anwälten, und
schließlich auch von Kaufleuten lind Fabrikbesitzer»! — deun diese alle haben
als Mittel und als Ursache ihres Daseins den Arbeiterstnnd nötig, für den
und mit dem sie arbeiten —, kurzum weil hier ein wirkliches, modernes Volk
entsteht, das noch dazu mit Fleiß mündig gemacht wird durch die erzwungne
Teilnahme ein allen Gütern der westeuropäischen, demokratischen Kultur, darum
hat Polen wieder eine Zukunft. Sie kann ihm nicht genommen werden. Sie
kann ihm höchstens durch Gewalt vorenthalten werden. Wie soll aber solche
Gewalt aussehen in einem Gemeinwesen, zu dessen Lebensluft die demokratische
Freiheit gehört?

Germanisieruugspolitik heißt diese Gewalt. Neuerdings wird diese Ger-
manisierung der Russifizierung immer ähnlicher. Aber auch wenn die Russi-
fiziernng ihr Ziel erreicht, die Germanisierung wird es auf diesem Wege nie
erreichen. Deal alle deutsche Kultur und Geschichte predigt mit tausend Zungen,
daß der Geist nicht gefesselt werden kann und darf.

Politische Versammlungen in polnischer Sprache abzuhalten, das kann
verboten werden. Deal wir brauchen keinem Fremden politische Rechte anzu¬
bieten. Das Recht, zu wählen, gehört nicht unter die Menschenrechte und
kann wie gegeben, so genommen werden. Aber es ist schon sehr zweifelhaft,
ob es gerechtfertigt werden kann, wenn der Staat die Schule zu Germanisie-
rnngszwecken benutzt, z. B. wenn er bei den Schülern nach polnischen Ge¬
schichtsbüchern suchen läßt, oder privaten Unterricht verbietet. Die Schule ist
nicht die Dienerin des Staates; sie gehört von Hans aus der Kirche oder


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[0502] Landflucht »ut j?>olenfrcige und drehte sich um Heiraten und Erbschaften, die Kraft eines Staates lag in seiner Spitze. Osterreich, ans sechs Völkern zusammengesetzt, war damals beinahe der mächtigste Staat. I/e-tat o'oft moi, sagte der König, und das war nicht Frivolität, sondern Wahrheit. Aber seitdem die Welt demokratisch geworden ist, giebt die Masse des Volkes der Nation den Namen, giebt der Politik die Ziele und der .Kultur den (Geschmack. Nationalismus und Demokratie siud zusammen geboren. Nationalismus ist offiziell gewordne Demokratie, Demokratie unter Glas und Rahmen. Jetzt heißt es: IVvwt, ez'est mora: das Volk; und wo es mehrere Völker giebt, da giebt es bald auch mehrere Staaten. In Staaten, wo mehrere Völker sind, da kann nicht demo¬ kratisch regiert werden, und in einem Staate, wo demokratisch regiert wird, da darf es nicht mehrere Völker geben. Das Beispiel ist Österreich, aber andre Länder sind es auch. Die nationale Grundfarbe aller verschollnen Völker und Völkerreste wird durch die Lackfarbe der übergepinselten „höhern" Kultur hindurch wieder sichtbar. Man denke an die Vlamen in Belgien. Wäre Polen noch das alte Adelstand ohne Bürger und Bauern, und stünde hinter dem Begriff Preußen nur ein absoluter König wie einst, so würde Polen weiter schlafen. Weil in ihm aber mühsam gepflegt durch die gewissenhafte Kultur¬ arbeit Preußens ein Arbeiterstand entsteht, der lesen und schreiben und sprechen und wühlen kann, und weil ans diesem ein Mittelstand herauswächst von Kleinbauern und Handwerkern und Kleinbürgern, Ärzten nud Anwälten, und schließlich auch von Kaufleuten lind Fabrikbesitzer»! — deun diese alle haben als Mittel und als Ursache ihres Daseins den Arbeiterstnnd nötig, für den und mit dem sie arbeiten —, kurzum weil hier ein wirkliches, modernes Volk entsteht, das noch dazu mit Fleiß mündig gemacht wird durch die erzwungne Teilnahme ein allen Gütern der westeuropäischen, demokratischen Kultur, darum hat Polen wieder eine Zukunft. Sie kann ihm nicht genommen werden. Sie kann ihm höchstens durch Gewalt vorenthalten werden. Wie soll aber solche Gewalt aussehen in einem Gemeinwesen, zu dessen Lebensluft die demokratische Freiheit gehört? Germanisieruugspolitik heißt diese Gewalt. Neuerdings wird diese Ger- manisierung der Russifizierung immer ähnlicher. Aber auch wenn die Russi- fiziernng ihr Ziel erreicht, die Germanisierung wird es auf diesem Wege nie erreichen. Deal alle deutsche Kultur und Geschichte predigt mit tausend Zungen, daß der Geist nicht gefesselt werden kann und darf. Politische Versammlungen in polnischer Sprache abzuhalten, das kann verboten werden. Deal wir brauchen keinem Fremden politische Rechte anzu¬ bieten. Das Recht, zu wählen, gehört nicht unter die Menschenrechte und kann wie gegeben, so genommen werden. Aber es ist schon sehr zweifelhaft, ob es gerechtfertigt werden kann, wenn der Staat die Schule zu Germanisie- rnngszwecken benutzt, z. B. wenn er bei den Schülern nach polnischen Ge¬ schichtsbüchern suchen läßt, oder privaten Unterricht verbietet. Die Schule ist nicht die Dienerin des Staates; sie gehört von Hans aus der Kirche oder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/502>, abgerufen am 22.06.2024.