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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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Landflucht und j?>olens>'aze

blindlings von den Grundherren selbst, Sie nahmen das Land als ihr
alleiniges Eigentum an sich und warfen das arbeitende Landvolk hinaus. Die
Dörfer verschwanden, und schließlich wurde die Feldarbeit vom Proletariat
der Städte und kleinen Flecken geleistet, vielfach von Frauen und Kindern,
die zu der Zeit der Feldarbeiten in Horden ausschwärmten, und von deren
Sittenlosigkeit schauderhafte Dinge berichtet werden.

Es könnte aber auch dazu kommen, daß auf dem Lande ein noch einiger¬
maßen zahlreiches, hin- und herwalzendes Proletariat entstünde, gemischt aus
den alten Resten und ans allen möglichen fremdartigen, zum Teil vollkommen
kulturfremden Elementen, Es gäbe dann zwei Völker auf dem Lande, eins
der Arbeiter und eins der Herren. Die Herren gewöhnten sich in ihren
Arveitern nur Proletarier zu sehen, Arbeitsvieh, zumal in den fremd¬
ländischen Wanderarbeitern, die vor jedem Weihnachten wieder hinausgekehrt
werden. Es bestünde keine Gemeinschaft der Sprache, der Sitte, des Glaubens
und der politischen Überzeugungen mehr zwischen beiden Parteien. Hier wäre
das Gegenteil von den: Ideal: ein Volk, ein Reich, ein Gott. Darin läge
eine große soziale Gefahr, zumal im Deutschen Reich mit seiner demokratischen
Verfassung, ans der der Glaube an die Gleichheit aller Deutschen spricht; eine
Gefahr, die ernster zu nehmen ist, als die soziale Gefahr in den Städten.
Denn sie greift näher an das Herz und das Leben und an die Zukunft des
Volkes. Nur weil auch auf dem Lande jedermanns Hand gegen den Edel¬
mann war, konnte die französische Revolution siegreich bleiben. Diese soziale
Gefahr wird außerdem noch zu einer politischen, wenn das Herrenvolk deutsch
und das Arbeitervolk polnisch ist.

Es giebt freilich bedeutende Leute, die darin keine politische Gefahr sehen.
Sie meinen, das deutsche Volk werde diese Fremdlinge in sich verschwinden
lassen, und es sei doch lächerlich, wenn das große Volk sich vor ein paar
hunderttausend polnischer Arbeiter fürchten wollte. Nun brauchen wir aller¬
dings uns keine großen Sorgen darüber zu machen, daß die Polen in die
Kohlengegenden Westfalens wandern, auch wenn dort dauernde Kolonien ent¬
stünden. Aber wenn in unsern östlichen Provinzen die deutschen Landarbeiter
verschwinden und an ihre Stelle Polen treten, immer mehr, bis in der pol¬
nischen Masse schließlich jede Lücke gefüllt ist, dann liegt darin doch eine
große Gefahr. Denn damit erweitern sich die Grenzen des zukünftigen Polen¬
reiches.

Es wird wohl erlaubt sein, von einem solchen zu sprechen; denn jeden¬
falls ist es eine Möglichkeit, und wie ich glaube, keine sehr unwahrscheinliche.
Im neunzehnten Jahrhundert sind längst tot geglaubte Völker wieder erwacht:
Tschechen, Kroaten, Serben, Bulgaren, Rumänen, Ungarn und Italiener. Es
war das Jahrhundert des Rationalismus. Vorher im aristokratischen acht¬
zehnten Jahrhundert war die europäische Welt in Stände zerrissen, wie heute
in Nationalitäten. Die Kultur der vornehmen Stände war iuternationnl und
kvntrcmntional, viel mehr als heute; die Politik war eine Politik der Höfe


Landflucht und j?>olens>'aze

blindlings von den Grundherren selbst, Sie nahmen das Land als ihr
alleiniges Eigentum an sich und warfen das arbeitende Landvolk hinaus. Die
Dörfer verschwanden, und schließlich wurde die Feldarbeit vom Proletariat
der Städte und kleinen Flecken geleistet, vielfach von Frauen und Kindern,
die zu der Zeit der Feldarbeiten in Horden ausschwärmten, und von deren
Sittenlosigkeit schauderhafte Dinge berichtet werden.

Es könnte aber auch dazu kommen, daß auf dem Lande ein noch einiger¬
maßen zahlreiches, hin- und herwalzendes Proletariat entstünde, gemischt aus
den alten Resten und ans allen möglichen fremdartigen, zum Teil vollkommen
kulturfremden Elementen, Es gäbe dann zwei Völker auf dem Lande, eins
der Arbeiter und eins der Herren. Die Herren gewöhnten sich in ihren
Arveitern nur Proletarier zu sehen, Arbeitsvieh, zumal in den fremd¬
ländischen Wanderarbeitern, die vor jedem Weihnachten wieder hinausgekehrt
werden. Es bestünde keine Gemeinschaft der Sprache, der Sitte, des Glaubens
und der politischen Überzeugungen mehr zwischen beiden Parteien. Hier wäre
das Gegenteil von den: Ideal: ein Volk, ein Reich, ein Gott. Darin läge
eine große soziale Gefahr, zumal im Deutschen Reich mit seiner demokratischen
Verfassung, ans der der Glaube an die Gleichheit aller Deutschen spricht; eine
Gefahr, die ernster zu nehmen ist, als die soziale Gefahr in den Städten.
Denn sie greift näher an das Herz und das Leben und an die Zukunft des
Volkes. Nur weil auch auf dem Lande jedermanns Hand gegen den Edel¬
mann war, konnte die französische Revolution siegreich bleiben. Diese soziale
Gefahr wird außerdem noch zu einer politischen, wenn das Herrenvolk deutsch
und das Arbeitervolk polnisch ist.

Es giebt freilich bedeutende Leute, die darin keine politische Gefahr sehen.
Sie meinen, das deutsche Volk werde diese Fremdlinge in sich verschwinden
lassen, und es sei doch lächerlich, wenn das große Volk sich vor ein paar
hunderttausend polnischer Arbeiter fürchten wollte. Nun brauchen wir aller¬
dings uns keine großen Sorgen darüber zu machen, daß die Polen in die
Kohlengegenden Westfalens wandern, auch wenn dort dauernde Kolonien ent¬
stünden. Aber wenn in unsern östlichen Provinzen die deutschen Landarbeiter
verschwinden und an ihre Stelle Polen treten, immer mehr, bis in der pol¬
nischen Masse schließlich jede Lücke gefüllt ist, dann liegt darin doch eine
große Gefahr. Denn damit erweitern sich die Grenzen des zukünftigen Polen¬
reiches.

Es wird wohl erlaubt sein, von einem solchen zu sprechen; denn jeden¬
falls ist es eine Möglichkeit, und wie ich glaube, keine sehr unwahrscheinliche.
Im neunzehnten Jahrhundert sind längst tot geglaubte Völker wieder erwacht:
Tschechen, Kroaten, Serben, Bulgaren, Rumänen, Ungarn und Italiener. Es
war das Jahrhundert des Rationalismus. Vorher im aristokratischen acht¬
zehnten Jahrhundert war die europäische Welt in Stände zerrissen, wie heute
in Nationalitäten. Die Kultur der vornehmen Stände war iuternationnl und
kvntrcmntional, viel mehr als heute; die Politik war eine Politik der Höfe


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[0501] Landflucht und j?>olens>'aze blindlings von den Grundherren selbst, Sie nahmen das Land als ihr alleiniges Eigentum an sich und warfen das arbeitende Landvolk hinaus. Die Dörfer verschwanden, und schließlich wurde die Feldarbeit vom Proletariat der Städte und kleinen Flecken geleistet, vielfach von Frauen und Kindern, die zu der Zeit der Feldarbeiten in Horden ausschwärmten, und von deren Sittenlosigkeit schauderhafte Dinge berichtet werden. Es könnte aber auch dazu kommen, daß auf dem Lande ein noch einiger¬ maßen zahlreiches, hin- und herwalzendes Proletariat entstünde, gemischt aus den alten Resten und ans allen möglichen fremdartigen, zum Teil vollkommen kulturfremden Elementen, Es gäbe dann zwei Völker auf dem Lande, eins der Arbeiter und eins der Herren. Die Herren gewöhnten sich in ihren Arveitern nur Proletarier zu sehen, Arbeitsvieh, zumal in den fremd¬ ländischen Wanderarbeitern, die vor jedem Weihnachten wieder hinausgekehrt werden. Es bestünde keine Gemeinschaft der Sprache, der Sitte, des Glaubens und der politischen Überzeugungen mehr zwischen beiden Parteien. Hier wäre das Gegenteil von den: Ideal: ein Volk, ein Reich, ein Gott. Darin läge eine große soziale Gefahr, zumal im Deutschen Reich mit seiner demokratischen Verfassung, ans der der Glaube an die Gleichheit aller Deutschen spricht; eine Gefahr, die ernster zu nehmen ist, als die soziale Gefahr in den Städten. Denn sie greift näher an das Herz und das Leben und an die Zukunft des Volkes. Nur weil auch auf dem Lande jedermanns Hand gegen den Edel¬ mann war, konnte die französische Revolution siegreich bleiben. Diese soziale Gefahr wird außerdem noch zu einer politischen, wenn das Herrenvolk deutsch und das Arbeitervolk polnisch ist. Es giebt freilich bedeutende Leute, die darin keine politische Gefahr sehen. Sie meinen, das deutsche Volk werde diese Fremdlinge in sich verschwinden lassen, und es sei doch lächerlich, wenn das große Volk sich vor ein paar hunderttausend polnischer Arbeiter fürchten wollte. Nun brauchen wir aller¬ dings uns keine großen Sorgen darüber zu machen, daß die Polen in die Kohlengegenden Westfalens wandern, auch wenn dort dauernde Kolonien ent¬ stünden. Aber wenn in unsern östlichen Provinzen die deutschen Landarbeiter verschwinden und an ihre Stelle Polen treten, immer mehr, bis in der pol¬ nischen Masse schließlich jede Lücke gefüllt ist, dann liegt darin doch eine große Gefahr. Denn damit erweitern sich die Grenzen des zukünftigen Polen¬ reiches. Es wird wohl erlaubt sein, von einem solchen zu sprechen; denn jeden¬ falls ist es eine Möglichkeit, und wie ich glaube, keine sehr unwahrscheinliche. Im neunzehnten Jahrhundert sind längst tot geglaubte Völker wieder erwacht: Tschechen, Kroaten, Serben, Bulgaren, Rumänen, Ungarn und Italiener. Es war das Jahrhundert des Rationalismus. Vorher im aristokratischen acht¬ zehnten Jahrhundert war die europäische Welt in Stände zerrissen, wie heute in Nationalitäten. Die Kultur der vornehmen Stände war iuternationnl und kvntrcmntional, viel mehr als heute; die Politik war eine Politik der Höfe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/501>, abgerufen am 22.06.2024.