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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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Landflucht und pe>lenfrag>!

sich schreckliche Masken vor das Gesichts um den Wehrlosen auf seinem Lager
zu schrecken. Dem deutschen Volk erscheint sein eignes Zurücklveicheli als ein
freches Vordringen der Polen. Abwechselnd spottet es über diese Maske und
fürchtet sich davor und wehrt sich dagegen, ganz wie ein Schlafender sich wehrt,
nämlich sinnlos und erfolglos. Wachen wir auf, und sehen wir die Dinge,
wie sie sind.

An der Polenbeweguug ist nicht die Hauptsache, daß die Polen einziehn,
sondern daß die Einheimischen abziehn. Darin liegt in Wirklichkeit das Un¬
glück und die Gefahr. Denn hier verdorren die Wurzeln des deutschen Volks.
Sind diese einmal verdorrt, so stirbt das Volk ub. So wenig man einem Baume
oder einem ganzen Walde andre Wurzeln untersetzen kann, so wenig einem
Volke. Ein Volk ist wie ein Wald. Auch die schönsten und höchsten Baum¬
kronen, auch der Adel des Volks, in dieses Wortes weitester Bedeutung,
wächst aus den Wurzeln herauf und stammt aus einer Auslese von tausend
Wurzelkcimeu. Fehlt der tausendfache Nachwuchs, so wird es allmählich licht
um die alten Niesen. Der feuchte Waldboden vertrocknet. Alles, was jung
und hoffnungsfreudig schien, geht ein, zwischen den alten Bäumen dehnt sich
die Wüste. Schließlich erreichen auch sie ihr natürliches Lebensende, und wenn
der letzte Baum zum blätterlosen, hohlen Stamm geworden ist und vom Alter
zerfressen stürzt, dann sagt er zu sich: Hier stand einst ein Wald, lind es wird
ein Jahrhundert dauern und viel kluger Arbeit bedürfen, ehe hier wieder ein
Wald steht. Jeder Baum stirbt, aber der Wald braucht nicht zu sterben. I"
seiner Zeugungskraft liegt seine Ewigkeit. Jeder Mensch und jede Menschen-
kultur muß sterben, aber ein Volk braucht uicht zu sterben^ in der physischen
und noch mehr in der moralischen Gesundheit seiner untern Masse liegt seine
Zeugungskraft und seine Ewigkeit.

Der unterste Stand, den man manchmal im engern Sinne das Volk nennt,
muß alle höhere Kultur zum mindesten physisch immer von neuem gebären.
Er ist das Chaos, worin unerkennbar die Kräfte schlummern, die schließlich
auch dem schönstem Stern höchster Menschenkultur seine Leuchtkraft geben. Alle
Hochkultur, jeder Adel verzehrt sich, und daß er sehr alt wird, ist an ihm
nicht die Regel, sondern die kostbare Ausnahme. Die mütterlichen Kräfte der
Wiedergeburt, die Kräfte der Zukunft eines Volks liegen in den untern Ständen.
Es giebt freilich unter der großen Masse des Volks noch einen letzten Stand,
das Proletariat, eine Art Ausschuß, der den für die Zukunft des Volks un¬
fruchtbaren lind unrettbar Verlornen Teil umfaßt. Vou diesem ist hier nicht
die Rede. Aber das arbeitende Landvolk oder das Landarbeitervolk darf nicht
zum Proletariat gehören. Im Gegenteil, hier gerade sollen die stärksten und
gesündesten Wurzeln des Volks liegen. Hier sollen die körperlichen lind nicht
nur die körperlichen, sondern anch die sittlichen Kräfte liegen, aus denen auch
in einer Jahrhunderte fernen Zukunft das Volk immer wieder neu geboren
werden kann.

Von der Bevölkerung der Städte weiß man, daß sie sich verbraucht und


Landflucht und pe>lenfrag>!

sich schreckliche Masken vor das Gesichts um den Wehrlosen auf seinem Lager
zu schrecken. Dem deutschen Volk erscheint sein eignes Zurücklveicheli als ein
freches Vordringen der Polen. Abwechselnd spottet es über diese Maske und
fürchtet sich davor und wehrt sich dagegen, ganz wie ein Schlafender sich wehrt,
nämlich sinnlos und erfolglos. Wachen wir auf, und sehen wir die Dinge,
wie sie sind.

An der Polenbeweguug ist nicht die Hauptsache, daß die Polen einziehn,
sondern daß die Einheimischen abziehn. Darin liegt in Wirklichkeit das Un¬
glück und die Gefahr. Denn hier verdorren die Wurzeln des deutschen Volks.
Sind diese einmal verdorrt, so stirbt das Volk ub. So wenig man einem Baume
oder einem ganzen Walde andre Wurzeln untersetzen kann, so wenig einem
Volke. Ein Volk ist wie ein Wald. Auch die schönsten und höchsten Baum¬
kronen, auch der Adel des Volks, in dieses Wortes weitester Bedeutung,
wächst aus den Wurzeln herauf und stammt aus einer Auslese von tausend
Wurzelkcimeu. Fehlt der tausendfache Nachwuchs, so wird es allmählich licht
um die alten Niesen. Der feuchte Waldboden vertrocknet. Alles, was jung
und hoffnungsfreudig schien, geht ein, zwischen den alten Bäumen dehnt sich
die Wüste. Schließlich erreichen auch sie ihr natürliches Lebensende, und wenn
der letzte Baum zum blätterlosen, hohlen Stamm geworden ist und vom Alter
zerfressen stürzt, dann sagt er zu sich: Hier stand einst ein Wald, lind es wird
ein Jahrhundert dauern und viel kluger Arbeit bedürfen, ehe hier wieder ein
Wald steht. Jeder Baum stirbt, aber der Wald braucht nicht zu sterben. I»
seiner Zeugungskraft liegt seine Ewigkeit. Jeder Mensch und jede Menschen-
kultur muß sterben, aber ein Volk braucht uicht zu sterben^ in der physischen
und noch mehr in der moralischen Gesundheit seiner untern Masse liegt seine
Zeugungskraft und seine Ewigkeit.

Der unterste Stand, den man manchmal im engern Sinne das Volk nennt,
muß alle höhere Kultur zum mindesten physisch immer von neuem gebären.
Er ist das Chaos, worin unerkennbar die Kräfte schlummern, die schließlich
auch dem schönstem Stern höchster Menschenkultur seine Leuchtkraft geben. Alle
Hochkultur, jeder Adel verzehrt sich, und daß er sehr alt wird, ist an ihm
nicht die Regel, sondern die kostbare Ausnahme. Die mütterlichen Kräfte der
Wiedergeburt, die Kräfte der Zukunft eines Volks liegen in den untern Ständen.
Es giebt freilich unter der großen Masse des Volks noch einen letzten Stand,
das Proletariat, eine Art Ausschuß, der den für die Zukunft des Volks un¬
fruchtbaren lind unrettbar Verlornen Teil umfaßt. Vou diesem ist hier nicht
die Rede. Aber das arbeitende Landvolk oder das Landarbeitervolk darf nicht
zum Proletariat gehören. Im Gegenteil, hier gerade sollen die stärksten und
gesündesten Wurzeln des Volks liegen. Hier sollen die körperlichen lind nicht
nur die körperlichen, sondern anch die sittlichen Kräfte liegen, aus denen auch
in einer Jahrhunderte fernen Zukunft das Volk immer wieder neu geboren
werden kann.

Von der Bevölkerung der Städte weiß man, daß sie sich verbraucht und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/498>, abgerufen am 21.06.2024.