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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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Landflucht und Polenfrage

eutschlcmd nimmt jedes Jahr um 800000 Menschen zu. Diese
Thatsache ist in alle" ökonomischen und politischen Ausführungen
heute der grundlegende Satz, aus dein alles andre gefolgert
wird. Nach irgend welcher dunkeln Mütter Rat und Beschluß
erscheinen diese neuen Menschlein jedes Jahr. Sie schreien nach
Brot, also müssen sie auch versorgt werden; dazu ist der Staat da. Dieser
Schluß ist für jeden Sozinlisten, Materialisten und Demokraten von apodik¬
tischer Gewißheit, und wer wäre nicht eins von diesen dreien?

Um diese Aufgabe, die Masse zu versorgen mit ihrem materiellen Eintags¬
fliegenglück - darum dreht sich die ganze Politik, die Handelspolitik und die
Weltpolitik, die Zollpolitik und die Sozialpolitik, und sogar die europäische
hohe Politik geht, wenn auch mit dem Lächeln eiues alten Weidmanns, an
diese Hebammenarbeit, den kommenden Kindlein die Windeln zu bereiten. Das
Politische Programm, das wir uns alle Tage wiederholen, weil wir es alle so
gern hören, lautet: Das deutsche Volk wächst ungeheuer. Es wird ihm zu
eng in seinem Heimatswinkel, es braucht Ellbogenfreiheit in der Welt, es
will auch einen °Platz an der Sonne haben; es will Welthandel und Welt-
Politik treiben, will Kolonien und Absatzmärkte haben, und wenn jetzt die Welt
wirklich zum allerletztenmale verteilt wird, so will es auch ein großes Stück
davon hoben, nur weil sein Wachstum ihm das gebietet. Diese Melodie ist
schon so oft geübt, daß sie ganz rein und gefällig gespielt wird. Aber die Welt¬
geschichte ist nicht für reine Melodien. Sie redet unverhofft in andrer Tonart
dazwischen und ruft: Das deutsche Volk wächst nicht. In seinen eignen schwarz¬
weiß-roten Grenzpfählen geht es zurück. Nämlich in den fünf östlichen Pro¬
vinzen auf dem platten Lande. Die Anbaufläche des deutschen Volks wird
eingeengt. Dadurch wird die zukünftige Menschenerntc kleiner. Nun wägt
zwischen jenein Wachstum und diesem Abnehmen.

Ein Volk hört und denkt nicht klar, sondern wie ein Schlafender, der
seine Träume mit der Wirklichkeit vermischt. Die wirklichen Dinge nehmen


Gronzboten I 1901 62


Landflucht und Polenfrage

eutschlcmd nimmt jedes Jahr um 800000 Menschen zu. Diese
Thatsache ist in alle» ökonomischen und politischen Ausführungen
heute der grundlegende Satz, aus dein alles andre gefolgert
wird. Nach irgend welcher dunkeln Mütter Rat und Beschluß
erscheinen diese neuen Menschlein jedes Jahr. Sie schreien nach
Brot, also müssen sie auch versorgt werden; dazu ist der Staat da. Dieser
Schluß ist für jeden Sozinlisten, Materialisten und Demokraten von apodik¬
tischer Gewißheit, und wer wäre nicht eins von diesen dreien?

Um diese Aufgabe, die Masse zu versorgen mit ihrem materiellen Eintags¬
fliegenglück - darum dreht sich die ganze Politik, die Handelspolitik und die
Weltpolitik, die Zollpolitik und die Sozialpolitik, und sogar die europäische
hohe Politik geht, wenn auch mit dem Lächeln eiues alten Weidmanns, an
diese Hebammenarbeit, den kommenden Kindlein die Windeln zu bereiten. Das
Politische Programm, das wir uns alle Tage wiederholen, weil wir es alle so
gern hören, lautet: Das deutsche Volk wächst ungeheuer. Es wird ihm zu
eng in seinem Heimatswinkel, es braucht Ellbogenfreiheit in der Welt, es
will auch einen °Platz an der Sonne haben; es will Welthandel und Welt-
Politik treiben, will Kolonien und Absatzmärkte haben, und wenn jetzt die Welt
wirklich zum allerletztenmale verteilt wird, so will es auch ein großes Stück
davon hoben, nur weil sein Wachstum ihm das gebietet. Diese Melodie ist
schon so oft geübt, daß sie ganz rein und gefällig gespielt wird. Aber die Welt¬
geschichte ist nicht für reine Melodien. Sie redet unverhofft in andrer Tonart
dazwischen und ruft: Das deutsche Volk wächst nicht. In seinen eignen schwarz¬
weiß-roten Grenzpfählen geht es zurück. Nämlich in den fünf östlichen Pro¬
vinzen auf dem platten Lande. Die Anbaufläche des deutschen Volks wird
eingeengt. Dadurch wird die zukünftige Menschenerntc kleiner. Nun wägt
zwischen jenein Wachstum und diesem Abnehmen.

Ein Volk hört und denkt nicht klar, sondern wie ein Schlafender, der
seine Träume mit der Wirklichkeit vermischt. Die wirklichen Dinge nehmen


Gronzboten I 1901 62
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[0497] [Abbildung] Landflucht und Polenfrage eutschlcmd nimmt jedes Jahr um 800000 Menschen zu. Diese Thatsache ist in alle» ökonomischen und politischen Ausführungen heute der grundlegende Satz, aus dein alles andre gefolgert wird. Nach irgend welcher dunkeln Mütter Rat und Beschluß erscheinen diese neuen Menschlein jedes Jahr. Sie schreien nach Brot, also müssen sie auch versorgt werden; dazu ist der Staat da. Dieser Schluß ist für jeden Sozinlisten, Materialisten und Demokraten von apodik¬ tischer Gewißheit, und wer wäre nicht eins von diesen dreien? Um diese Aufgabe, die Masse zu versorgen mit ihrem materiellen Eintags¬ fliegenglück - darum dreht sich die ganze Politik, die Handelspolitik und die Weltpolitik, die Zollpolitik und die Sozialpolitik, und sogar die europäische hohe Politik geht, wenn auch mit dem Lächeln eiues alten Weidmanns, an diese Hebammenarbeit, den kommenden Kindlein die Windeln zu bereiten. Das Politische Programm, das wir uns alle Tage wiederholen, weil wir es alle so gern hören, lautet: Das deutsche Volk wächst ungeheuer. Es wird ihm zu eng in seinem Heimatswinkel, es braucht Ellbogenfreiheit in der Welt, es will auch einen °Platz an der Sonne haben; es will Welthandel und Welt- Politik treiben, will Kolonien und Absatzmärkte haben, und wenn jetzt die Welt wirklich zum allerletztenmale verteilt wird, so will es auch ein großes Stück davon hoben, nur weil sein Wachstum ihm das gebietet. Diese Melodie ist schon so oft geübt, daß sie ganz rein und gefällig gespielt wird. Aber die Welt¬ geschichte ist nicht für reine Melodien. Sie redet unverhofft in andrer Tonart dazwischen und ruft: Das deutsche Volk wächst nicht. In seinen eignen schwarz¬ weiß-roten Grenzpfählen geht es zurück. Nämlich in den fünf östlichen Pro¬ vinzen auf dem platten Lande. Die Anbaufläche des deutschen Volks wird eingeengt. Dadurch wird die zukünftige Menschenerntc kleiner. Nun wägt zwischen jenein Wachstum und diesem Abnehmen. Ein Volk hört und denkt nicht klar, sondern wie ein Schlafender, der seine Träume mit der Wirklichkeit vermischt. Die wirklichen Dinge nehmen Gronzboten I 1901 62

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/497>, abgerufen am 21.06.2024.