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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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Hdixus

Lehre, die man aus dem grausigen Finale entnehmen darf, ist die, daß der
Mensch, mag er noch so klug, noch so mächtig, noch so glücklich scheinen, doch
ein Nichts ist gegenüber der göttlichen Allmacht, wie das Sophokles im Aus
den Odysseus mit folgenden Worten aussprechen laßt:


Was sind wir Menschen hier auf Erden sonst
Als Gaukelbilder und ein flüchtig Schattenspiel?

Das ist hart, aber begegnen wir nicht auch nuderswo ähnlichen An¬
schauungen? Die Stoiker kennen die Lehre von der Voransbestimmung, von
ihnen hat sie Augustin entlehnt, dann hat sich Luther ihr mit Entschiedenheit
zugeneigt, und Calvin sie sogar zum Eckstein seines Lehrgebäudes gemacht.
Und treffen wir nicht auch in der modernen Dichtung die Spuren derselben
Auffassung? Wer kennt nicht die schmerzliche Klage des Harfenspielers in
Goethes Wilhelm Meister, daß die himmlische" Mächte den Menschen ins
Leben hineinführen, ihn schuldig werden lassen und ihn dann der Pein über¬
lassen, weil jede Schuld auf Erden gerächt wird? In der That ist das
Schicksal des Harfenspielers dem des Ödipus verwandt: auch er muß büßen
für eine That/die er unwissentlich und unverschuldet begangen hat. Um acht
"u reden von dem mittelalterlichen ÖdipnS. dem Gregorius. der die unver¬
schuldete Ehe mit der Mutter dnrch jahrelange Qualen büßt, auch in
Schillers Jungfrau von Orleans ist die Verschuldung der Heldin schließlich
auf die Fügung übersinnlicher Mächte zurückzuführen. Es ist uns unbegreiflich,
wie man weltliche Regungen wie Eitelkeit. Hochmut oder gar Sinnlichkeit in
ihrem Verhalten hat finden und dadurch eine Schuld im Sinne des Aristoteles
hat begründen wollen -- wir entdecken nicht die leiseste Spur davou. Hätte
sie den Lionel umgebracht, so wäre das eine moralisch wie ästhetisch gleich ver¬
werfliche Handlung gewesen, die an Unnatur die schon recht bedenkliche Mont-
gvmerhszcne weit hinter sich gelassen hätte. Ihre Selbstanklage, der Vorwurf,
daß sie den Lionel geschont 'habe, hat also für die Beurteilung des Falles
wenig oder gar nichts zu bedeuten. In Wahrheit ist für ihren Fall dieselbe
Macht verantwortlich, die sie erhoben hat, die sie mit iibermenschlichen Eigen¬
schaften ausgestattet, sie mit iibermenschlichen Aufgaben betraut und sie doch"'ehe von allen Schlacken der Menschlichkeit befreit hat. Auch ihre Schuld
ist ihr Schicksal, das Schicksal, daß sie den Feind ihres Landes lieben muß.
seine Schonung ist die notwendige Folge davon. Diese Erkenntnis spiegelt
sich in den Worten wieder:


Ach, du führtest mich ins Leben,
In den hohen Fürstensaal,
Mich der Schuld dahinzugeben,
Ach es war nicht meine Wahl!

Aber freilich für Johanna giebt es nach dem Falle eine Rettung: durch
Buße und Reue geläutert gewinnt sie abermals die Huld der Himmelskönigin
und geht zu den höchsten hinnnlischen Ehren ein; mich der unselige Gregorius
wird dank seiner freiwillig übernommneu Bußübungen seiner Schuld ledigihm wird sogar die höchste Würde der Christenheit zu teil. Für Ödipus da-


Hdixus

Lehre, die man aus dem grausigen Finale entnehmen darf, ist die, daß der
Mensch, mag er noch so klug, noch so mächtig, noch so glücklich scheinen, doch
ein Nichts ist gegenüber der göttlichen Allmacht, wie das Sophokles im Aus
den Odysseus mit folgenden Worten aussprechen laßt:


Was sind wir Menschen hier auf Erden sonst
Als Gaukelbilder und ein flüchtig Schattenspiel?

Das ist hart, aber begegnen wir nicht auch nuderswo ähnlichen An¬
schauungen? Die Stoiker kennen die Lehre von der Voransbestimmung, von
ihnen hat sie Augustin entlehnt, dann hat sich Luther ihr mit Entschiedenheit
zugeneigt, und Calvin sie sogar zum Eckstein seines Lehrgebäudes gemacht.
Und treffen wir nicht auch in der modernen Dichtung die Spuren derselben
Auffassung? Wer kennt nicht die schmerzliche Klage des Harfenspielers in
Goethes Wilhelm Meister, daß die himmlische» Mächte den Menschen ins
Leben hineinführen, ihn schuldig werden lassen und ihn dann der Pein über¬
lassen, weil jede Schuld auf Erden gerächt wird? In der That ist das
Schicksal des Harfenspielers dem des Ödipus verwandt: auch er muß büßen
für eine That/die er unwissentlich und unverschuldet begangen hat. Um acht
»u reden von dem mittelalterlichen ÖdipnS. dem Gregorius. der die unver¬
schuldete Ehe mit der Mutter dnrch jahrelange Qualen büßt, auch in
Schillers Jungfrau von Orleans ist die Verschuldung der Heldin schließlich
auf die Fügung übersinnlicher Mächte zurückzuführen. Es ist uns unbegreiflich,
wie man weltliche Regungen wie Eitelkeit. Hochmut oder gar Sinnlichkeit in
ihrem Verhalten hat finden und dadurch eine Schuld im Sinne des Aristoteles
hat begründen wollen — wir entdecken nicht die leiseste Spur davou. Hätte
sie den Lionel umgebracht, so wäre das eine moralisch wie ästhetisch gleich ver¬
werfliche Handlung gewesen, die an Unnatur die schon recht bedenkliche Mont-
gvmerhszcne weit hinter sich gelassen hätte. Ihre Selbstanklage, der Vorwurf,
daß sie den Lionel geschont 'habe, hat also für die Beurteilung des Falles
wenig oder gar nichts zu bedeuten. In Wahrheit ist für ihren Fall dieselbe
Macht verantwortlich, die sie erhoben hat, die sie mit iibermenschlichen Eigen¬
schaften ausgestattet, sie mit iibermenschlichen Aufgaben betraut und sie doch"'ehe von allen Schlacken der Menschlichkeit befreit hat. Auch ihre Schuld
ist ihr Schicksal, das Schicksal, daß sie den Feind ihres Landes lieben muß.
seine Schonung ist die notwendige Folge davon. Diese Erkenntnis spiegelt
sich in den Worten wieder:


Ach, du führtest mich ins Leben,
In den hohen Fürstensaal,
Mich der Schuld dahinzugeben,
Ach es war nicht meine Wahl!

Aber freilich für Johanna giebt es nach dem Falle eine Rettung: durch
Buße und Reue geläutert gewinnt sie abermals die Huld der Himmelskönigin
und geht zu den höchsten hinnnlischen Ehren ein; mich der unselige Gregorius
wird dank seiner freiwillig übernommneu Bußübungen seiner Schuld ledigihm wird sogar die höchste Würde der Christenheit zu teil. Für Ödipus da-


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[0477] Hdixus Lehre, die man aus dem grausigen Finale entnehmen darf, ist die, daß der Mensch, mag er noch so klug, noch so mächtig, noch so glücklich scheinen, doch ein Nichts ist gegenüber der göttlichen Allmacht, wie das Sophokles im Aus den Odysseus mit folgenden Worten aussprechen laßt: Was sind wir Menschen hier auf Erden sonst Als Gaukelbilder und ein flüchtig Schattenspiel? Das ist hart, aber begegnen wir nicht auch nuderswo ähnlichen An¬ schauungen? Die Stoiker kennen die Lehre von der Voransbestimmung, von ihnen hat sie Augustin entlehnt, dann hat sich Luther ihr mit Entschiedenheit zugeneigt, und Calvin sie sogar zum Eckstein seines Lehrgebäudes gemacht. Und treffen wir nicht auch in der modernen Dichtung die Spuren derselben Auffassung? Wer kennt nicht die schmerzliche Klage des Harfenspielers in Goethes Wilhelm Meister, daß die himmlische» Mächte den Menschen ins Leben hineinführen, ihn schuldig werden lassen und ihn dann der Pein über¬ lassen, weil jede Schuld auf Erden gerächt wird? In der That ist das Schicksal des Harfenspielers dem des Ödipus verwandt: auch er muß büßen für eine That/die er unwissentlich und unverschuldet begangen hat. Um acht »u reden von dem mittelalterlichen ÖdipnS. dem Gregorius. der die unver¬ schuldete Ehe mit der Mutter dnrch jahrelange Qualen büßt, auch in Schillers Jungfrau von Orleans ist die Verschuldung der Heldin schließlich auf die Fügung übersinnlicher Mächte zurückzuführen. Es ist uns unbegreiflich, wie man weltliche Regungen wie Eitelkeit. Hochmut oder gar Sinnlichkeit in ihrem Verhalten hat finden und dadurch eine Schuld im Sinne des Aristoteles hat begründen wollen — wir entdecken nicht die leiseste Spur davou. Hätte sie den Lionel umgebracht, so wäre das eine moralisch wie ästhetisch gleich ver¬ werfliche Handlung gewesen, die an Unnatur die schon recht bedenkliche Mont- gvmerhszcne weit hinter sich gelassen hätte. Ihre Selbstanklage, der Vorwurf, daß sie den Lionel geschont 'habe, hat also für die Beurteilung des Falles wenig oder gar nichts zu bedeuten. In Wahrheit ist für ihren Fall dieselbe Macht verantwortlich, die sie erhoben hat, die sie mit iibermenschlichen Eigen¬ schaften ausgestattet, sie mit iibermenschlichen Aufgaben betraut und sie doch"'ehe von allen Schlacken der Menschlichkeit befreit hat. Auch ihre Schuld ist ihr Schicksal, das Schicksal, daß sie den Feind ihres Landes lieben muß. seine Schonung ist die notwendige Folge davon. Diese Erkenntnis spiegelt sich in den Worten wieder: Ach, du führtest mich ins Leben, In den hohen Fürstensaal, Mich der Schuld dahinzugeben, Ach es war nicht meine Wahl! Aber freilich für Johanna giebt es nach dem Falle eine Rettung: durch Buße und Reue geläutert gewinnt sie abermals die Huld der Himmelskönigin und geht zu den höchsten hinnnlischen Ehren ein; mich der unselige Gregorius wird dank seiner freiwillig übernommneu Bußübungen seiner Schuld ledigihm wird sogar die höchste Würde der Christenheit zu teil. Für Ödipus da-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/477>, abgerufen am 21.06.2024.