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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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"ach Solons Gesetz war der in der Notwehr verübte Totschlag ausdrücklich
von jeder Strafe ausgeschlossen. Aber mögen auch die übrigen Vorwürfe be¬
gründet sein, was beweisen sie für die tragische Schuld des Ödipus, für die
tragische Schuld, die nach der Erklärung des Aristoteles der Fehltritt
^et^et^et") ist, durch den der Held vom Glück ins Unglück gebracht wird?
Welche Verbindung besteht denn zwischeu alleu diesen Fehlgriffen des Ödipus
und seinem Untergang? Hat ihn sein Argwohn ins Verderben gestürzt, seine
Überhebung, sein Jähzorn und die daraus entspringende Ungerechtigkeit, seine
Zweifelsucht? Keineswegs. Was ihn so jäh von der Höhe herabstürzt, ans
der er nach der Lösung des Rätsels der Sphinx als unumschränkter Herrscher
von Theben steht, ist einzig und allein die Entdeckung der Frevel, die lange vor
dem Beginn der dramatischen Handlung begangen worden sind, die Entdeckung,
daß er deu eignen Vater getötet und die eigue Mutter geheiratet hat. Diese
Entdeckung ist zum Teil das Werk des Zufalls, zum Teil ihm selber durch
das unzweideutige Gebot des Gottes übertragen worden: denn er soll nach dem
Mörder des Laios forschen und durch seine Austreibung das Land entsühnen.
Er muß die Spur verfolgen, die ihn auf den unseligen Vorgang am Drei¬
wege nach Delphi führt, uicht einmal die Rücksicht auf seine eigne Sicherheit,
falls eine Ahnung des Sachverhalts in ihm aufsteigen sollte, darf ihn davon
abbringen; denn er ist der König des schwer heimgesuchten Landes und weiß,
daß das Wohl des Landes auch für den Herrscher das oberste Gesetz ist.
Ja, wenn er wirklich im Vorgefühl des Unheils die Forschungen einstellen
würde, hat der Gott nicht noch andre Mittel, die Wahrheit ans Licht zu
bringen? Was kann er also thun, um dem Willen des Gottes entgegenzu¬
wirken? Nicht das mindeste. Mag er hochmütig oder demütig sein, mag er
toben oder schmeicheln, mag er argwöhnen oder vertrauen, an dem schließlichen
Ausgange des Stücks ändert das nichts: er muß deu Thäter suchen, und
er wird ihn finden, ja er wird noch mehr finden, die Ehe mit der eignen
Mutter -- so "vollen es einmal die Götter; an der Entdeckung seiner Frevel
hat Ödipus nur als Werkzeug der göttlichen Allmacht teil.

Und seine Frevel selbst, die die eigentliche Ursache seines Unglücks sind?
Für diese trifft ihn noch weniger die Verantwortung als für ihre Ent¬
hüllung. Daß er sie verüben wird, ist schon vor seiner Geburt dnrch den
Ausspruch des Orakels verkündet worden; was geschehn ist, dessen Erfüllung
zu vereiteln, hat die Ausführung nicht nur ermöglicht, sondern geradezu
herbeigeführt. Er ist also für seiue Thaten schon vor seiner Geburt präde¬
stiniert und sicherlich frei von aller Verschuldung. Aber wenn auch von einer
subjektiven Schuld uicht die Rede sein kann, eine objektive Schuld lastet auf
ihm, die uach der Meinung der Griechen ebenso wenig abgeworfen werden
kann, wie die begangnen Thaten rückgängig gemacht werden können. Zweimal
ist die heilige Ordnung der Natur verletzt worden, diese Verletzung muß ge¬
sühnt werden mit derselben Notwendigkeit, wie die Wirkung auf die Ursache
folgt, die Strafe auf die Schuld. Seine Schuld ist sein Schicksal, das ihm
nach göttlichem Ratschluß mit auf deu Lebensweg gegeben worden ist, und die


Vdipns

»ach Solons Gesetz war der in der Notwehr verübte Totschlag ausdrücklich
von jeder Strafe ausgeschlossen. Aber mögen auch die übrigen Vorwürfe be¬
gründet sein, was beweisen sie für die tragische Schuld des Ödipus, für die
tragische Schuld, die nach der Erklärung des Aristoteles der Fehltritt
^et^et^et«) ist, durch den der Held vom Glück ins Unglück gebracht wird?
Welche Verbindung besteht denn zwischeu alleu diesen Fehlgriffen des Ödipus
und seinem Untergang? Hat ihn sein Argwohn ins Verderben gestürzt, seine
Überhebung, sein Jähzorn und die daraus entspringende Ungerechtigkeit, seine
Zweifelsucht? Keineswegs. Was ihn so jäh von der Höhe herabstürzt, ans
der er nach der Lösung des Rätsels der Sphinx als unumschränkter Herrscher
von Theben steht, ist einzig und allein die Entdeckung der Frevel, die lange vor
dem Beginn der dramatischen Handlung begangen worden sind, die Entdeckung,
daß er deu eignen Vater getötet und die eigue Mutter geheiratet hat. Diese
Entdeckung ist zum Teil das Werk des Zufalls, zum Teil ihm selber durch
das unzweideutige Gebot des Gottes übertragen worden: denn er soll nach dem
Mörder des Laios forschen und durch seine Austreibung das Land entsühnen.
Er muß die Spur verfolgen, die ihn auf den unseligen Vorgang am Drei¬
wege nach Delphi führt, uicht einmal die Rücksicht auf seine eigne Sicherheit,
falls eine Ahnung des Sachverhalts in ihm aufsteigen sollte, darf ihn davon
abbringen; denn er ist der König des schwer heimgesuchten Landes und weiß,
daß das Wohl des Landes auch für den Herrscher das oberste Gesetz ist.
Ja, wenn er wirklich im Vorgefühl des Unheils die Forschungen einstellen
würde, hat der Gott nicht noch andre Mittel, die Wahrheit ans Licht zu
bringen? Was kann er also thun, um dem Willen des Gottes entgegenzu¬
wirken? Nicht das mindeste. Mag er hochmütig oder demütig sein, mag er
toben oder schmeicheln, mag er argwöhnen oder vertrauen, an dem schließlichen
Ausgange des Stücks ändert das nichts: er muß deu Thäter suchen, und
er wird ihn finden, ja er wird noch mehr finden, die Ehe mit der eignen
Mutter — so »vollen es einmal die Götter; an der Entdeckung seiner Frevel
hat Ödipus nur als Werkzeug der göttlichen Allmacht teil.

Und seine Frevel selbst, die die eigentliche Ursache seines Unglücks sind?
Für diese trifft ihn noch weniger die Verantwortung als für ihre Ent¬
hüllung. Daß er sie verüben wird, ist schon vor seiner Geburt dnrch den
Ausspruch des Orakels verkündet worden; was geschehn ist, dessen Erfüllung
zu vereiteln, hat die Ausführung nicht nur ermöglicht, sondern geradezu
herbeigeführt. Er ist also für seiue Thaten schon vor seiner Geburt präde¬
stiniert und sicherlich frei von aller Verschuldung. Aber wenn auch von einer
subjektiven Schuld uicht die Rede sein kann, eine objektive Schuld lastet auf
ihm, die uach der Meinung der Griechen ebenso wenig abgeworfen werden
kann, wie die begangnen Thaten rückgängig gemacht werden können. Zweimal
ist die heilige Ordnung der Natur verletzt worden, diese Verletzung muß ge¬
sühnt werden mit derselben Notwendigkeit, wie die Wirkung auf die Ursache
folgt, die Strafe auf die Schuld. Seine Schuld ist sein Schicksal, das ihm
nach göttlichem Ratschluß mit auf deu Lebensweg gegeben worden ist, und die


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[0476] Vdipns »ach Solons Gesetz war der in der Notwehr verübte Totschlag ausdrücklich von jeder Strafe ausgeschlossen. Aber mögen auch die übrigen Vorwürfe be¬ gründet sein, was beweisen sie für die tragische Schuld des Ödipus, für die tragische Schuld, die nach der Erklärung des Aristoteles der Fehltritt ^et^et^et«) ist, durch den der Held vom Glück ins Unglück gebracht wird? Welche Verbindung besteht denn zwischeu alleu diesen Fehlgriffen des Ödipus und seinem Untergang? Hat ihn sein Argwohn ins Verderben gestürzt, seine Überhebung, sein Jähzorn und die daraus entspringende Ungerechtigkeit, seine Zweifelsucht? Keineswegs. Was ihn so jäh von der Höhe herabstürzt, ans der er nach der Lösung des Rätsels der Sphinx als unumschränkter Herrscher von Theben steht, ist einzig und allein die Entdeckung der Frevel, die lange vor dem Beginn der dramatischen Handlung begangen worden sind, die Entdeckung, daß er deu eignen Vater getötet und die eigue Mutter geheiratet hat. Diese Entdeckung ist zum Teil das Werk des Zufalls, zum Teil ihm selber durch das unzweideutige Gebot des Gottes übertragen worden: denn er soll nach dem Mörder des Laios forschen und durch seine Austreibung das Land entsühnen. Er muß die Spur verfolgen, die ihn auf den unseligen Vorgang am Drei¬ wege nach Delphi führt, uicht einmal die Rücksicht auf seine eigne Sicherheit, falls eine Ahnung des Sachverhalts in ihm aufsteigen sollte, darf ihn davon abbringen; denn er ist der König des schwer heimgesuchten Landes und weiß, daß das Wohl des Landes auch für den Herrscher das oberste Gesetz ist. Ja, wenn er wirklich im Vorgefühl des Unheils die Forschungen einstellen würde, hat der Gott nicht noch andre Mittel, die Wahrheit ans Licht zu bringen? Was kann er also thun, um dem Willen des Gottes entgegenzu¬ wirken? Nicht das mindeste. Mag er hochmütig oder demütig sein, mag er toben oder schmeicheln, mag er argwöhnen oder vertrauen, an dem schließlichen Ausgange des Stücks ändert das nichts: er muß deu Thäter suchen, und er wird ihn finden, ja er wird noch mehr finden, die Ehe mit der eignen Mutter — so »vollen es einmal die Götter; an der Entdeckung seiner Frevel hat Ödipus nur als Werkzeug der göttlichen Allmacht teil. Und seine Frevel selbst, die die eigentliche Ursache seines Unglücks sind? Für diese trifft ihn noch weniger die Verantwortung als für ihre Ent¬ hüllung. Daß er sie verüben wird, ist schon vor seiner Geburt dnrch den Ausspruch des Orakels verkündet worden; was geschehn ist, dessen Erfüllung zu vereiteln, hat die Ausführung nicht nur ermöglicht, sondern geradezu herbeigeführt. Er ist also für seiue Thaten schon vor seiner Geburt präde¬ stiniert und sicherlich frei von aller Verschuldung. Aber wenn auch von einer subjektiven Schuld uicht die Rede sein kann, eine objektive Schuld lastet auf ihm, die uach der Meinung der Griechen ebenso wenig abgeworfen werden kann, wie die begangnen Thaten rückgängig gemacht werden können. Zweimal ist die heilige Ordnung der Natur verletzt worden, diese Verletzung muß ge¬ sühnt werden mit derselben Notwendigkeit, wie die Wirkung auf die Ursache folgt, die Strafe auf die Schuld. Seine Schuld ist sein Schicksal, das ihm nach göttlichem Ratschluß mit auf deu Lebensweg gegeben worden ist, und die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/476>, abgerufen am 21.06.2024.