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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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Aare, Goethe mit der Monismus

daß man dreist sagen kann: es ist für Menschen ungereimt, auch nur einen
solchen Anschlag zu fassen oder zu hoffen, daß uoch etwa dereinst der Newton
aufstehn könne, der auch mir die Erzeugung eines Grashalms "ach Natur¬
gesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde, sondern man
muß diese Einsicht den Menschen schlechterdings absprechen." Mau sollte es
kaum für möglich halten, daß irgend jemand an diesen klaren und besonnenen
Grundsätzen etwas auszusetzen fände. Und dennoch hat es Haeckel fertig ge¬
bracht, in seiner "Natürlichen Schöpfungsgeschichte" und in seinen "Welt-
rätselu" dagegen zu polemisieren und für die Naturforschung absolutes Er¬
kennen in Anspruch zu nehmen: denn er proklamiert bekanntlich Darwin als
diesen Newton der organischen Welt. Als ob der Darwinismus, soviel Licht
er anch über einzelne Gebiete und Probleme der Naturerkenntnis verbreitet
hat, das große Rätsel des Ursprungs der vernunftgemäßen Zielstrebigkeit in der
organischen Lebensbewegung vollkommen gelöst habe! Wie ungerechtfertigt
eine derartige Behauptung ist, das geht zur Genüge schon daraus hervor, daß
Darwin selbst in seinem Hauptwerke, der "Entstehung der Arten," ausdrücklich
erklärt, daß er "nichts mit dem Ursprung der geistigen Grundkräfte, noch mit
dem des Lebens zu schaffen habe."

Also auf den Boon der Wirklichkeit stellt uns die Lehre Kants, sie
fordert uns zur Erforschung der Natur auf, innerhalb der Grenzen des
Erkennbaren; zugleich aber warnt sie uns, über die diese Schranken über¬
steigenden abstrakten Konstruktionen und Gespinste unsers Verstands zwecklos
zu grübeln und die Phantome unsrer Einbildungskraft für wirkliche Dinge zu
halten.

Um die unermeßliche, das geistige Leben seiner Zeit völlig umgestaltende
und unsre moderne Weltanschauung begründende Bedeutung der Kantischen
Lehre ganz zu begreife", ist es nötig, das geistige Leben ins Ange zu fassen,
das Kant vorfand.

Zwei Jahrhunderte theologischer Kontroversen waren der Zeit .Kants
vorausgegangen und hatten den scholastischen Haarspaltereien der Leibniz-
Wolffschen Schulphilvsophie und den theosophischen Elnkubrationen bigotter
Glanbensschwärmer Platz gemacht. Die Entwicklung und die Begründung der
Dogmen der christlichen Religion galten als die Hauptaufgabe der damaligen
Philosophie, "die sich in einem selbstgesponnenen Gewebe von Begriffen be¬
wegte, mittels deren sie dnrch bloße logische .Konklusionen das Fernste und
Höchste erreichen zu können vermeinte, während die Untersuchung des Wirk¬
lichen in seiner Fülle und seinen Rätseln völlig verabsäumt wurde" (v. Kirch-
mann). Mendelssohn sprach, wie einer seiner Freunde sich ausdrückte, "so leicht
und so deutlich über das Dasein Gottes, als über ein neues Muster zum
Seidenstoff," und Lavater, Jacobi, Hamann, Schlosser, Claudius, Jung, Stol¬
berg u. a. waren einem religiösen Mhstizismus völlig zum Opfer gefallen.
Dieser unfreie Pietismus lastete wie ein dumpfer Druck und Zwang so all¬
gemein auf dem wissenschaftlichen und politischen Genüssen dieser Zeit, daß


Aare, Goethe mit der Monismus

daß man dreist sagen kann: es ist für Menschen ungereimt, auch nur einen
solchen Anschlag zu fassen oder zu hoffen, daß uoch etwa dereinst der Newton
aufstehn könne, der auch mir die Erzeugung eines Grashalms »ach Natur¬
gesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde, sondern man
muß diese Einsicht den Menschen schlechterdings absprechen." Mau sollte es
kaum für möglich halten, daß irgend jemand an diesen klaren und besonnenen
Grundsätzen etwas auszusetzen fände. Und dennoch hat es Haeckel fertig ge¬
bracht, in seiner „Natürlichen Schöpfungsgeschichte" und in seinen „Welt-
rätselu" dagegen zu polemisieren und für die Naturforschung absolutes Er¬
kennen in Anspruch zu nehmen: denn er proklamiert bekanntlich Darwin als
diesen Newton der organischen Welt. Als ob der Darwinismus, soviel Licht
er anch über einzelne Gebiete und Probleme der Naturerkenntnis verbreitet
hat, das große Rätsel des Ursprungs der vernunftgemäßen Zielstrebigkeit in der
organischen Lebensbewegung vollkommen gelöst habe! Wie ungerechtfertigt
eine derartige Behauptung ist, das geht zur Genüge schon daraus hervor, daß
Darwin selbst in seinem Hauptwerke, der „Entstehung der Arten," ausdrücklich
erklärt, daß er „nichts mit dem Ursprung der geistigen Grundkräfte, noch mit
dem des Lebens zu schaffen habe."

Also auf den Boon der Wirklichkeit stellt uns die Lehre Kants, sie
fordert uns zur Erforschung der Natur auf, innerhalb der Grenzen des
Erkennbaren; zugleich aber warnt sie uns, über die diese Schranken über¬
steigenden abstrakten Konstruktionen und Gespinste unsers Verstands zwecklos
zu grübeln und die Phantome unsrer Einbildungskraft für wirkliche Dinge zu
halten.

Um die unermeßliche, das geistige Leben seiner Zeit völlig umgestaltende
und unsre moderne Weltanschauung begründende Bedeutung der Kantischen
Lehre ganz zu begreife», ist es nötig, das geistige Leben ins Ange zu fassen,
das Kant vorfand.

Zwei Jahrhunderte theologischer Kontroversen waren der Zeit .Kants
vorausgegangen und hatten den scholastischen Haarspaltereien der Leibniz-
Wolffschen Schulphilvsophie und den theosophischen Elnkubrationen bigotter
Glanbensschwärmer Platz gemacht. Die Entwicklung und die Begründung der
Dogmen der christlichen Religion galten als die Hauptaufgabe der damaligen
Philosophie, „die sich in einem selbstgesponnenen Gewebe von Begriffen be¬
wegte, mittels deren sie dnrch bloße logische .Konklusionen das Fernste und
Höchste erreichen zu können vermeinte, während die Untersuchung des Wirk¬
lichen in seiner Fülle und seinen Rätseln völlig verabsäumt wurde" (v. Kirch-
mann). Mendelssohn sprach, wie einer seiner Freunde sich ausdrückte, „so leicht
und so deutlich über das Dasein Gottes, als über ein neues Muster zum
Seidenstoff," und Lavater, Jacobi, Hamann, Schlosser, Claudius, Jung, Stol¬
berg u. a. waren einem religiösen Mhstizismus völlig zum Opfer gefallen.
Dieser unfreie Pietismus lastete wie ein dumpfer Druck und Zwang so all¬
gemein auf dem wissenschaftlichen und politischen Genüssen dieser Zeit, daß


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[0428] Aare, Goethe mit der Monismus daß man dreist sagen kann: es ist für Menschen ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen oder zu hoffen, daß uoch etwa dereinst der Newton aufstehn könne, der auch mir die Erzeugung eines Grashalms »ach Natur¬ gesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde, sondern man muß diese Einsicht den Menschen schlechterdings absprechen." Mau sollte es kaum für möglich halten, daß irgend jemand an diesen klaren und besonnenen Grundsätzen etwas auszusetzen fände. Und dennoch hat es Haeckel fertig ge¬ bracht, in seiner „Natürlichen Schöpfungsgeschichte" und in seinen „Welt- rätselu" dagegen zu polemisieren und für die Naturforschung absolutes Er¬ kennen in Anspruch zu nehmen: denn er proklamiert bekanntlich Darwin als diesen Newton der organischen Welt. Als ob der Darwinismus, soviel Licht er anch über einzelne Gebiete und Probleme der Naturerkenntnis verbreitet hat, das große Rätsel des Ursprungs der vernunftgemäßen Zielstrebigkeit in der organischen Lebensbewegung vollkommen gelöst habe! Wie ungerechtfertigt eine derartige Behauptung ist, das geht zur Genüge schon daraus hervor, daß Darwin selbst in seinem Hauptwerke, der „Entstehung der Arten," ausdrücklich erklärt, daß er „nichts mit dem Ursprung der geistigen Grundkräfte, noch mit dem des Lebens zu schaffen habe." Also auf den Boon der Wirklichkeit stellt uns die Lehre Kants, sie fordert uns zur Erforschung der Natur auf, innerhalb der Grenzen des Erkennbaren; zugleich aber warnt sie uns, über die diese Schranken über¬ steigenden abstrakten Konstruktionen und Gespinste unsers Verstands zwecklos zu grübeln und die Phantome unsrer Einbildungskraft für wirkliche Dinge zu halten. Um die unermeßliche, das geistige Leben seiner Zeit völlig umgestaltende und unsre moderne Weltanschauung begründende Bedeutung der Kantischen Lehre ganz zu begreife», ist es nötig, das geistige Leben ins Ange zu fassen, das Kant vorfand. Zwei Jahrhunderte theologischer Kontroversen waren der Zeit .Kants vorausgegangen und hatten den scholastischen Haarspaltereien der Leibniz- Wolffschen Schulphilvsophie und den theosophischen Elnkubrationen bigotter Glanbensschwärmer Platz gemacht. Die Entwicklung und die Begründung der Dogmen der christlichen Religion galten als die Hauptaufgabe der damaligen Philosophie, „die sich in einem selbstgesponnenen Gewebe von Begriffen be¬ wegte, mittels deren sie dnrch bloße logische .Konklusionen das Fernste und Höchste erreichen zu können vermeinte, während die Untersuchung des Wirk¬ lichen in seiner Fülle und seinen Rätseln völlig verabsäumt wurde" (v. Kirch- mann). Mendelssohn sprach, wie einer seiner Freunde sich ausdrückte, „so leicht und so deutlich über das Dasein Gottes, als über ein neues Muster zum Seidenstoff," und Lavater, Jacobi, Hamann, Schlosser, Claudius, Jung, Stol¬ berg u. a. waren einem religiösen Mhstizismus völlig zum Opfer gefallen. Dieser unfreie Pietismus lastete wie ein dumpfer Druck und Zwang so all¬ gemein auf dem wissenschaftlichen und politischen Genüssen dieser Zeit, daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/428>, abgerufen am 27.06.2024.