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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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So sind Deutschland und Carlhle miteinander verbunden, und nächst
Shakespeare sollte er uns von allen englischen Schriftstellern der liebste sein.
Wir haben schon seit längerer Zeit Übersetzungen einzelner Carlylischer Werke
von Neuberg und Thomas Fischer, die sozialpolitischen Schriften hat dann
Professor Paul Hensel bei Bandenhoeck und Ruprecht herausgegeben, und von
diesem ist kürzlich auch eine Biographie Carlyles in Frommmms Verlag in
Stuttgart erschienen (Klassiker der Philosophie, Band XI), Wir haben früher
in den Grenzboten über ein Buch etwa gleichen Umfangs berichtet, worin
Professor von Schulze-Gaevernitz entsprechend seiner wissenschaftlichen Richtung
Carlhle als Nationalökonomen behandelt hat (Geisteshelden von Anton Bettel¬
heim, Band VI, zweite Auflage), In der Frvmmannscheu Sammlung wird er
nun als Philosoph gebucht, Einschachtelungen dieser Art haben immer ihr
mißliches, und da Carlhle auch nach Hensels Meinung weder als Anhänger
noch als Fortbildner eines bestimmten philosophischen Systems angesehen
werden kann, so hätten wir ihn bei seiner persönlichen Bedeutung lieber unter
eigner Flagge fahren sehen; immerhin ist Hensels Darstellung umfassender und
in sich reicher als die von Schulze-Gaevernitz, ein gutes Buch mit vielen eignen
Beobachtungen, wenn auch noch nicht "das" Buch über Carlhle. Die An¬
ordnung ist gelungen, ein glücklicher Gedanke die synchronistische Tabelle über
Lehmstaken und Schriften am Schluß, Am wenigsten hat uns das zweite
Kapitel "Vorbedingungen und innere Kämpfe" zugesagt; es macht den Ein¬
druck eines Kollegs und setzt wohlvorbereitete und scharf aufpassende Zuhörer
voraus, wie denn überhaupt sich der Verfasser meistens die Freude versagt
hat, um seiner Leser willen der Betrachtung strenge Lust durch allerlei ge¬
legentliche Versüßungen, die lieblichen Kleinigkeiten des Lebens, zu lindern.
Gut ist der Hinweis auf das, was Carlhle den Brüdern Schlegel verdankt
und ihrer noch lange nicht nnsgcnutzten, neuen Art der litterarischen Kritik,
die in selbständigem Weiterdenken einem Litteraturwerk, z, B. Goethes Wilhelm
Meister, seine Stelle im Ganzen des geistigen Lebens zu geben suchte und
nicht bloß in angenehmer Sprache dein Publikum sagte, was es ungefähr selber
dachte und fühlte; gut ist auch die Darlegung der Fäden, die Carlhle mit Fichte
verbinden, dessen "Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters" mit ihrer Ver¬
urteilung des ohnmächtig gegen den Glauben ankämpfenden Verstandes un¬
mittelbar auf den Hauptsatz der Carlhlischen LkMÄvtsristiW hinführen, daß
die Herrschaft des Intellekts von einem gläubigen Zeitalter überwunden werden
müsse; und geradezu musterhaft ist die Analyse des Lartor rssarws. Wer
sich die Mühe nimmt, in diesen wunderlich krausen und zugleich unendlich
tiefsinnigen Roman einzudringen, hat eigentlich den ganzen Carlhle in seiner
Lebensauffassung und in seiner Diktion mit allen ihren Arten und Unarten.
Hensel nennt Fischers Übersetzung vorzüglich; uns scheint sie ein ziemlich ver¬
gebliches Stück Arbeit zu sein: keiner wird durch sie zu einer Vorstellung, ge¬
schweige zum Verständnis des Originals gelangen; der sartor läßt sich in
keine andre Sprache übersetzen, höchstens umschreiben und erklären. Wer ihn


Larlylo

So sind Deutschland und Carlhle miteinander verbunden, und nächst
Shakespeare sollte er uns von allen englischen Schriftstellern der liebste sein.
Wir haben schon seit längerer Zeit Übersetzungen einzelner Carlylischer Werke
von Neuberg und Thomas Fischer, die sozialpolitischen Schriften hat dann
Professor Paul Hensel bei Bandenhoeck und Ruprecht herausgegeben, und von
diesem ist kürzlich auch eine Biographie Carlyles in Frommmms Verlag in
Stuttgart erschienen (Klassiker der Philosophie, Band XI), Wir haben früher
in den Grenzboten über ein Buch etwa gleichen Umfangs berichtet, worin
Professor von Schulze-Gaevernitz entsprechend seiner wissenschaftlichen Richtung
Carlhle als Nationalökonomen behandelt hat (Geisteshelden von Anton Bettel¬
heim, Band VI, zweite Auflage), In der Frvmmannscheu Sammlung wird er
nun als Philosoph gebucht, Einschachtelungen dieser Art haben immer ihr
mißliches, und da Carlhle auch nach Hensels Meinung weder als Anhänger
noch als Fortbildner eines bestimmten philosophischen Systems angesehen
werden kann, so hätten wir ihn bei seiner persönlichen Bedeutung lieber unter
eigner Flagge fahren sehen; immerhin ist Hensels Darstellung umfassender und
in sich reicher als die von Schulze-Gaevernitz, ein gutes Buch mit vielen eignen
Beobachtungen, wenn auch noch nicht „das" Buch über Carlhle. Die An¬
ordnung ist gelungen, ein glücklicher Gedanke die synchronistische Tabelle über
Lehmstaken und Schriften am Schluß, Am wenigsten hat uns das zweite
Kapitel „Vorbedingungen und innere Kämpfe" zugesagt; es macht den Ein¬
druck eines Kollegs und setzt wohlvorbereitete und scharf aufpassende Zuhörer
voraus, wie denn überhaupt sich der Verfasser meistens die Freude versagt
hat, um seiner Leser willen der Betrachtung strenge Lust durch allerlei ge¬
legentliche Versüßungen, die lieblichen Kleinigkeiten des Lebens, zu lindern.
Gut ist der Hinweis auf das, was Carlhle den Brüdern Schlegel verdankt
und ihrer noch lange nicht nnsgcnutzten, neuen Art der litterarischen Kritik,
die in selbständigem Weiterdenken einem Litteraturwerk, z, B. Goethes Wilhelm
Meister, seine Stelle im Ganzen des geistigen Lebens zu geben suchte und
nicht bloß in angenehmer Sprache dein Publikum sagte, was es ungefähr selber
dachte und fühlte; gut ist auch die Darlegung der Fäden, die Carlhle mit Fichte
verbinden, dessen „Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters" mit ihrer Ver¬
urteilung des ohnmächtig gegen den Glauben ankämpfenden Verstandes un¬
mittelbar auf den Hauptsatz der Carlhlischen LkMÄvtsristiW hinführen, daß
die Herrschaft des Intellekts von einem gläubigen Zeitalter überwunden werden
müsse; und geradezu musterhaft ist die Analyse des Lartor rssarws. Wer
sich die Mühe nimmt, in diesen wunderlich krausen und zugleich unendlich
tiefsinnigen Roman einzudringen, hat eigentlich den ganzen Carlhle in seiner
Lebensauffassung und in seiner Diktion mit allen ihren Arten und Unarten.
Hensel nennt Fischers Übersetzung vorzüglich; uns scheint sie ein ziemlich ver¬
gebliches Stück Arbeit zu sein: keiner wird durch sie zu einer Vorstellung, ge¬
schweige zum Verständnis des Originals gelangen; der sartor läßt sich in
keine andre Sprache übersetzen, höchstens umschreiben und erklären. Wer ihn


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[0286] Larlylo So sind Deutschland und Carlhle miteinander verbunden, und nächst Shakespeare sollte er uns von allen englischen Schriftstellern der liebste sein. Wir haben schon seit längerer Zeit Übersetzungen einzelner Carlylischer Werke von Neuberg und Thomas Fischer, die sozialpolitischen Schriften hat dann Professor Paul Hensel bei Bandenhoeck und Ruprecht herausgegeben, und von diesem ist kürzlich auch eine Biographie Carlyles in Frommmms Verlag in Stuttgart erschienen (Klassiker der Philosophie, Band XI), Wir haben früher in den Grenzboten über ein Buch etwa gleichen Umfangs berichtet, worin Professor von Schulze-Gaevernitz entsprechend seiner wissenschaftlichen Richtung Carlhle als Nationalökonomen behandelt hat (Geisteshelden von Anton Bettel¬ heim, Band VI, zweite Auflage), In der Frvmmannscheu Sammlung wird er nun als Philosoph gebucht, Einschachtelungen dieser Art haben immer ihr mißliches, und da Carlhle auch nach Hensels Meinung weder als Anhänger noch als Fortbildner eines bestimmten philosophischen Systems angesehen werden kann, so hätten wir ihn bei seiner persönlichen Bedeutung lieber unter eigner Flagge fahren sehen; immerhin ist Hensels Darstellung umfassender und in sich reicher als die von Schulze-Gaevernitz, ein gutes Buch mit vielen eignen Beobachtungen, wenn auch noch nicht „das" Buch über Carlhle. Die An¬ ordnung ist gelungen, ein glücklicher Gedanke die synchronistische Tabelle über Lehmstaken und Schriften am Schluß, Am wenigsten hat uns das zweite Kapitel „Vorbedingungen und innere Kämpfe" zugesagt; es macht den Ein¬ druck eines Kollegs und setzt wohlvorbereitete und scharf aufpassende Zuhörer voraus, wie denn überhaupt sich der Verfasser meistens die Freude versagt hat, um seiner Leser willen der Betrachtung strenge Lust durch allerlei ge¬ legentliche Versüßungen, die lieblichen Kleinigkeiten des Lebens, zu lindern. Gut ist der Hinweis auf das, was Carlhle den Brüdern Schlegel verdankt und ihrer noch lange nicht nnsgcnutzten, neuen Art der litterarischen Kritik, die in selbständigem Weiterdenken einem Litteraturwerk, z, B. Goethes Wilhelm Meister, seine Stelle im Ganzen des geistigen Lebens zu geben suchte und nicht bloß in angenehmer Sprache dein Publikum sagte, was es ungefähr selber dachte und fühlte; gut ist auch die Darlegung der Fäden, die Carlhle mit Fichte verbinden, dessen „Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters" mit ihrer Ver¬ urteilung des ohnmächtig gegen den Glauben ankämpfenden Verstandes un¬ mittelbar auf den Hauptsatz der Carlhlischen LkMÄvtsristiW hinführen, daß die Herrschaft des Intellekts von einem gläubigen Zeitalter überwunden werden müsse; und geradezu musterhaft ist die Analyse des Lartor rssarws. Wer sich die Mühe nimmt, in diesen wunderlich krausen und zugleich unendlich tiefsinnigen Roman einzudringen, hat eigentlich den ganzen Carlhle in seiner Lebensauffassung und in seiner Diktion mit allen ihren Arten und Unarten. Hensel nennt Fischers Übersetzung vorzüglich; uns scheint sie ein ziemlich ver¬ gebliches Stück Arbeit zu sein: keiner wird durch sie zu einer Vorstellung, ge¬ schweige zum Verständnis des Originals gelangen; der sartor läßt sich in keine andre Sprache übersetzen, höchstens umschreiben und erklären. Wer ihn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/286>, abgerufen am 28.09.2024.