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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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Ruskin

Guirlanden und Festons, gegen die Zierformen der antike" Architektur und
die Aufgaben der Draperie in der Plastik und der Malerei, Aber auch in
Dürers Stecherkunst und Bildnismalerei tan" er sich nicht finden, und
während ihm die deutsche Gotik eine Verfallskunst ist wie die spanische, geht
er den ärgsten Verschnörkelungen der italienischen (z, B, am Dom vou Ferrara)
liebevoll nach und erklärt sie uns für ebenso viel organisch gewachsene Schön
selten. Wir zweifeln, ob viele Leser mit ihm die gotischen Zierformen auf
den bcigegebnen Tafeln analysieren werden; sollten es aber einige thun, so
würden sie nicht mir häusig andrer Meinung sein, sondern auch seine ganze
Analyse manchmal merkwürdig souverän finden müssen. Wenn, wie der Über¬
setzer sagt, Nnskin uns Deutschen zwar kein Erzieher, wie den Engländern,
aber ein Anreger sein kaun, so meinen wir doch, daß ein Ruskiu ohne kon¬
trollierende Anmerkungen deu meisten deutschen Lesern ein Besitz von zweifel¬
haftem Nutzen sein wird. Zum mindeste" Hütten offenbare Unrichtigkeiten ver¬
bessert werden müssen. Beispielsweise gehört der Palast Riccardi in Florenz
nicht Michelangelo, sondern Michelozzo (was ein kleiner Unterschied ist!), und
die Fenster seines Untergeschosses haben mich keine viereckigen Stürze, sondern
Dreiecksgiebel, und außerdem sind sie in Rundbogen eingelassen, die als "Ex¬
ponenten der Kraft" wichtiger sind als die Fensterbednchungen, Der Las-i,
it'in-o Seite 365 und das Parthenon Seite 402 sollten in einer deutschen
Übersetzung ebenso wenig vorkommen, wie Seite 345 die nnübersetzte und ganz
überflüssige Nedeblüte: Aristoteles vus die löM, obendrein noch mit dem aus¬
gelassenen Accent lM),

"Scham nud Lilien" sind eine leichtere Lektüre, In Scham wird von
dem Werte der Bücher und von Volksbibliotheken gehandelt, in den Lilien
besonders schön von Frauenbildung, ihrem innersten Wesen nud ihren Grenzen,
Es ist nicht nötig, daß die Frau diese oder jene Wissenschaft kennen lernt,
aber sie soll an sorgfältiges Nachdenken gewöhnt werden und wenigstens einen
Pfad wissenschaftlicher Arbeit bis an die Schwelle des bittern Thals der De¬
mütigung verfolgen können, in das nnr die tapfersten und weisesten Männer
hinabsteigen, die dort wie Kinder an einem endlosen Ufer Kiesel sammeln.
Eine Frau vermag ihrem Gatten durch das, was sie weiß, und mag es noch
so wenig sein, immer zu helfen; aber durch das, was sie nnr halb oder falsch
versteht, kann sie ihn nnr quälen. Gute Romane können verständig gelesen
einen ernsten Nutzen habe", denn sie sind Abhandlungen über die menschliche
Natur in ihren Grundelementen, Aber da sie von Frauen selten mit dem
nötigen Ernste gelesen werden, so steigern sie gewöhnlich nur das Mitleid einer
gütigen Leserin oder auch die Bitterkeit einer boshaften, denn jede entnimmt
einem Romane Nahrung für ihre eignen Anlagen. Glänzend und zugleich tief
ist der dritte Vortrug - "Das Geheimnis des Lebens und seiner Künste." Er
ist wie die zwei ersten in Dublin, also vor Jrlündern , die in vielen Dingen
andrer Meinung sind als ihre englischen Gebieter, gehalten, und er zeigt so
recht, was Ruskin mit dem Worte vermag; wer davou eine Vorstellung haben


Ruskin

Guirlanden und Festons, gegen die Zierformen der antike» Architektur und
die Aufgaben der Draperie in der Plastik und der Malerei, Aber auch in
Dürers Stecherkunst und Bildnismalerei tan» er sich nicht finden, und
während ihm die deutsche Gotik eine Verfallskunst ist wie die spanische, geht
er den ärgsten Verschnörkelungen der italienischen (z, B, am Dom vou Ferrara)
liebevoll nach und erklärt sie uns für ebenso viel organisch gewachsene Schön
selten. Wir zweifeln, ob viele Leser mit ihm die gotischen Zierformen auf
den bcigegebnen Tafeln analysieren werden; sollten es aber einige thun, so
würden sie nicht mir häusig andrer Meinung sein, sondern auch seine ganze
Analyse manchmal merkwürdig souverän finden müssen. Wenn, wie der Über¬
setzer sagt, Nnskin uns Deutschen zwar kein Erzieher, wie den Engländern,
aber ein Anreger sein kaun, so meinen wir doch, daß ein Ruskiu ohne kon¬
trollierende Anmerkungen deu meisten deutschen Lesern ein Besitz von zweifel¬
haftem Nutzen sein wird. Zum mindeste« Hütten offenbare Unrichtigkeiten ver¬
bessert werden müssen. Beispielsweise gehört der Palast Riccardi in Florenz
nicht Michelangelo, sondern Michelozzo (was ein kleiner Unterschied ist!), und
die Fenster seines Untergeschosses haben mich keine viereckigen Stürze, sondern
Dreiecksgiebel, und außerdem sind sie in Rundbogen eingelassen, die als „Ex¬
ponenten der Kraft" wichtiger sind als die Fensterbednchungen, Der Las-i,
it'in-o Seite 365 und das Parthenon Seite 402 sollten in einer deutschen
Übersetzung ebenso wenig vorkommen, wie Seite 345 die nnübersetzte und ganz
überflüssige Nedeblüte: Aristoteles vus die löM, obendrein noch mit dem aus¬
gelassenen Accent lM),

„Scham nud Lilien" sind eine leichtere Lektüre, In Scham wird von
dem Werte der Bücher und von Volksbibliotheken gehandelt, in den Lilien
besonders schön von Frauenbildung, ihrem innersten Wesen nud ihren Grenzen,
Es ist nicht nötig, daß die Frau diese oder jene Wissenschaft kennen lernt,
aber sie soll an sorgfältiges Nachdenken gewöhnt werden und wenigstens einen
Pfad wissenschaftlicher Arbeit bis an die Schwelle des bittern Thals der De¬
mütigung verfolgen können, in das nnr die tapfersten und weisesten Männer
hinabsteigen, die dort wie Kinder an einem endlosen Ufer Kiesel sammeln.
Eine Frau vermag ihrem Gatten durch das, was sie weiß, und mag es noch
so wenig sein, immer zu helfen; aber durch das, was sie nnr halb oder falsch
versteht, kann sie ihn nnr quälen. Gute Romane können verständig gelesen
einen ernsten Nutzen habe», denn sie sind Abhandlungen über die menschliche
Natur in ihren Grundelementen, Aber da sie von Frauen selten mit dem
nötigen Ernste gelesen werden, so steigern sie gewöhnlich nur das Mitleid einer
gütigen Leserin oder auch die Bitterkeit einer boshaften, denn jede entnimmt
einem Romane Nahrung für ihre eignen Anlagen. Glänzend und zugleich tief
ist der dritte Vortrug - „Das Geheimnis des Lebens und seiner Künste." Er
ist wie die zwei ersten in Dublin, also vor Jrlündern , die in vielen Dingen
andrer Meinung sind als ihre englischen Gebieter, gehalten, und er zeigt so
recht, was Ruskin mit dem Worte vermag; wer davou eine Vorstellung haben


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[0230] Ruskin Guirlanden und Festons, gegen die Zierformen der antike» Architektur und die Aufgaben der Draperie in der Plastik und der Malerei, Aber auch in Dürers Stecherkunst und Bildnismalerei tan» er sich nicht finden, und während ihm die deutsche Gotik eine Verfallskunst ist wie die spanische, geht er den ärgsten Verschnörkelungen der italienischen (z, B, am Dom vou Ferrara) liebevoll nach und erklärt sie uns für ebenso viel organisch gewachsene Schön selten. Wir zweifeln, ob viele Leser mit ihm die gotischen Zierformen auf den bcigegebnen Tafeln analysieren werden; sollten es aber einige thun, so würden sie nicht mir häusig andrer Meinung sein, sondern auch seine ganze Analyse manchmal merkwürdig souverän finden müssen. Wenn, wie der Über¬ setzer sagt, Nnskin uns Deutschen zwar kein Erzieher, wie den Engländern, aber ein Anreger sein kaun, so meinen wir doch, daß ein Ruskiu ohne kon¬ trollierende Anmerkungen deu meisten deutschen Lesern ein Besitz von zweifel¬ haftem Nutzen sein wird. Zum mindeste« Hütten offenbare Unrichtigkeiten ver¬ bessert werden müssen. Beispielsweise gehört der Palast Riccardi in Florenz nicht Michelangelo, sondern Michelozzo (was ein kleiner Unterschied ist!), und die Fenster seines Untergeschosses haben mich keine viereckigen Stürze, sondern Dreiecksgiebel, und außerdem sind sie in Rundbogen eingelassen, die als „Ex¬ ponenten der Kraft" wichtiger sind als die Fensterbednchungen, Der Las-i, it'in-o Seite 365 und das Parthenon Seite 402 sollten in einer deutschen Übersetzung ebenso wenig vorkommen, wie Seite 345 die nnübersetzte und ganz überflüssige Nedeblüte: Aristoteles vus die löM, obendrein noch mit dem aus¬ gelassenen Accent lM), „Scham nud Lilien" sind eine leichtere Lektüre, In Scham wird von dem Werte der Bücher und von Volksbibliotheken gehandelt, in den Lilien besonders schön von Frauenbildung, ihrem innersten Wesen nud ihren Grenzen, Es ist nicht nötig, daß die Frau diese oder jene Wissenschaft kennen lernt, aber sie soll an sorgfältiges Nachdenken gewöhnt werden und wenigstens einen Pfad wissenschaftlicher Arbeit bis an die Schwelle des bittern Thals der De¬ mütigung verfolgen können, in das nnr die tapfersten und weisesten Männer hinabsteigen, die dort wie Kinder an einem endlosen Ufer Kiesel sammeln. Eine Frau vermag ihrem Gatten durch das, was sie weiß, und mag es noch so wenig sein, immer zu helfen; aber durch das, was sie nnr halb oder falsch versteht, kann sie ihn nnr quälen. Gute Romane können verständig gelesen einen ernsten Nutzen habe», denn sie sind Abhandlungen über die menschliche Natur in ihren Grundelementen, Aber da sie von Frauen selten mit dem nötigen Ernste gelesen werden, so steigern sie gewöhnlich nur das Mitleid einer gütigen Leserin oder auch die Bitterkeit einer boshaften, denn jede entnimmt einem Romane Nahrung für ihre eignen Anlagen. Glänzend und zugleich tief ist der dritte Vortrug - „Das Geheimnis des Lebens und seiner Künste." Er ist wie die zwei ersten in Dublin, also vor Jrlündern , die in vielen Dingen andrer Meinung sind als ihre englischen Gebieter, gehalten, und er zeigt so recht, was Ruskin mit dem Worte vermag; wer davou eine Vorstellung haben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/230>, abgerufen am 01.07.2024.