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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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sehr vieles enthalte", was er später verworfen hat, so bedürfte es eigeiitlich
zum erfolgreichen Studium seiner Kunstlehre einer Art Konkordanz, einer nach
Gattungen und Gegenständen geordneten Übersicht seiner Meinungen und
Widersprüche, während die Lektüre eines einzelnen dieser ältern Bücher eher
verwirrend wirken kann. So rechtfertigt sich der ansprechende Versuch einer
Gedankenauslese, den schon vor längerer Zeit Jakob Fels in einer Anzahl
kleiner bei Heitz in Straßburg erschienener Bände gemacht hat. Er ist noch
sehr der Vervollkommnung fähig, aber das zweite Bändchen der "Wege zur
Kunst" giebt doch schon eine recht nützliche und auch lesbare Zergliederung
der gewiß höchst geistvollen und tief empfundne", aber auch entsetzlich ein¬
seitigen und von Verkehrtheiten aller Art erfüllten "Steine von Venedig,"
Denn das andre Übel bei Ruskin ist die Willkttrlichkeit seiner Maßstäbe.
Klaren, schönen und unwidersprechlichen Hauptsätzen stehn die wunderlichsten
Eiuzelauwendungen gegenüber. Lesen Nur z, B. diesen Band über die
Sieben Leuchter der Bankunst, der wesentlich von den Bedingungen des
Ornaments, von seiner natürlichen Grundlage und seiner aus dem Un¬
verstand hervorgehenden falschen und massenhaften Anwendung handelt, so
haben nur da einen Teil der Grundsätze, die etwas später auch Semper in
seinein "Stil" (seit 1860) entwickelt hat, nur ist die Darlegung viel angenehmer
und unterhaltender. Es kann nichts amüsanteres geben als Ruskin über den
Mißbrauch der Dekoration an Firmenschildern reden zu hören, die man mir
lesen null und weiter nichts, oder über die Verschwendung von Ornamenten
an Bahnhöfen, wo man mir Abschied nimmt, an Geschäftsbauten, wo man
bloß Pakete abgiebt.- die Eisenbahn verwandelt die Menschen in ein lebendes
Paket; verlangt nicht von ihm, daß er etwas bewundern soll. Oder mau lese
die Paragraphen über heraldische Dekoration (multiplizierte Königswappen),
über Schnörkelschrift und Spruchbänder (eS ist ein thörichtes Scheiuvpfer an
die Schönheit, das unlesbar zu machen, dessen einzige Daseinsberechtigung in
seiner Verständlichkeit liegt), die dann aber in den nach Jahren hinzugesetzten
Anmerkungen derartig eingeschränkt werden, daß man auf die Hcrmisschälung
des Giltigen einen Preis ausschreiben könnte, "Was noch gutes in diesem
erbärmlichen Wortschwall enthalten ist, heißt es um einer spätern Stelle,
mögen sich die Leute, die es verlangen, herausholen; mir scheint es ziemlich
zwecklos, denn die einzige Kunst, die in England übrig geblieben lind zur
Blüte gelangt ist, ist die der Zettelankleber!"' Was er von dieser Kunst, die
wir ja auch inzwischen in Dentschland keimen gelernt haben, dächte, hätten
wir doch recht gern erfahren.

Daß nun der Gotiker Ruskin in der Anwendung seiner Methoden und
in seiner Richtung so ziemlich das Gegenteil von Semper ist, versteht sich von
selbst, er ist aber auch der einseitigere, denn Sempcrs Blick reicht über sein
Hauptgebiet, die Renaissance, hinaus, während Ruskin jenseits und diesseits
der Gotik da, wo das Altertum und die Renaissance anfangen, nicht mehr
klar sieht. Daher rührt seine Abneigung gegen das Nackte und gegen alle


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sehr vieles enthalte», was er später verworfen hat, so bedürfte es eigeiitlich
zum erfolgreichen Studium seiner Kunstlehre einer Art Konkordanz, einer nach
Gattungen und Gegenständen geordneten Übersicht seiner Meinungen und
Widersprüche, während die Lektüre eines einzelnen dieser ältern Bücher eher
verwirrend wirken kann. So rechtfertigt sich der ansprechende Versuch einer
Gedankenauslese, den schon vor längerer Zeit Jakob Fels in einer Anzahl
kleiner bei Heitz in Straßburg erschienener Bände gemacht hat. Er ist noch
sehr der Vervollkommnung fähig, aber das zweite Bändchen der „Wege zur
Kunst" giebt doch schon eine recht nützliche und auch lesbare Zergliederung
der gewiß höchst geistvollen und tief empfundne», aber auch entsetzlich ein¬
seitigen und von Verkehrtheiten aller Art erfüllten „Steine von Venedig,"
Denn das andre Übel bei Ruskin ist die Willkttrlichkeit seiner Maßstäbe.
Klaren, schönen und unwidersprechlichen Hauptsätzen stehn die wunderlichsten
Eiuzelauwendungen gegenüber. Lesen Nur z, B. diesen Band über die
Sieben Leuchter der Bankunst, der wesentlich von den Bedingungen des
Ornaments, von seiner natürlichen Grundlage und seiner aus dem Un¬
verstand hervorgehenden falschen und massenhaften Anwendung handelt, so
haben nur da einen Teil der Grundsätze, die etwas später auch Semper in
seinein „Stil" (seit 1860) entwickelt hat, nur ist die Darlegung viel angenehmer
und unterhaltender. Es kann nichts amüsanteres geben als Ruskin über den
Mißbrauch der Dekoration an Firmenschildern reden zu hören, die man mir
lesen null und weiter nichts, oder über die Verschwendung von Ornamenten
an Bahnhöfen, wo man mir Abschied nimmt, an Geschäftsbauten, wo man
bloß Pakete abgiebt.- die Eisenbahn verwandelt die Menschen in ein lebendes
Paket; verlangt nicht von ihm, daß er etwas bewundern soll. Oder mau lese
die Paragraphen über heraldische Dekoration (multiplizierte Königswappen),
über Schnörkelschrift und Spruchbänder (eS ist ein thörichtes Scheiuvpfer an
die Schönheit, das unlesbar zu machen, dessen einzige Daseinsberechtigung in
seiner Verständlichkeit liegt), die dann aber in den nach Jahren hinzugesetzten
Anmerkungen derartig eingeschränkt werden, daß man auf die Hcrmisschälung
des Giltigen einen Preis ausschreiben könnte, „Was noch gutes in diesem
erbärmlichen Wortschwall enthalten ist, heißt es um einer spätern Stelle,
mögen sich die Leute, die es verlangen, herausholen; mir scheint es ziemlich
zwecklos, denn die einzige Kunst, die in England übrig geblieben lind zur
Blüte gelangt ist, ist die der Zettelankleber!"' Was er von dieser Kunst, die
wir ja auch inzwischen in Dentschland keimen gelernt haben, dächte, hätten
wir doch recht gern erfahren.

Daß nun der Gotiker Ruskin in der Anwendung seiner Methoden und
in seiner Richtung so ziemlich das Gegenteil von Semper ist, versteht sich von
selbst, er ist aber auch der einseitigere, denn Sempcrs Blick reicht über sein
Hauptgebiet, die Renaissance, hinaus, während Ruskin jenseits und diesseits
der Gotik da, wo das Altertum und die Renaissance anfangen, nicht mehr
klar sieht. Daher rührt seine Abneigung gegen das Nackte und gegen alle


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[0229] Russin sehr vieles enthalte», was er später verworfen hat, so bedürfte es eigeiitlich zum erfolgreichen Studium seiner Kunstlehre einer Art Konkordanz, einer nach Gattungen und Gegenständen geordneten Übersicht seiner Meinungen und Widersprüche, während die Lektüre eines einzelnen dieser ältern Bücher eher verwirrend wirken kann. So rechtfertigt sich der ansprechende Versuch einer Gedankenauslese, den schon vor längerer Zeit Jakob Fels in einer Anzahl kleiner bei Heitz in Straßburg erschienener Bände gemacht hat. Er ist noch sehr der Vervollkommnung fähig, aber das zweite Bändchen der „Wege zur Kunst" giebt doch schon eine recht nützliche und auch lesbare Zergliederung der gewiß höchst geistvollen und tief empfundne», aber auch entsetzlich ein¬ seitigen und von Verkehrtheiten aller Art erfüllten „Steine von Venedig," Denn das andre Übel bei Ruskin ist die Willkttrlichkeit seiner Maßstäbe. Klaren, schönen und unwidersprechlichen Hauptsätzen stehn die wunderlichsten Eiuzelauwendungen gegenüber. Lesen Nur z, B. diesen Band über die Sieben Leuchter der Bankunst, der wesentlich von den Bedingungen des Ornaments, von seiner natürlichen Grundlage und seiner aus dem Un¬ verstand hervorgehenden falschen und massenhaften Anwendung handelt, so haben nur da einen Teil der Grundsätze, die etwas später auch Semper in seinein „Stil" (seit 1860) entwickelt hat, nur ist die Darlegung viel angenehmer und unterhaltender. Es kann nichts amüsanteres geben als Ruskin über den Mißbrauch der Dekoration an Firmenschildern reden zu hören, die man mir lesen null und weiter nichts, oder über die Verschwendung von Ornamenten an Bahnhöfen, wo man mir Abschied nimmt, an Geschäftsbauten, wo man bloß Pakete abgiebt.- die Eisenbahn verwandelt die Menschen in ein lebendes Paket; verlangt nicht von ihm, daß er etwas bewundern soll. Oder mau lese die Paragraphen über heraldische Dekoration (multiplizierte Königswappen), über Schnörkelschrift und Spruchbänder (eS ist ein thörichtes Scheiuvpfer an die Schönheit, das unlesbar zu machen, dessen einzige Daseinsberechtigung in seiner Verständlichkeit liegt), die dann aber in den nach Jahren hinzugesetzten Anmerkungen derartig eingeschränkt werden, daß man auf die Hcrmisschälung des Giltigen einen Preis ausschreiben könnte, „Was noch gutes in diesem erbärmlichen Wortschwall enthalten ist, heißt es um einer spätern Stelle, mögen sich die Leute, die es verlangen, herausholen; mir scheint es ziemlich zwecklos, denn die einzige Kunst, die in England übrig geblieben lind zur Blüte gelangt ist, ist die der Zettelankleber!"' Was er von dieser Kunst, die wir ja auch inzwischen in Dentschland keimen gelernt haben, dächte, hätten wir doch recht gern erfahren. Daß nun der Gotiker Ruskin in der Anwendung seiner Methoden und in seiner Richtung so ziemlich das Gegenteil von Semper ist, versteht sich von selbst, er ist aber auch der einseitigere, denn Sempcrs Blick reicht über sein Hauptgebiet, die Renaissance, hinaus, während Ruskin jenseits und diesseits der Gotik da, wo das Altertum und die Renaissance anfangen, nicht mehr klar sieht. Daher rührt seine Abneigung gegen das Nackte und gegen alle

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/229>, abgerufen am 01.07.2024.