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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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Ruskin

schmucklos langstieligen, modernen englische" Wohnhauses, oder auch als den
Gotiker, dem das klassische Altertum ebenso wenig gilt mie Carlyle, und dem
die von antiken Formen infizierte Nenaisscinee beinahe verhaßt ist. Schon seit
1877, also noch vor Carlyles Tode (1881) war er krank und verhältnismäßig
früh ein alter Mann geworden; erst voriges Jahr ist er in seinem achtzigsten
Jahre gestorben.

Ohne Frage ist Ruskin ein ungewöhnlich eindrucksvoller Schriftsteller
oder besser gesagt Schriftredner, denn seine Worte wirken immer wie ge¬
sprochen, besonders seit er sich vieles von der Carlylischen Ausdrucksweise mit
ihren Antithesen und temperamentvollen Anreden zu eigen gemacht hat, und
seit er sich so lebendig überredend um die tiefern, allgemein "umschlichen
Empfindungen seiner Leser zu wende" versteht. Zahlreiche Sätze könnte geua"
ebenso Carlyle geschrieben haben, "Ich glaube, die einzig entscheidende Frage
bei allein Ornament ist einfach diese: War es mit Vergnügen und Genuß ge¬
macht, war der Bildhauer glücklich, als er daran meißelte? Es mag die
denkbar schwerste Arbeit sein, "in so härter, weil so viel Genuß dabei war;
aber sie "ruß auch glücklich und glühend und gläubig gewesen sein, sonst wird
sie nicht leben." Ein andres Beispiel aus derselben Schrift, den Sieben
Leuchtern der Baukunst: "Ich glaube, alle Künste werden leiden, bis die
Architektur die Führung übernimmt, und (dies glaube ich nicht, sondern ver¬
kündige es so zuversichtlich, wie ich für die Notwendigkeit der Sicherheit der
menschlichen Gesellschaft lind einer gesetzmäßigen, kraftvollen Regierung ein-
trete) unsre Architektur wird leiden und im Staube daniederliegen, bis wir
dem Grundsatz gesunder Vernunft mannhaft gehorche" und ein allgemein
giltiges System der Formen und des Stils überall aufstellen und durchführe,!.
Man wird sagen, dies sei unmöglich. Das mag sein, und ich fürchte, es ist
so. Ich habe nichts mit der Möglichkeit oder Unmöglichkeit zu thun, ich kenne
und behaupte nur die Notwendigkeit desselben, We"" das unmöglich ist, so
ist auch englische Kunst unmöglich, Geben wir sie nur sofort ans." Die um¬
ständliche Ausführung eines Sinnes, der sich sehr viel kürzer ausdrücke" ließe,
gehört zu den Eigenschaften des Stils nicht "ur Carlyles und Urseins,
sondern der englischen abhandelnden Prosa überhaupt; wir Deutschen sind sie
nicht gewohnt, aber wir lassen sie uns gefallen, weil sie geschickt angewandt
als Kunstmittel den Eindruck einer vollkommne" Plausibilität zu Wege bringt.

Erschwerend aber für die Aufnahme von Urseins Abhandlungsweise siud
zwei Eigentümlichkeiten von ihm. Wenn er ältere Schriften, wie z. B, diese
Sieben Leuchter der Baukunst, um herausgegeben hat, so hat er sie nicht etwa
"ach dein Stande seiner inzwischen geänderten Ansichten verändert, sondern das
nicht mehr Geltende ist mit einer Warnungstafel versehen und daneben noch
vermerkt, an welchen Stellen andrer mittlerweile erschienenen Schriften der
Leser das Richtige finden könne. Da nun gerade seine grundlegenden Haupt¬
werke, außer den Sieben Leuchtern noch die drei Bande "Steine von Venedig"
(1851 bis 1853) und die fünf Bände "Moderne Maler" (1843 bis 1860),


Ruskin

schmucklos langstieligen, modernen englische» Wohnhauses, oder auch als den
Gotiker, dem das klassische Altertum ebenso wenig gilt mie Carlyle, und dem
die von antiken Formen infizierte Nenaisscinee beinahe verhaßt ist. Schon seit
1877, also noch vor Carlyles Tode (1881) war er krank und verhältnismäßig
früh ein alter Mann geworden; erst voriges Jahr ist er in seinem achtzigsten
Jahre gestorben.

Ohne Frage ist Ruskin ein ungewöhnlich eindrucksvoller Schriftsteller
oder besser gesagt Schriftredner, denn seine Worte wirken immer wie ge¬
sprochen, besonders seit er sich vieles von der Carlylischen Ausdrucksweise mit
ihren Antithesen und temperamentvollen Anreden zu eigen gemacht hat, und
seit er sich so lebendig überredend um die tiefern, allgemein »umschlichen
Empfindungen seiner Leser zu wende» versteht. Zahlreiche Sätze könnte geua»
ebenso Carlyle geschrieben haben, „Ich glaube, die einzig entscheidende Frage
bei allein Ornament ist einfach diese: War es mit Vergnügen und Genuß ge¬
macht, war der Bildhauer glücklich, als er daran meißelte? Es mag die
denkbar schwerste Arbeit sein, »in so härter, weil so viel Genuß dabei war;
aber sie »ruß auch glücklich und glühend und gläubig gewesen sein, sonst wird
sie nicht leben." Ein andres Beispiel aus derselben Schrift, den Sieben
Leuchtern der Baukunst: „Ich glaube, alle Künste werden leiden, bis die
Architektur die Führung übernimmt, und (dies glaube ich nicht, sondern ver¬
kündige es so zuversichtlich, wie ich für die Notwendigkeit der Sicherheit der
menschlichen Gesellschaft lind einer gesetzmäßigen, kraftvollen Regierung ein-
trete) unsre Architektur wird leiden und im Staube daniederliegen, bis wir
dem Grundsatz gesunder Vernunft mannhaft gehorche» und ein allgemein
giltiges System der Formen und des Stils überall aufstellen und durchführe,!.
Man wird sagen, dies sei unmöglich. Das mag sein, und ich fürchte, es ist
so. Ich habe nichts mit der Möglichkeit oder Unmöglichkeit zu thun, ich kenne
und behaupte nur die Notwendigkeit desselben, We»» das unmöglich ist, so
ist auch englische Kunst unmöglich, Geben wir sie nur sofort ans." Die um¬
ständliche Ausführung eines Sinnes, der sich sehr viel kürzer ausdrücke« ließe,
gehört zu den Eigenschaften des Stils nicht »ur Carlyles und Urseins,
sondern der englischen abhandelnden Prosa überhaupt; wir Deutschen sind sie
nicht gewohnt, aber wir lassen sie uns gefallen, weil sie geschickt angewandt
als Kunstmittel den Eindruck einer vollkommne» Plausibilität zu Wege bringt.

Erschwerend aber für die Aufnahme von Urseins Abhandlungsweise siud
zwei Eigentümlichkeiten von ihm. Wenn er ältere Schriften, wie z. B, diese
Sieben Leuchter der Baukunst, um herausgegeben hat, so hat er sie nicht etwa
»ach dein Stande seiner inzwischen geänderten Ansichten verändert, sondern das
nicht mehr Geltende ist mit einer Warnungstafel versehen und daneben noch
vermerkt, an welchen Stellen andrer mittlerweile erschienenen Schriften der
Leser das Richtige finden könne. Da nun gerade seine grundlegenden Haupt¬
werke, außer den Sieben Leuchtern noch die drei Bande „Steine von Venedig"
(1851 bis 1853) und die fünf Bände „Moderne Maler" (1843 bis 1860),


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[0228] Ruskin schmucklos langstieligen, modernen englische» Wohnhauses, oder auch als den Gotiker, dem das klassische Altertum ebenso wenig gilt mie Carlyle, und dem die von antiken Formen infizierte Nenaisscinee beinahe verhaßt ist. Schon seit 1877, also noch vor Carlyles Tode (1881) war er krank und verhältnismäßig früh ein alter Mann geworden; erst voriges Jahr ist er in seinem achtzigsten Jahre gestorben. Ohne Frage ist Ruskin ein ungewöhnlich eindrucksvoller Schriftsteller oder besser gesagt Schriftredner, denn seine Worte wirken immer wie ge¬ sprochen, besonders seit er sich vieles von der Carlylischen Ausdrucksweise mit ihren Antithesen und temperamentvollen Anreden zu eigen gemacht hat, und seit er sich so lebendig überredend um die tiefern, allgemein »umschlichen Empfindungen seiner Leser zu wende» versteht. Zahlreiche Sätze könnte geua» ebenso Carlyle geschrieben haben, „Ich glaube, die einzig entscheidende Frage bei allein Ornament ist einfach diese: War es mit Vergnügen und Genuß ge¬ macht, war der Bildhauer glücklich, als er daran meißelte? Es mag die denkbar schwerste Arbeit sein, »in so härter, weil so viel Genuß dabei war; aber sie »ruß auch glücklich und glühend und gläubig gewesen sein, sonst wird sie nicht leben." Ein andres Beispiel aus derselben Schrift, den Sieben Leuchtern der Baukunst: „Ich glaube, alle Künste werden leiden, bis die Architektur die Führung übernimmt, und (dies glaube ich nicht, sondern ver¬ kündige es so zuversichtlich, wie ich für die Notwendigkeit der Sicherheit der menschlichen Gesellschaft lind einer gesetzmäßigen, kraftvollen Regierung ein- trete) unsre Architektur wird leiden und im Staube daniederliegen, bis wir dem Grundsatz gesunder Vernunft mannhaft gehorche» und ein allgemein giltiges System der Formen und des Stils überall aufstellen und durchführe,!. Man wird sagen, dies sei unmöglich. Das mag sein, und ich fürchte, es ist so. Ich habe nichts mit der Möglichkeit oder Unmöglichkeit zu thun, ich kenne und behaupte nur die Notwendigkeit desselben, We»» das unmöglich ist, so ist auch englische Kunst unmöglich, Geben wir sie nur sofort ans." Die um¬ ständliche Ausführung eines Sinnes, der sich sehr viel kürzer ausdrücke« ließe, gehört zu den Eigenschaften des Stils nicht »ur Carlyles und Urseins, sondern der englischen abhandelnden Prosa überhaupt; wir Deutschen sind sie nicht gewohnt, aber wir lassen sie uns gefallen, weil sie geschickt angewandt als Kunstmittel den Eindruck einer vollkommne» Plausibilität zu Wege bringt. Erschwerend aber für die Aufnahme von Urseins Abhandlungsweise siud zwei Eigentümlichkeiten von ihm. Wenn er ältere Schriften, wie z. B, diese Sieben Leuchter der Baukunst, um herausgegeben hat, so hat er sie nicht etwa »ach dein Stande seiner inzwischen geänderten Ansichten verändert, sondern das nicht mehr Geltende ist mit einer Warnungstafel versehen und daneben noch vermerkt, an welchen Stellen andrer mittlerweile erschienenen Schriften der Leser das Richtige finden könne. Da nun gerade seine grundlegenden Haupt¬ werke, außer den Sieben Leuchtern noch die drei Bande „Steine von Venedig" (1851 bis 1853) und die fünf Bände „Moderne Maler" (1843 bis 1860),

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/228>, abgerufen am 01.07.2024.