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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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gar nicht ins Gewicht, Etwas mehr kommen die stenographischen Berichte in
Betracht, aber auch bei ihnen kann man von einer unmittelbaren Wirkung ans
die Massen der Wähler natürlich nicht reden. So kommt man auch hier
wieder auf die Zeitungen, die dem Publikum die Verhandlungen übermitteln.
Aber wie geschieht das? Mnu braucht anch bei den Zeitungen, die die aus¬
führlichste" Berichte haben, bei ein und derselben Verhandlung nur die Zeile"
zahlen zu vergleichen, die den verschiednen Rednern gewidmet sind, und mau
kann mit ziemlicher Sicherheit die Partei des Blattes nennen; und erst recht
tritt das hervor, wenn man kleinere Zeitungen zur Hand nimmt, "Wahr¬
heitsgetreue Berichte über Verhandlungen in den öffentlichen Sitzungen des
Reichstags bleiben von jeder Verantwortlichkeit frei," heißt es in Artikel 22
der Reichsverfassung. Wollte jemand den Satz umkehren und glauben, die
Berichte, die von Verantwortlichkeit frei bleiben, seien wahrheitsgetreu, so wäre
er sehr im Irrtum; wirklich wahrheitsgetreue Berichte werde" in den Zeitungen
-- bewußt oder unbewußt -- kaum je gedruckt. Und eine Menge von Leuten,
die dadurch, daß sie ihr Wahlrecht ausüben, an der Regierung mitwirke", liest
a"es nicht einmal diese verstümmelte" oder zurechtgestutzten Berichte, sondern
begnügt sich mit dem, was die Zeitung über die Verhandlungen resümierend,
d, h, von: Parteistaudpunkt ans, zu sagen für gilt findet.

So dient die Öffentlichkeit der Verhandlungen einer wirklichen Aufklärung
der Masse" sehr wenig; sie wird sogar auch ein Mittel dazu, den Bürgern
die Parteiauffassnug geläufig zu macheu. Mit den für die Zeitungsleser be
rechneten, den "aus dem Fenster hinaus" gehaltnen Parlamentsreden fängt
diese Ausnutzung der Verhandlungen ja schon an.

Ebenso ist auch fast alles sonstige politische Material, von dem ohne
Zweifel durch die Zeitungen eine große Masse unter das Volk gebracht wird,
mehr oder weniger nach der Partei gefärbt. Bis zu welchem Grade das bei
uns auch in Dingen, bei denen die Macht, die Ehre des Reichs, und damit
die Grundlage" der allgemeinen Wohlfahrt in Frage komme", dennoch geschieht,
'se geradezu erstaunlich. Anders als in Frankreich und England fehlt in
unserm junge" Reiche ja leider "och der nationale Instinkt, das staatliche Be¬
wußtsein, das in gewissen Dingen nicht mit sich spaßen läßt. Bei uns kann
geradezu alles heruntergerissen werden und wird es. Ich sage, der nationale
anstinkt fehlt uoch, aber man möchte manchmal irre werden, ob Aussicht ist,
daß er sich finden wird. Materiell ist freilich das Reich seit der Gründung
ruiner mehr zusammen gewachsen, eine Auflösung erscheint undenkbar, und
danach hat sich auch die' Stellung der Parteien zum Reich erfreulich geändert.
Aber ist das innere Verhältnis der großen Masse der Bürger zum Reich besser
geworden? An vielen Orten Hütte das, was heute von einem Volksredner
"U)ig hingenommen wird oder sogar Beifall findet, vor zwanzig Jahren un¬
fehlbar den Erfolg gehabt, daß der Redner hinausgeworfen worden wäre; es
Seht heute in den Versammlungen parlamentarischer zu, aber ob politisch ge¬
sunder, ist eine andre Frage, lind was heute über Kaiser und Reich, über


gar nicht ins Gewicht, Etwas mehr kommen die stenographischen Berichte in
Betracht, aber auch bei ihnen kann man von einer unmittelbaren Wirkung ans
die Massen der Wähler natürlich nicht reden. So kommt man auch hier
wieder auf die Zeitungen, die dem Publikum die Verhandlungen übermitteln.
Aber wie geschieht das? Mnu braucht anch bei den Zeitungen, die die aus¬
führlichste» Berichte haben, bei ein und derselben Verhandlung nur die Zeile»
zahlen zu vergleichen, die den verschiednen Rednern gewidmet sind, und mau
kann mit ziemlicher Sicherheit die Partei des Blattes nennen; und erst recht
tritt das hervor, wenn man kleinere Zeitungen zur Hand nimmt, „Wahr¬
heitsgetreue Berichte über Verhandlungen in den öffentlichen Sitzungen des
Reichstags bleiben von jeder Verantwortlichkeit frei," heißt es in Artikel 22
der Reichsverfassung. Wollte jemand den Satz umkehren und glauben, die
Berichte, die von Verantwortlichkeit frei bleiben, seien wahrheitsgetreu, so wäre
er sehr im Irrtum; wirklich wahrheitsgetreue Berichte werde» in den Zeitungen
— bewußt oder unbewußt — kaum je gedruckt. Und eine Menge von Leuten,
die dadurch, daß sie ihr Wahlrecht ausüben, an der Regierung mitwirke», liest
a»es nicht einmal diese verstümmelte» oder zurechtgestutzten Berichte, sondern
begnügt sich mit dem, was die Zeitung über die Verhandlungen resümierend,
d, h, von: Parteistaudpunkt ans, zu sagen für gilt findet.

So dient die Öffentlichkeit der Verhandlungen einer wirklichen Aufklärung
der Masse» sehr wenig; sie wird sogar auch ein Mittel dazu, den Bürgern
die Parteiauffassnug geläufig zu macheu. Mit den für die Zeitungsleser be
rechneten, den „aus dem Fenster hinaus" gehaltnen Parlamentsreden fängt
diese Ausnutzung der Verhandlungen ja schon an.

Ebenso ist auch fast alles sonstige politische Material, von dem ohne
Zweifel durch die Zeitungen eine große Masse unter das Volk gebracht wird,
mehr oder weniger nach der Partei gefärbt. Bis zu welchem Grade das bei
uns auch in Dingen, bei denen die Macht, die Ehre des Reichs, und damit
die Grundlage» der allgemeinen Wohlfahrt in Frage komme», dennoch geschieht,
'se geradezu erstaunlich. Anders als in Frankreich und England fehlt in
unserm junge» Reiche ja leider »och der nationale Instinkt, das staatliche Be¬
wußtsein, das in gewissen Dingen nicht mit sich spaßen läßt. Bei uns kann
geradezu alles heruntergerissen werden und wird es. Ich sage, der nationale
anstinkt fehlt uoch, aber man möchte manchmal irre werden, ob Aussicht ist,
daß er sich finden wird. Materiell ist freilich das Reich seit der Gründung
ruiner mehr zusammen gewachsen, eine Auflösung erscheint undenkbar, und
danach hat sich auch die' Stellung der Parteien zum Reich erfreulich geändert.
Aber ist das innere Verhältnis der großen Masse der Bürger zum Reich besser
geworden? An vielen Orten Hütte das, was heute von einem Volksredner
"U)ig hingenommen wird oder sogar Beifall findet, vor zwanzig Jahren un¬
fehlbar den Erfolg gehabt, daß der Redner hinausgeworfen worden wäre; es
Seht heute in den Versammlungen parlamentarischer zu, aber ob politisch ge¬
sunder, ist eine andre Frage, lind was heute über Kaiser und Reich, über


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/223>, abgerufen am 01.07.2024.