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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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die durch eine große Anzahl geschulter Agitatoren dauernd die untern Klassen
bearbeiten läßt; wenn diese Versammlungen auch vielfach nicht stark besucht
sind, so wird doch el" Stamm von Anhängern gewonnen und in den Stand
gesetzt, mit den vorgetragnen und oft wiederholten Gedanken weiter zu werben.

Viel größer ist aber der Einfluß des gedruckten Worts, Sehen wir von
Flugschriften, Kalendern, Zeitschriften und anderm ab, so haben schon allein
die regelmäßig erscheinende" Zeitungen für die Masse der Wähler entscheidende
Bedeutung, Daß jemand mehrere Zeitungen nebeneinander liest, ist ja Aus¬
nahme; auch die Leute, die ihre Zeitung einigermaßen sorgfältig lesen, sind
sicherlich nur eine Minderheit, Aber das Regelmäßige übt seine gründliche
Wirkung, TagauS tagein oder mindestens mehrmals in der Woche die¬
selbe Betrachtungsweise, dieselbe Beleuchtung des Stoffs, die einförmige Aus¬
wahl des Gebotneu, das ist das eigentliche Mittel, die Partei zu züchten und
die Fähigkeit, sich in eine andre Auffassung und einen andern Gedankenkreis
hineinzufinden, nach und nach gänzlich zu unterbinden. Auf die Zeitungen
läßt sich also ganz ausnehmend das Wort übertragen louMZ rszio, ojus
rsIiZio.

Deu Untergrund nun für die Stellung zur Politik sollten die Verhältnisse
und die Umgebungen bilden, in denen die Menschen ihre Anschauungen über¬
haupt gewinnen, und bis zu einem gewissen Grade ist das ja unzweifelhaft
der Fall, Aber wie schon die räumliche Verbreitung der Parteien zeigt, voll¬
zieht sich das Stellungnehmen in politischen Dingen in eigentümlicher Weise --
der städtische "Freisinn" findet sich z. B. in Baucrngegenden, deren Bewohner
im Grunde die konservativsten Leute der Welt sind. Auch das kommt zum
Teil daher, weil das gedruckte Wort der Zeitung, des Kalenders usw. durch¬
aus auch mit zu der Umgebung gehört und in der Familie und im sonstigen
Verkehr seinen Einfluß übt, Und noch immer imponiert es in weiten Kreisen
um so mehr, je weniger die besprochnen Dinge der Anschauung und dem Ver¬
ständnis zugänglich siud, lind mittelbar oder unmittelbar vermag es eine Partci-
stellnng zu erzeugen, die von der sonstigen Umgebung unabhängig ist oder
erst in manchmal bizarrer Weise mit ihr in Beziehung gesetzt ist.

So haben die Zeitungen vor allem die Wirkung, die Parteivorstellungen
zu erwecken und zu erhalten, mit dem Erfolg, daß sich die meisten Leute schon
lange für eine Partei entschieden haben, bevor sie zum erstenmal ihren Wahl¬
zettel abgeben können.

Kommen wir jetzt auf die erste Frage zurück: Was geschieht, um die
Wähler über politische Fragen aufzuklären? Man könnte sagen, dafür ist
durch die Öffentlichkeit unsers politischen Lebens gesorgt. Gut, aber wie stellt
sich das in Wirklichkeit dar? Die Verhandlungen des Reichstags -- um
mich auf die Verhältnisse des Reichs zu beschränken -- sind öffentlich. Aber
wieviel Bürger können ihnen beiwohnen? Und wie viele von denen, die es
könnten, thun es? Die Abgeordneten selber nehmen ja nicht einmal regel¬
mäßig daran Anteil, Diese Öffentlichkeit fällt also für die Gesamtheit fast


Line Ergänzung zum allgemeinen Wahlrecht

die durch eine große Anzahl geschulter Agitatoren dauernd die untern Klassen
bearbeiten läßt; wenn diese Versammlungen auch vielfach nicht stark besucht
sind, so wird doch el» Stamm von Anhängern gewonnen und in den Stand
gesetzt, mit den vorgetragnen und oft wiederholten Gedanken weiter zu werben.

Viel größer ist aber der Einfluß des gedruckten Worts, Sehen wir von
Flugschriften, Kalendern, Zeitschriften und anderm ab, so haben schon allein
die regelmäßig erscheinende» Zeitungen für die Masse der Wähler entscheidende
Bedeutung, Daß jemand mehrere Zeitungen nebeneinander liest, ist ja Aus¬
nahme; auch die Leute, die ihre Zeitung einigermaßen sorgfältig lesen, sind
sicherlich nur eine Minderheit, Aber das Regelmäßige übt seine gründliche
Wirkung, TagauS tagein oder mindestens mehrmals in der Woche die¬
selbe Betrachtungsweise, dieselbe Beleuchtung des Stoffs, die einförmige Aus¬
wahl des Gebotneu, das ist das eigentliche Mittel, die Partei zu züchten und
die Fähigkeit, sich in eine andre Auffassung und einen andern Gedankenkreis
hineinzufinden, nach und nach gänzlich zu unterbinden. Auf die Zeitungen
läßt sich also ganz ausnehmend das Wort übertragen louMZ rszio, ojus
rsIiZio.

Deu Untergrund nun für die Stellung zur Politik sollten die Verhältnisse
und die Umgebungen bilden, in denen die Menschen ihre Anschauungen über¬
haupt gewinnen, und bis zu einem gewissen Grade ist das ja unzweifelhaft
der Fall, Aber wie schon die räumliche Verbreitung der Parteien zeigt, voll¬
zieht sich das Stellungnehmen in politischen Dingen in eigentümlicher Weise —
der städtische „Freisinn" findet sich z. B. in Baucrngegenden, deren Bewohner
im Grunde die konservativsten Leute der Welt sind. Auch das kommt zum
Teil daher, weil das gedruckte Wort der Zeitung, des Kalenders usw. durch¬
aus auch mit zu der Umgebung gehört und in der Familie und im sonstigen
Verkehr seinen Einfluß übt, Und noch immer imponiert es in weiten Kreisen
um so mehr, je weniger die besprochnen Dinge der Anschauung und dem Ver¬
ständnis zugänglich siud, lind mittelbar oder unmittelbar vermag es eine Partci-
stellnng zu erzeugen, die von der sonstigen Umgebung unabhängig ist oder
erst in manchmal bizarrer Weise mit ihr in Beziehung gesetzt ist.

So haben die Zeitungen vor allem die Wirkung, die Parteivorstellungen
zu erwecken und zu erhalten, mit dem Erfolg, daß sich die meisten Leute schon
lange für eine Partei entschieden haben, bevor sie zum erstenmal ihren Wahl¬
zettel abgeben können.

Kommen wir jetzt auf die erste Frage zurück: Was geschieht, um die
Wähler über politische Fragen aufzuklären? Man könnte sagen, dafür ist
durch die Öffentlichkeit unsers politischen Lebens gesorgt. Gut, aber wie stellt
sich das in Wirklichkeit dar? Die Verhandlungen des Reichstags — um
mich auf die Verhältnisse des Reichs zu beschränken — sind öffentlich. Aber
wieviel Bürger können ihnen beiwohnen? Und wie viele von denen, die es
könnten, thun es? Die Abgeordneten selber nehmen ja nicht einmal regel¬
mäßig daran Anteil, Diese Öffentlichkeit fällt also für die Gesamtheit fast


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/222>, abgerufen am 22.07.2024.