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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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Dia Handclst'olitik im Jahre i^^l

weil "Malthus Recht hat"? Ist es wirklich so ganz unverständig, in der so
verschiednen Volksdichte des so gut wie ganz aufgeteilten Erdbodens und der
noch verschiednern Verteilung der Nahrungsmittel- und Rohstoffvorräte die
"och zu erschließenden Quellen eingerechnet das zwingendste Argument für
den Freihandel zu scheu?

Kein Mensch, der ernstlich nachdenkt, wird das Wahre in dem Wagner-
Oldenbergschen Hinweis auf die sehr eruste Bedeutung der Erstarkung eigner
Industrien, sogar Expvrtindnstrien in einer Reihe von Ländern, die für uns
und das übrige Westeuropa noch ein lohnender Ansfuhrmarkt sind, verkennen,
oder die Gefahr, die in dem weitern Überhaudiiehineli der Absperrungspolitik
in diesen Ländern für unsern Export siegt, unterschützen. Wer die Handels-
tnmmerberichte seit zwanzig Jahren, auch die seit Abschluß der bestehenden
Handelsverträge erschienenen, in die Hand nimmt, sieht, daß unsre Exporteure
schou lauge uicht blind dafür gewesen sind, und daß sie schon lange den immer
schwerer werdenden Konkurrenzkampf auf den Auslandsmärkten am eignen
Leibe empfunden haben. Trotzdem ist unser Anteil an dem Weltgeschäft ganz
riesig gewachsen, und der Reichtum der Nation in früher nicht erlebter Weise
dadurch vermehrt worden, Und ganz entschieden nicht zum Schaden der arbei¬
tenden Klassen, zum Schaden einer erwünschten Einkommensverteilung. Es
wäre freilich ein ungerechtfertigter Optimismus, deshalb behaupten zu wollen,
daß das nicht anch einmal anders werden könnte. Wir sind ihm in den Be¬
richten der praktischen Geschäftsleute so gut wie nie begegnet. Wenn die Frei
handelsdoktrinüre ihm huldigen, so zeiht sie Wagner mit Recht des Irrtums.
Aber unsre Kaufleute und Industriellen haben doch auch Recht, wegen der
in der Zukunft liegenden dunkeln Möglichkeiten nicht heute schon die Hoffnung
aufzugeben, daß sie auch noch weiter die wachsende Schwierigkeit überwinden
können, wie sie sie bisher überwunden haben. Die greifbaren Thatsachen der
Vergangenheit und der Gegenwart haben doch auch ihre Bedeutung gegenüber
den Möglichkeiten, ja den Wahrscheinlichkeiten soweit davon schon geredet
werden kann -- einer mehr oder weniger fernen Zukunft, Unsre bisherige Ent
Wicklung zum Industriestaat hat sich denn doch nicht so schlecht bewährt, daß
man sie ohne Beweis der Notwendigkeit schon jetzt kühnen und zurückschraube"
müßte, wen" auch auf Kosten der Volksvermehrung. Wir haben einen indu¬
striellen Aufschwung erlebt, so stark und vor allem so lang andauernd wie
noch nie. Wir haben es erlebt, daß, obgleich Malthus Recht hat, und Deutsch¬
lands Volksdichtigkeit nicht nur Pessimisten besorgt macht, der Glasgower Tille
auch Recht hatte, wenn er für das Deutsche Reich vor etwa einem Jahre für
die nächste Zukunft die Parole ausgab: Mehr Deutsche! - statt Hemmung
der Volksvermehrung.

Vergleicht mau damit die Entwicklung der Landwirtschaft, so muß einem
trotz aller Vorliebe für die Gerünmigkeit und Behäbigkeit des Landlebens der
Zweifel an ihrer gegenwärtigen Befähigung, den Bevölkerungszuwachs besser
zu versorgen als die Industrie, verziehen werden. Wagner selbst freut sich


Dia Handclst'olitik im Jahre i^^l

weil „Malthus Recht hat"? Ist es wirklich so ganz unverständig, in der so
verschiednen Volksdichte des so gut wie ganz aufgeteilten Erdbodens und der
noch verschiednern Verteilung der Nahrungsmittel- und Rohstoffvorräte die
»och zu erschließenden Quellen eingerechnet das zwingendste Argument für
den Freihandel zu scheu?

Kein Mensch, der ernstlich nachdenkt, wird das Wahre in dem Wagner-
Oldenbergschen Hinweis auf die sehr eruste Bedeutung der Erstarkung eigner
Industrien, sogar Expvrtindnstrien in einer Reihe von Ländern, die für uns
und das übrige Westeuropa noch ein lohnender Ansfuhrmarkt sind, verkennen,
oder die Gefahr, die in dem weitern Überhaudiiehineli der Absperrungspolitik
in diesen Ländern für unsern Export siegt, unterschützen. Wer die Handels-
tnmmerberichte seit zwanzig Jahren, auch die seit Abschluß der bestehenden
Handelsverträge erschienenen, in die Hand nimmt, sieht, daß unsre Exporteure
schou lauge uicht blind dafür gewesen sind, und daß sie schon lange den immer
schwerer werdenden Konkurrenzkampf auf den Auslandsmärkten am eignen
Leibe empfunden haben. Trotzdem ist unser Anteil an dem Weltgeschäft ganz
riesig gewachsen, und der Reichtum der Nation in früher nicht erlebter Weise
dadurch vermehrt worden, Und ganz entschieden nicht zum Schaden der arbei¬
tenden Klassen, zum Schaden einer erwünschten Einkommensverteilung. Es
wäre freilich ein ungerechtfertigter Optimismus, deshalb behaupten zu wollen,
daß das nicht anch einmal anders werden könnte. Wir sind ihm in den Be¬
richten der praktischen Geschäftsleute so gut wie nie begegnet. Wenn die Frei
handelsdoktrinüre ihm huldigen, so zeiht sie Wagner mit Recht des Irrtums.
Aber unsre Kaufleute und Industriellen haben doch auch Recht, wegen der
in der Zukunft liegenden dunkeln Möglichkeiten nicht heute schon die Hoffnung
aufzugeben, daß sie auch noch weiter die wachsende Schwierigkeit überwinden
können, wie sie sie bisher überwunden haben. Die greifbaren Thatsachen der
Vergangenheit und der Gegenwart haben doch auch ihre Bedeutung gegenüber
den Möglichkeiten, ja den Wahrscheinlichkeiten soweit davon schon geredet
werden kann — einer mehr oder weniger fernen Zukunft, Unsre bisherige Ent
Wicklung zum Industriestaat hat sich denn doch nicht so schlecht bewährt, daß
man sie ohne Beweis der Notwendigkeit schon jetzt kühnen und zurückschraube»
müßte, wen» auch auf Kosten der Volksvermehrung. Wir haben einen indu¬
striellen Aufschwung erlebt, so stark und vor allem so lang andauernd wie
noch nie. Wir haben es erlebt, daß, obgleich Malthus Recht hat, und Deutsch¬
lands Volksdichtigkeit nicht nur Pessimisten besorgt macht, der Glasgower Tille
auch Recht hatte, wenn er für das Deutsche Reich vor etwa einem Jahre für
die nächste Zukunft die Parole ausgab: Mehr Deutsche! - statt Hemmung
der Volksvermehrung.

Vergleicht mau damit die Entwicklung der Landwirtschaft, so muß einem
trotz aller Vorliebe für die Gerünmigkeit und Behäbigkeit des Landlebens der
Zweifel an ihrer gegenwärtigen Befähigung, den Bevölkerungszuwachs besser
zu versorgen als die Industrie, verziehen werden. Wagner selbst freut sich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/218>, abgerufen am 01.07.2024.