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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Ihren Ferdinand würde Irma wohl auch nicht genommen haben, meine liebe
Frau Pastor, sagte Frau Emmerich, die die Gabe hatte, den Leuten mit freund¬
licher Dreistigkeit Unangenehmes zu sagen.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Schweigen ist Gold.

Nie, sollte man meinen, wäre das Sprichwort:
Reden ist Silber, Schweigen ist Gold empfehlens- und beherzigenswerter gewesen
als heutzutage. Erinnert es nicht jeden von nus, auch die Volksvertreter und die
Publizisten, deren Beruf rastlose, wie der sprudelnde Quell unaufhaltsam und ununter¬
brochen strömende Beredsamkeit ist, in bescheidner und gewinnender Form an die That¬
sache, daß unter Umständen Schweigen -- borrivilö giern -- das tingere, geratnerc,
ja geradezu gebotne sein kann? Man mochte sogar sagen, daß es in diesem Sinne
inmitten der chronischen Orgie von Redefreiheit und Redseligkeit, die wir feiern,
und unter deren Zeichen unsre Zeit zu stehn scheint, das rechte, dringend nötige
Korrektiv ist. Nicht um wenigsten im öffentlichen Leben, denn wenn auch der
Staatsmann die goldne Hälfte des Sprichworts zu würdigen versteht, der Staats¬
bürger, namentlich wenn er sich mit Gesinnungsgenossen eine besonders volksbeglückende
Aufgabe gestellt hat und der Regierung die Pflicht, für die Würde und moralische
Hebung der Nation einzustehn, abzunehmen entschlossen ist, hält es mit dem Silber,
dem durch keinerlei Rücksicht zu bäumenden, ans breitester Bahn dahineilenden
Redestrom.

Schweigen ist Gold. Das erinnert uns, wenn wir bei den auswärtigen Be¬
ziehungen des deutschen Volks, von denen in den letzten Tagen soviel die Rede ge¬
wesen ist, für einen Augenblick stehn bleiben, an zweierlei, das recht eigentlich in
Bezug auf auswärtige Politik das Alpha und das Omega der Weisheit eines Volks
und das Fnzit der Erfahrungen seiner Staatsmänner zu sein bestimmt ist: die doppelte
Thatsache nämlich, daß es erstens in der Politik überaus interessante und ver¬
führerische Gebiete giebt, über die auch der bestinformierte und begabteste Staats¬
mann nicht sprechen kann, ohne schon allein dadurch, daß er sie zur Sprache bringt,
dem Lande und den damit Verbündeten auswärtigen Interessen zu schaden, und daß
es zweitens, anch abgesehen von diesen überhaupt nicht zu berührenden Gebieten,
eine gewisse Anzahl von Problemen der auswärtigen Politik giebt, über die unter
Hunderttausenden mir einer in maßgebender Weise zu urteilen befähigt ist, weil
er allein über die einschlagenden Verhältnisse umfassende und verläßliche In¬
formation hat.

Man sollte glauben, das verstünde sich von selbst, und man werde höchstens
etwa in Unterprima Gelegenheit haben, solche Gemeinplätze an den Mann zu
bringen.

Aber nein! Die bescheidne Weisheit, die sich um solcher primitiven Er¬
wägungen willen irgend welche Beschränkungen aufzuerlegen geneigt wäre, gehört
nicht zu dem Vademekum unsrer Publizisten und Parleivertreter. Unter dem Vor-
wande, daß die Tage der Kabinettspolitik vorüber seien, giebt es für viele von
ihnen im Staatsleben kein verschleiertes Bild, kein moll ins tÄNAsrö mehr. Der
Schleier muß herunter, ihre Hand wollen sie überall haben; am besten, so denken


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Ihren Ferdinand würde Irma wohl auch nicht genommen haben, meine liebe
Frau Pastor, sagte Frau Emmerich, die die Gabe hatte, den Leuten mit freund¬
licher Dreistigkeit Unangenehmes zu sagen.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Schweigen ist Gold.

Nie, sollte man meinen, wäre das Sprichwort:
Reden ist Silber, Schweigen ist Gold empfehlens- und beherzigenswerter gewesen
als heutzutage. Erinnert es nicht jeden von nus, auch die Volksvertreter und die
Publizisten, deren Beruf rastlose, wie der sprudelnde Quell unaufhaltsam und ununter¬
brochen strömende Beredsamkeit ist, in bescheidner und gewinnender Form an die That¬
sache, daß unter Umständen Schweigen — borrivilö giern — das tingere, geratnerc,
ja geradezu gebotne sein kann? Man mochte sogar sagen, daß es in diesem Sinne
inmitten der chronischen Orgie von Redefreiheit und Redseligkeit, die wir feiern,
und unter deren Zeichen unsre Zeit zu stehn scheint, das rechte, dringend nötige
Korrektiv ist. Nicht um wenigsten im öffentlichen Leben, denn wenn auch der
Staatsmann die goldne Hälfte des Sprichworts zu würdigen versteht, der Staats¬
bürger, namentlich wenn er sich mit Gesinnungsgenossen eine besonders volksbeglückende
Aufgabe gestellt hat und der Regierung die Pflicht, für die Würde und moralische
Hebung der Nation einzustehn, abzunehmen entschlossen ist, hält es mit dem Silber,
dem durch keinerlei Rücksicht zu bäumenden, ans breitester Bahn dahineilenden
Redestrom.

Schweigen ist Gold. Das erinnert uns, wenn wir bei den auswärtigen Be¬
ziehungen des deutschen Volks, von denen in den letzten Tagen soviel die Rede ge¬
wesen ist, für einen Augenblick stehn bleiben, an zweierlei, das recht eigentlich in
Bezug auf auswärtige Politik das Alpha und das Omega der Weisheit eines Volks
und das Fnzit der Erfahrungen seiner Staatsmänner zu sein bestimmt ist: die doppelte
Thatsache nämlich, daß es erstens in der Politik überaus interessante und ver¬
führerische Gebiete giebt, über die auch der bestinformierte und begabteste Staats¬
mann nicht sprechen kann, ohne schon allein dadurch, daß er sie zur Sprache bringt,
dem Lande und den damit Verbündeten auswärtigen Interessen zu schaden, und daß
es zweitens, anch abgesehen von diesen überhaupt nicht zu berührenden Gebieten,
eine gewisse Anzahl von Problemen der auswärtigen Politik giebt, über die unter
Hunderttausenden mir einer in maßgebender Weise zu urteilen befähigt ist, weil
er allein über die einschlagenden Verhältnisse umfassende und verläßliche In¬
formation hat.

Man sollte glauben, das verstünde sich von selbst, und man werde höchstens
etwa in Unterprima Gelegenheit haben, solche Gemeinplätze an den Mann zu
bringen.

Aber nein! Die bescheidne Weisheit, die sich um solcher primitiven Er¬
wägungen willen irgend welche Beschränkungen aufzuerlegen geneigt wäre, gehört
nicht zu dem Vademekum unsrer Publizisten und Parleivertreter. Unter dem Vor-
wande, daß die Tage der Kabinettspolitik vorüber seien, giebt es für viele von
ihnen im Staatsleben kein verschleiertes Bild, kein moll ins tÄNAsrö mehr. Der
Schleier muß herunter, ihre Hand wollen sie überall haben; am besten, so denken


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[0104] Maßgebliches und Unmaßgebliches Ihren Ferdinand würde Irma wohl auch nicht genommen haben, meine liebe Frau Pastor, sagte Frau Emmerich, die die Gabe hatte, den Leuten mit freund¬ licher Dreistigkeit Unangenehmes zu sagen. Maßgebliches und Unmaßgebliches Schweigen ist Gold. Nie, sollte man meinen, wäre das Sprichwort: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold empfehlens- und beherzigenswerter gewesen als heutzutage. Erinnert es nicht jeden von nus, auch die Volksvertreter und die Publizisten, deren Beruf rastlose, wie der sprudelnde Quell unaufhaltsam und ununter¬ brochen strömende Beredsamkeit ist, in bescheidner und gewinnender Form an die That¬ sache, daß unter Umständen Schweigen — borrivilö giern — das tingere, geratnerc, ja geradezu gebotne sein kann? Man mochte sogar sagen, daß es in diesem Sinne inmitten der chronischen Orgie von Redefreiheit und Redseligkeit, die wir feiern, und unter deren Zeichen unsre Zeit zu stehn scheint, das rechte, dringend nötige Korrektiv ist. Nicht um wenigsten im öffentlichen Leben, denn wenn auch der Staatsmann die goldne Hälfte des Sprichworts zu würdigen versteht, der Staats¬ bürger, namentlich wenn er sich mit Gesinnungsgenossen eine besonders volksbeglückende Aufgabe gestellt hat und der Regierung die Pflicht, für die Würde und moralische Hebung der Nation einzustehn, abzunehmen entschlossen ist, hält es mit dem Silber, dem durch keinerlei Rücksicht zu bäumenden, ans breitester Bahn dahineilenden Redestrom. Schweigen ist Gold. Das erinnert uns, wenn wir bei den auswärtigen Be¬ ziehungen des deutschen Volks, von denen in den letzten Tagen soviel die Rede ge¬ wesen ist, für einen Augenblick stehn bleiben, an zweierlei, das recht eigentlich in Bezug auf auswärtige Politik das Alpha und das Omega der Weisheit eines Volks und das Fnzit der Erfahrungen seiner Staatsmänner zu sein bestimmt ist: die doppelte Thatsache nämlich, daß es erstens in der Politik überaus interessante und ver¬ führerische Gebiete giebt, über die auch der bestinformierte und begabteste Staats¬ mann nicht sprechen kann, ohne schon allein dadurch, daß er sie zur Sprache bringt, dem Lande und den damit Verbündeten auswärtigen Interessen zu schaden, und daß es zweitens, anch abgesehen von diesen überhaupt nicht zu berührenden Gebieten, eine gewisse Anzahl von Problemen der auswärtigen Politik giebt, über die unter Hunderttausenden mir einer in maßgebender Weise zu urteilen befähigt ist, weil er allein über die einschlagenden Verhältnisse umfassende und verläßliche In¬ formation hat. Man sollte glauben, das verstünde sich von selbst, und man werde höchstens etwa in Unterprima Gelegenheit haben, solche Gemeinplätze an den Mann zu bringen. Aber nein! Die bescheidne Weisheit, die sich um solcher primitiven Er¬ wägungen willen irgend welche Beschränkungen aufzuerlegen geneigt wäre, gehört nicht zu dem Vademekum unsrer Publizisten und Parleivertreter. Unter dem Vor- wande, daß die Tage der Kabinettspolitik vorüber seien, giebt es für viele von ihnen im Staatsleben kein verschleiertes Bild, kein moll ins tÄNAsrö mehr. Der Schleier muß herunter, ihre Hand wollen sie überall haben; am besten, so denken

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/104>, abgerufen am 01.07.2024.