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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Briefe eines Zurückgekehrten

Kleinstädter durch alle Stürme ein gesunder Mittelstand erhalten hat, aber
dieser Mittelstand mußte sich mit der harten Schale des Philistertums umgeben,
gewissermaßen versteinern, um unter kümmerlichen Bedingungen fortleben zu
können. Wunderbar ist, was in einigen von diesen Städten geistig geschaffen
worden ist, aber für jede große Schöpfung wurde immer gleich der Rahmen zu
klein. Den großen Eichen des deutschen Waldes wurde hier nicht die tiefe Erde
geboten, die sie brauchten, um sich ganz tief einzuwurzeln. Herrliches ist er¬
klungen, aber der Schallrcium fehlte. Daher die merkwürdige Erscheinung, daß
von manchem, was aus kleinen deutschen Städten ausgegangen ist, die Welt
mehr Vorteil hatte als alle Mitbürger zusammengenommen. Sobald es den
engen Raum überschritten hatte, wo es sich uuter der Sonne der Fürstengunst
treibhanSartig entwickelt hatte, schwang es sich in Hohen, bis zu denen die
Auffassung des zeitgenössischen Pfahlbürgertums uicht reichte. Darum neben
dem großen Stück Weltgeschichte, die das Dnseiu Goethes ausfüllt, das Satyr¬
spiel: "Goethe im Urteil seiner Stadt- und Landesgenosseu."

In einer deutschen Kulturgeschichte, die einst geschrieben werden muß,
darf das Kapitel nicht stiefmütterlich behandelt werden, worin die Wirkung
des Mangels eines großen städtischen Mittelpunkts in dem Deutschland
des achtzehnten Jahrhunderts untersucht wird. Man konnte an Einfluß
auf Gesamtdeutschland weder Berlin noch Wien mit Amsterdam und mit
Kopenhagen vergleichen. Was wäre auch bellte Dänemark ohne Kopenhagen,
das 18 Prozent der Bevölkerung von Dänemark in sich vereinigt, während
Berlin nur 5 Prozent der Bevölkerung von Preußen, 3 der Bevölkerung von
Deutschland hat? Was Wien und Berlin damals geleistet haben, wenn es
auch noch wenig ist, zeigt doch, was möglich war. Das gilt noch mehr von
den Leistungen Hamburgs, Frankfurts und Leipzigs. Aber wie wenig boten
alle diese Städte damals den aufstrebenden Geistern, wie wenig bedeuteten sie
als Schule des Lebens! Nur Lessing hat in den großen Städten des da¬
maligen Deutschlands gelebt, und nur sein Wirken ist ohne sie nicht zu denken.
Aber man erinnere sich, um voll Weimar zu schweigen, an Jean Pauls Lebe",
das in Klein- und Landstädtchen verflossen, nein versickert ist. Jean Paul
gerade hat es gewußt und ausgesprochen, daß das Genie für seinen Verkehr
nicht das Netz der Landstraßen braucht, die auf die großen Tresfplätze der
Menschen und Völker zusammenlaufen. Wohl stand Jean Paul mit der ganzen
Welt in Verbindung, aber wieviel von seiner Wirksamkeit ging in klein¬
städtischen Reibungen verloren. Ccirlyle hat als Jünger Jean Paris öfter
kräftig auf die Großstädte losgezogen, aber er hat sein Experiment mit dem
Landleben bald aufgegeben und von London den Gebrauch gemacht, den er für
seine Zwecke nötig hatte.

Die deutsche Sprache hat der Welt das Wort Philister und die deutsche
Litteratur der Weltliteratur den Kampf gegen das Philistertum gegeben. Die
französischen Romantiker und später Carlhle haben es mehr oder minder sinn¬
gemäß ihren Sprachen einverleibt. Ein Glück für uns, daß sie in Frankreich


Briefe eines Zurückgekehrten

Kleinstädter durch alle Stürme ein gesunder Mittelstand erhalten hat, aber
dieser Mittelstand mußte sich mit der harten Schale des Philistertums umgeben,
gewissermaßen versteinern, um unter kümmerlichen Bedingungen fortleben zu
können. Wunderbar ist, was in einigen von diesen Städten geistig geschaffen
worden ist, aber für jede große Schöpfung wurde immer gleich der Rahmen zu
klein. Den großen Eichen des deutschen Waldes wurde hier nicht die tiefe Erde
geboten, die sie brauchten, um sich ganz tief einzuwurzeln. Herrliches ist er¬
klungen, aber der Schallrcium fehlte. Daher die merkwürdige Erscheinung, daß
von manchem, was aus kleinen deutschen Städten ausgegangen ist, die Welt
mehr Vorteil hatte als alle Mitbürger zusammengenommen. Sobald es den
engen Raum überschritten hatte, wo es sich uuter der Sonne der Fürstengunst
treibhanSartig entwickelt hatte, schwang es sich in Hohen, bis zu denen die
Auffassung des zeitgenössischen Pfahlbürgertums uicht reichte. Darum neben
dem großen Stück Weltgeschichte, die das Dnseiu Goethes ausfüllt, das Satyr¬
spiel: „Goethe im Urteil seiner Stadt- und Landesgenosseu."

In einer deutschen Kulturgeschichte, die einst geschrieben werden muß,
darf das Kapitel nicht stiefmütterlich behandelt werden, worin die Wirkung
des Mangels eines großen städtischen Mittelpunkts in dem Deutschland
des achtzehnten Jahrhunderts untersucht wird. Man konnte an Einfluß
auf Gesamtdeutschland weder Berlin noch Wien mit Amsterdam und mit
Kopenhagen vergleichen. Was wäre auch bellte Dänemark ohne Kopenhagen,
das 18 Prozent der Bevölkerung von Dänemark in sich vereinigt, während
Berlin nur 5 Prozent der Bevölkerung von Preußen, 3 der Bevölkerung von
Deutschland hat? Was Wien und Berlin damals geleistet haben, wenn es
auch noch wenig ist, zeigt doch, was möglich war. Das gilt noch mehr von
den Leistungen Hamburgs, Frankfurts und Leipzigs. Aber wie wenig boten
alle diese Städte damals den aufstrebenden Geistern, wie wenig bedeuteten sie
als Schule des Lebens! Nur Lessing hat in den großen Städten des da¬
maligen Deutschlands gelebt, und nur sein Wirken ist ohne sie nicht zu denken.
Aber man erinnere sich, um voll Weimar zu schweigen, an Jean Pauls Lebe»,
das in Klein- und Landstädtchen verflossen, nein versickert ist. Jean Paul
gerade hat es gewußt und ausgesprochen, daß das Genie für seinen Verkehr
nicht das Netz der Landstraßen braucht, die auf die großen Tresfplätze der
Menschen und Völker zusammenlaufen. Wohl stand Jean Paul mit der ganzen
Welt in Verbindung, aber wieviel von seiner Wirksamkeit ging in klein¬
städtischen Reibungen verloren. Ccirlyle hat als Jünger Jean Paris öfter
kräftig auf die Großstädte losgezogen, aber er hat sein Experiment mit dem
Landleben bald aufgegeben und von London den Gebrauch gemacht, den er für
seine Zwecke nötig hatte.

Die deutsche Sprache hat der Welt das Wort Philister und die deutsche
Litteratur der Weltliteratur den Kampf gegen das Philistertum gegeben. Die
französischen Romantiker und später Carlhle haben es mehr oder minder sinn¬
gemäß ihren Sprachen einverleibt. Ein Glück für uns, daß sie in Frankreich


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[0098] Briefe eines Zurückgekehrten Kleinstädter durch alle Stürme ein gesunder Mittelstand erhalten hat, aber dieser Mittelstand mußte sich mit der harten Schale des Philistertums umgeben, gewissermaßen versteinern, um unter kümmerlichen Bedingungen fortleben zu können. Wunderbar ist, was in einigen von diesen Städten geistig geschaffen worden ist, aber für jede große Schöpfung wurde immer gleich der Rahmen zu klein. Den großen Eichen des deutschen Waldes wurde hier nicht die tiefe Erde geboten, die sie brauchten, um sich ganz tief einzuwurzeln. Herrliches ist er¬ klungen, aber der Schallrcium fehlte. Daher die merkwürdige Erscheinung, daß von manchem, was aus kleinen deutschen Städten ausgegangen ist, die Welt mehr Vorteil hatte als alle Mitbürger zusammengenommen. Sobald es den engen Raum überschritten hatte, wo es sich uuter der Sonne der Fürstengunst treibhanSartig entwickelt hatte, schwang es sich in Hohen, bis zu denen die Auffassung des zeitgenössischen Pfahlbürgertums uicht reichte. Darum neben dem großen Stück Weltgeschichte, die das Dnseiu Goethes ausfüllt, das Satyr¬ spiel: „Goethe im Urteil seiner Stadt- und Landesgenosseu." In einer deutschen Kulturgeschichte, die einst geschrieben werden muß, darf das Kapitel nicht stiefmütterlich behandelt werden, worin die Wirkung des Mangels eines großen städtischen Mittelpunkts in dem Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts untersucht wird. Man konnte an Einfluß auf Gesamtdeutschland weder Berlin noch Wien mit Amsterdam und mit Kopenhagen vergleichen. Was wäre auch bellte Dänemark ohne Kopenhagen, das 18 Prozent der Bevölkerung von Dänemark in sich vereinigt, während Berlin nur 5 Prozent der Bevölkerung von Preußen, 3 der Bevölkerung von Deutschland hat? Was Wien und Berlin damals geleistet haben, wenn es auch noch wenig ist, zeigt doch, was möglich war. Das gilt noch mehr von den Leistungen Hamburgs, Frankfurts und Leipzigs. Aber wie wenig boten alle diese Städte damals den aufstrebenden Geistern, wie wenig bedeuteten sie als Schule des Lebens! Nur Lessing hat in den großen Städten des da¬ maligen Deutschlands gelebt, und nur sein Wirken ist ohne sie nicht zu denken. Aber man erinnere sich, um voll Weimar zu schweigen, an Jean Pauls Lebe», das in Klein- und Landstädtchen verflossen, nein versickert ist. Jean Paul gerade hat es gewußt und ausgesprochen, daß das Genie für seinen Verkehr nicht das Netz der Landstraßen braucht, die auf die großen Tresfplätze der Menschen und Völker zusammenlaufen. Wohl stand Jean Paul mit der ganzen Welt in Verbindung, aber wieviel von seiner Wirksamkeit ging in klein¬ städtischen Reibungen verloren. Ccirlyle hat als Jünger Jean Paris öfter kräftig auf die Großstädte losgezogen, aber er hat sein Experiment mit dem Landleben bald aufgegeben und von London den Gebrauch gemacht, den er für seine Zwecke nötig hatte. Die deutsche Sprache hat der Welt das Wort Philister und die deutsche Litteratur der Weltliteratur den Kampf gegen das Philistertum gegeben. Die französischen Romantiker und später Carlhle haben es mehr oder minder sinn¬ gemäß ihren Sprachen einverleibt. Ein Glück für uns, daß sie in Frankreich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/98>, abgerufen am 26.06.2024.