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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Briefe eines zurückgekehrten

und England auch Philister entdeckten, sonst Hütte man glauben können, Deutsch¬
land allein sei damit gesegnet! Ich weiß nicht, ob Byron das Wort gebraucht
hat, aber sein Kampf gegen (Aire, engherzige Heuchelei, ist auch ein Kampf,
und ein titanischer, gegen ein Philistertum, das noch schlimmer als das von
Goethe oder Tieck bekämpfte war und ist. Man sollte einmal die Definitionen
des Philisters zusammenstellen, das würde ein interessantes Kapitel der prak¬
tischen Völkerpsychologie werden. Und die Darstellung der Beziehungen
zwischen Philister, Snob und Bourgeois würde darin einer der fesselndsten Ab¬
schnitte sein. Goethe hat uns mehrere hinterlassen außer der bekanntesten:

In das kürzeste Wort gefaßt, wäre wohl das Wesen des merkwürdigen
Geschöpfes "eng" zu nennen: engherzig, enggcistig, engselig, daher kurzsichtig,
daher geneigt, an jedes Ding und an jeden Menschen, jede Handlung einen
kleinern Maßstab anzulegen als nötig ist, daher auch ohne Wagemut und
innere Heiterkeit. Man begreift ganz gut, daß das Philistertum in dem engen
Horizont einer Kleinstadt eine ganze Bevölkerung ergriffen und ansteckend sich
über ganze Völker verbreitet hat. Und was kleine Residenzen anbelangt, so
kam da nicht bloß der Mangel eines weiten freien Thätigkeitsfeldes in einem
großen Horizont ins Spiel, sondern die falschen Götzen des Hofes, die falschen
Ideale eines äußerlich und innerlich unfreien Lebens. Wo war es doch, wo
für die vom Hof Abhängenden ganze Häuserreihen ohne Küche gebaut wurden,
weil ihre Inwohner samt allen Familienangehörigen aus der Hofküche gespeist
wurden? Gerade so lieferte das Hoftheater die Kunstgenüsse. Daß nun in
solchen Verhältnissen nur in der Kunst die Befreiung aus "Philisternetzen"
lag, besonders im Theater, wo ein höheres Leben gemeint wurde, und daß
die aufgeklärten und kunstsinnigen Kleinfürsten von der Art Karl Augusts,
Ludwigs I. von Bayern als Kunstfvrderer wahrhaft prometheisch wirken konnten
und mußten, braucht nicht auseinandergesetzt zu werden.

So wie wir die deutsche Kleinstadt in Amerika nicht haben, kennen wir
auch nicht das Philistertum, das wie in Gewächshäusern in ihr großgezogen
worden ist. Aber Philister haben wir trotzdem genug. Das Übel der Seelen-
vereugerung ergreift bei uns die Geld- und die Geschäftsleute. Der Stolz
auf die geradlinige Descendenz von irgend einem mit den frühesten Einwandrer¬
zügen des siebzehnten Jahrhunderts gekommnen Subjekt, gleichviel welchen
Wertes, Standes nud Charakters, wird lächerlicher zur Schau getragen als
der Stolz des deutschen Klein- und Beamtenadels. Der Bildimgsphilister ist
eine ungeheuer verbreitete Spezies in Amerika. Aber das schwerste Philister¬
joch legt uus die Vorstellung vom Gentleman auf, ein falsches Lebensideal,
die Naturen verflachend, verkümmernd, eine traurige Erbschaft der alternden


Briefe eines zurückgekehrten

und England auch Philister entdeckten, sonst Hütte man glauben können, Deutsch¬
land allein sei damit gesegnet! Ich weiß nicht, ob Byron das Wort gebraucht
hat, aber sein Kampf gegen (Aire, engherzige Heuchelei, ist auch ein Kampf,
und ein titanischer, gegen ein Philistertum, das noch schlimmer als das von
Goethe oder Tieck bekämpfte war und ist. Man sollte einmal die Definitionen
des Philisters zusammenstellen, das würde ein interessantes Kapitel der prak¬
tischen Völkerpsychologie werden. Und die Darstellung der Beziehungen
zwischen Philister, Snob und Bourgeois würde darin einer der fesselndsten Ab¬
schnitte sein. Goethe hat uns mehrere hinterlassen außer der bekanntesten:

In das kürzeste Wort gefaßt, wäre wohl das Wesen des merkwürdigen
Geschöpfes „eng" zu nennen: engherzig, enggcistig, engselig, daher kurzsichtig,
daher geneigt, an jedes Ding und an jeden Menschen, jede Handlung einen
kleinern Maßstab anzulegen als nötig ist, daher auch ohne Wagemut und
innere Heiterkeit. Man begreift ganz gut, daß das Philistertum in dem engen
Horizont einer Kleinstadt eine ganze Bevölkerung ergriffen und ansteckend sich
über ganze Völker verbreitet hat. Und was kleine Residenzen anbelangt, so
kam da nicht bloß der Mangel eines weiten freien Thätigkeitsfeldes in einem
großen Horizont ins Spiel, sondern die falschen Götzen des Hofes, die falschen
Ideale eines äußerlich und innerlich unfreien Lebens. Wo war es doch, wo
für die vom Hof Abhängenden ganze Häuserreihen ohne Küche gebaut wurden,
weil ihre Inwohner samt allen Familienangehörigen aus der Hofküche gespeist
wurden? Gerade so lieferte das Hoftheater die Kunstgenüsse. Daß nun in
solchen Verhältnissen nur in der Kunst die Befreiung aus „Philisternetzen"
lag, besonders im Theater, wo ein höheres Leben gemeint wurde, und daß
die aufgeklärten und kunstsinnigen Kleinfürsten von der Art Karl Augusts,
Ludwigs I. von Bayern als Kunstfvrderer wahrhaft prometheisch wirken konnten
und mußten, braucht nicht auseinandergesetzt zu werden.

So wie wir die deutsche Kleinstadt in Amerika nicht haben, kennen wir
auch nicht das Philistertum, das wie in Gewächshäusern in ihr großgezogen
worden ist. Aber Philister haben wir trotzdem genug. Das Übel der Seelen-
vereugerung ergreift bei uns die Geld- und die Geschäftsleute. Der Stolz
auf die geradlinige Descendenz von irgend einem mit den frühesten Einwandrer¬
zügen des siebzehnten Jahrhunderts gekommnen Subjekt, gleichviel welchen
Wertes, Standes nud Charakters, wird lächerlicher zur Schau getragen als
der Stolz des deutschen Klein- und Beamtenadels. Der Bildimgsphilister ist
eine ungeheuer verbreitete Spezies in Amerika. Aber das schwerste Philister¬
joch legt uus die Vorstellung vom Gentleman auf, ein falsches Lebensideal,
die Naturen verflachend, verkümmernd, eine traurige Erbschaft der alternden


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[0099] Briefe eines zurückgekehrten und England auch Philister entdeckten, sonst Hütte man glauben können, Deutsch¬ land allein sei damit gesegnet! Ich weiß nicht, ob Byron das Wort gebraucht hat, aber sein Kampf gegen (Aire, engherzige Heuchelei, ist auch ein Kampf, und ein titanischer, gegen ein Philistertum, das noch schlimmer als das von Goethe oder Tieck bekämpfte war und ist. Man sollte einmal die Definitionen des Philisters zusammenstellen, das würde ein interessantes Kapitel der prak¬ tischen Völkerpsychologie werden. Und die Darstellung der Beziehungen zwischen Philister, Snob und Bourgeois würde darin einer der fesselndsten Ab¬ schnitte sein. Goethe hat uns mehrere hinterlassen außer der bekanntesten: In das kürzeste Wort gefaßt, wäre wohl das Wesen des merkwürdigen Geschöpfes „eng" zu nennen: engherzig, enggcistig, engselig, daher kurzsichtig, daher geneigt, an jedes Ding und an jeden Menschen, jede Handlung einen kleinern Maßstab anzulegen als nötig ist, daher auch ohne Wagemut und innere Heiterkeit. Man begreift ganz gut, daß das Philistertum in dem engen Horizont einer Kleinstadt eine ganze Bevölkerung ergriffen und ansteckend sich über ganze Völker verbreitet hat. Und was kleine Residenzen anbelangt, so kam da nicht bloß der Mangel eines weiten freien Thätigkeitsfeldes in einem großen Horizont ins Spiel, sondern die falschen Götzen des Hofes, die falschen Ideale eines äußerlich und innerlich unfreien Lebens. Wo war es doch, wo für die vom Hof Abhängenden ganze Häuserreihen ohne Küche gebaut wurden, weil ihre Inwohner samt allen Familienangehörigen aus der Hofküche gespeist wurden? Gerade so lieferte das Hoftheater die Kunstgenüsse. Daß nun in solchen Verhältnissen nur in der Kunst die Befreiung aus „Philisternetzen" lag, besonders im Theater, wo ein höheres Leben gemeint wurde, und daß die aufgeklärten und kunstsinnigen Kleinfürsten von der Art Karl Augusts, Ludwigs I. von Bayern als Kunstfvrderer wahrhaft prometheisch wirken konnten und mußten, braucht nicht auseinandergesetzt zu werden. So wie wir die deutsche Kleinstadt in Amerika nicht haben, kennen wir auch nicht das Philistertum, das wie in Gewächshäusern in ihr großgezogen worden ist. Aber Philister haben wir trotzdem genug. Das Übel der Seelen- vereugerung ergreift bei uns die Geld- und die Geschäftsleute. Der Stolz auf die geradlinige Descendenz von irgend einem mit den frühesten Einwandrer¬ zügen des siebzehnten Jahrhunderts gekommnen Subjekt, gleichviel welchen Wertes, Standes nud Charakters, wird lächerlicher zur Schau getragen als der Stolz des deutschen Klein- und Beamtenadels. Der Bildimgsphilister ist eine ungeheuer verbreitete Spezies in Amerika. Aber das schwerste Philister¬ joch legt uus die Vorstellung vom Gentleman auf, ein falsches Lebensideal, die Naturen verflachend, verkümmernd, eine traurige Erbschaft der alternden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/99>, abgerufen am 26.06.2024.