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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Reformgedanken "ut Reformansätze im heutigen Italien

Universitäten, noch auf den Gymnasien, noch auf den Lyceen, nicht einmal in
der Volksschule." Und er findet den Hauptfehler "in der geringen oder gar
nicht vorhandnen Geistesfreiheit, die die "Sekten" allen lassen." Er versteht
darunter weniger die eigentlichen Geheimbünde als die Cliquen und findet
auch, daß die (römische) Kirche jetzt als "Sekte" wirkt. "Die Sekte, fährt er
fort, ist das stärkste Gift jeder sozialen Thätigkeit, sie durchdringt die Schule,
den Verein, das Parlament, die Negierung, die Zeitung, alles, und wo sie
eindringt, korrumpiert sie."

Das sind harte Anklagen, aber sie sind unter dem Eindruck des Vergleichs
zwischen Italien und England niedergeschrieben, und soweit sie begründet sind,
deuten sie auf eine verhängnisvolle Erbschaft der Vergangenheit. Zu einer Zeit,
wo Italien in absolut regierte Staaten zerfiel, zog sich das Interesse der
Gebildeten vom Staate völlig zurück. Der geistige Thätigkeitstrieb fand seine
Befriedigung in Geheimbünden (Mafsia, Camorra, Carbonari, Freimaurer) und
lokalen Cliquen, oder er wandte sich ausschließlich ästhetisch-litterarischen Inter¬
essen zu. Darauf wurde auch die ganze höhere Bildung zugeschnitten, sie
wurde also einseitig, gelehrt humanistisch, rhetorisch und formalistisch, dem
Leben der Gegenwart, den materiellen, wirtschaftlichen Interessen ganz ab¬
gewandt. Als nun mit einem Schlage der parlamentarische Einheitsstaat über
dieses politisch ungeschulte und geistig verbildete Geschlecht hereinbrach, da füllten
sich die Sitze des Parlaments, wie 1848/49 in Deutschland, fast ausschließlich
mit Vertretern der gelehrten Bildung und mit den Leitern der Geheimbünde,
damit aber auch die Ämter. Daher das von Bonghi hervorgehobne Übergewicht
der "Sekten," die alle diese Romanen so leicht berauschende Wirkung der schönen
Phrase in der schönen Sprache und die anfängliche Hilflosigkeit gegenüber den
praktischen Fragen.

So erklingt denn auch in Italien weithin der Ruf nach Reform des ge¬
samten Unterrichtswesens, denn auch hier scheint man zu glauben, wie oft
anch bei uns, daß die Schule alles vermöge. Freilich wird eine solche Reform
nicht uur durch die alten Überlieferungen erschwert, sondern auch durch den häufigen
Ministerwechsel, der einem Unterrichtsminister zur Ausarbeitung und Durchführung
weit aussehender Gesetzentwürfe kaum Zeit läßt und das von dem einen An¬
gebahnte unter dem Nachfolger vielleicht sogar wieder in Frage stellt. Am
lebhaftesten hat man sich im letzten Jahrzehnt mit der Reform der Universitäten
beschäftigt, der ältesten Lehranstalten des Landes, die in den letzten Jahr¬
hunderten des Mittelalters sein Stolz und Weltruhm waren. Sie sind nach
einer weitverbreiteten Meinung zu zahlreich (21, davon 17 königliche, 4 freie),
weil sie eben in Ober- und Mittelitalien ganz nach lokalen Bedürfnissen der
Gemeinden entstanden waren; sie haben eine theologische Fakultät niemals, die
denn auch den mittelalterlichen Hochschulen Italiens meist gefehlt hat, und von
den vier andern Fakultäten nach italienischer Einteilung, der juristisch-staats¬
wissenschaftlicher, der medizinischen, der naturwissenschaftlich-mathematischen und
der litterarisch-philosophischen, unter allen Umständen nur die juristische, da ja


Reformgedanken »ut Reformansätze im heutigen Italien

Universitäten, noch auf den Gymnasien, noch auf den Lyceen, nicht einmal in
der Volksschule." Und er findet den Hauptfehler „in der geringen oder gar
nicht vorhandnen Geistesfreiheit, die die »Sekten« allen lassen." Er versteht
darunter weniger die eigentlichen Geheimbünde als die Cliquen und findet
auch, daß die (römische) Kirche jetzt als „Sekte" wirkt. „Die Sekte, fährt er
fort, ist das stärkste Gift jeder sozialen Thätigkeit, sie durchdringt die Schule,
den Verein, das Parlament, die Negierung, die Zeitung, alles, und wo sie
eindringt, korrumpiert sie."

Das sind harte Anklagen, aber sie sind unter dem Eindruck des Vergleichs
zwischen Italien und England niedergeschrieben, und soweit sie begründet sind,
deuten sie auf eine verhängnisvolle Erbschaft der Vergangenheit. Zu einer Zeit,
wo Italien in absolut regierte Staaten zerfiel, zog sich das Interesse der
Gebildeten vom Staate völlig zurück. Der geistige Thätigkeitstrieb fand seine
Befriedigung in Geheimbünden (Mafsia, Camorra, Carbonari, Freimaurer) und
lokalen Cliquen, oder er wandte sich ausschließlich ästhetisch-litterarischen Inter¬
essen zu. Darauf wurde auch die ganze höhere Bildung zugeschnitten, sie
wurde also einseitig, gelehrt humanistisch, rhetorisch und formalistisch, dem
Leben der Gegenwart, den materiellen, wirtschaftlichen Interessen ganz ab¬
gewandt. Als nun mit einem Schlage der parlamentarische Einheitsstaat über
dieses politisch ungeschulte und geistig verbildete Geschlecht hereinbrach, da füllten
sich die Sitze des Parlaments, wie 1848/49 in Deutschland, fast ausschließlich
mit Vertretern der gelehrten Bildung und mit den Leitern der Geheimbünde,
damit aber auch die Ämter. Daher das von Bonghi hervorgehobne Übergewicht
der „Sekten," die alle diese Romanen so leicht berauschende Wirkung der schönen
Phrase in der schönen Sprache und die anfängliche Hilflosigkeit gegenüber den
praktischen Fragen.

So erklingt denn auch in Italien weithin der Ruf nach Reform des ge¬
samten Unterrichtswesens, denn auch hier scheint man zu glauben, wie oft
anch bei uns, daß die Schule alles vermöge. Freilich wird eine solche Reform
nicht uur durch die alten Überlieferungen erschwert, sondern auch durch den häufigen
Ministerwechsel, der einem Unterrichtsminister zur Ausarbeitung und Durchführung
weit aussehender Gesetzentwürfe kaum Zeit läßt und das von dem einen An¬
gebahnte unter dem Nachfolger vielleicht sogar wieder in Frage stellt. Am
lebhaftesten hat man sich im letzten Jahrzehnt mit der Reform der Universitäten
beschäftigt, der ältesten Lehranstalten des Landes, die in den letzten Jahr¬
hunderten des Mittelalters sein Stolz und Weltruhm waren. Sie sind nach
einer weitverbreiteten Meinung zu zahlreich (21, davon 17 königliche, 4 freie),
weil sie eben in Ober- und Mittelitalien ganz nach lokalen Bedürfnissen der
Gemeinden entstanden waren; sie haben eine theologische Fakultät niemals, die
denn auch den mittelalterlichen Hochschulen Italiens meist gefehlt hat, und von
den vier andern Fakultäten nach italienischer Einteilung, der juristisch-staats¬
wissenschaftlicher, der medizinischen, der naturwissenschaftlich-mathematischen und
der litterarisch-philosophischen, unter allen Umständen nur die juristische, da ja


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/664>, abgerufen am 29.06.2024.