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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Reformgedanken und Reformansätze im heutigen Italien

<ti muwo soooorso können ihre Mitglieder einschreiben lassen. Die Verwaltung
der Kasse ist autonom" sa inäipkväöntö actio 8dato ^d. h. von den oft
wechselnden Ministerien und dem Parlaments aber sie steht unter einem von-
ÄAlio ä'amministiWione, das der König ernennt, und zwar unter Heranziehung
auch von Arbeitern. Die Einschreibung sollte bei den Filialen und den Post¬
ämtern am 1. Oktober 1899 beginnen; zum ersten Präsidenten wurde ein
Mitglied des höchsten römischen Adels. Fürst Alfonso Dorici-Pamfili ernannt.
Der Unterschied von der deutschen Alters- und Juvaliditätsversicherung besteht
vor allem in dem Wegfall des Zwanges und dem Mangel eines Beitrags der
Unternehmer; immerhin sind beide Versicherungsanstalten erfreuliche Erschei¬
nungen und werden gewiß viel Gutes stiften.

Freilich, die soziale Frage werden sie für Italien nicht lösen, denn sie ist
hier wesentlich agrarischer Natur, und schwerlich werden die Zehntausende von
Tagelöhnern, Kleinpächtern und Kleinbauern, die buchstäblich von der Hand
in den Mund leben und von dem "liberalen" Staate nur die Freiheit erhalten
haben, zu hungern oder sich in harte Sklaverei zu begeben, bei allem Fleiß
und einer Genügsamkeit, von der man diesseits der Alpen gar keine Vorstellung
hat, imstande sein, auch nur 6 Lire jährlich zu ersparen. Was hier nötig
wäre, das wäre offenbar die Ausstattung der landlosen Tagelöhner mit Land
etwa in der Form der inszWilrig, und die Erlösung des gesamten Landvolks
von der furchtbaren Steuerlast. Beides kann nur eine energische und um¬
sichtige Staatsgesetzgebung leisten, aber davon ist noch kaum ein Anfang sichtbar,
denn die Selbstsucht der regierenden Signvri hat ihm bisher entgegengestanden.
Nur das Königtum wird diese Hindernisse überwältigen können, wie es in
Preußen seit 1807 der freilich noch absoluten Krone gelungen ist. In einem
schönen Worte der Thronrede von 1889 hat sich anch König Humbert zu diesem
sozialen Königtum bekannt (Ne-I dens äeM uruili lo rixonsso 1a xlorig, äst mio
rsssllo), und er hat für seine Person diese Gesinnung anch praktisch bethätigt,
aber die Verwirklichung des hohen Ideals ist seinem Nachfolger überlassen
geblieben. Ein ausgearbeitetes Neformgesetz hat soeben der Abgeordnete
Mciggiorino Ferraris vorgelegt.

Ohne die werkthätige Teilnahme der führenden Stände wird allerdings
das Problem so wenig zu lösen sein wie anderwärts. Aber gerade an dieser
Gesinnung scheint es ihnen noch sehr zu fehlen. So urteilte Ruggiero Bonghi
1889 in der Vorrede zu seinem Buche In pig-ZZio äa ^ontreswg, g. I^onära:
"Italien faßt nichts kräftig an, keine Studien ernst, keine Arbeit energisch.
Es verliert sich, nutzt sich ab in Nichtigkeiten, in Vorurteilen, in falschen aber
schwachen Anklagen, in falscher aber schwacher Prahlerei, in Kundgebungen
ohne Logik, in Lärm ohne Würde, in Aufregungen, die nicht tief gehn, in
Vereinigungen ohne Bewegung und Ideen, in Parlamenten, die mehr die
Schwächen als die Vorzüge des Landes vertreten, in heiseren politischen Ge¬
schrei, das in dem Auf und Ab weder Inhalt noch Ziel hat. Die Geister
unterwerfen sich keiner Disziplin, weder in der Gesellschaft, noch auf den


Reformgedanken und Reformansätze im heutigen Italien

<ti muwo soooorso können ihre Mitglieder einschreiben lassen. Die Verwaltung
der Kasse ist autonom» sa inäipkväöntö actio 8dato ^d. h. von den oft
wechselnden Ministerien und dem Parlaments aber sie steht unter einem von-
ÄAlio ä'amministiWione, das der König ernennt, und zwar unter Heranziehung
auch von Arbeitern. Die Einschreibung sollte bei den Filialen und den Post¬
ämtern am 1. Oktober 1899 beginnen; zum ersten Präsidenten wurde ein
Mitglied des höchsten römischen Adels. Fürst Alfonso Dorici-Pamfili ernannt.
Der Unterschied von der deutschen Alters- und Juvaliditätsversicherung besteht
vor allem in dem Wegfall des Zwanges und dem Mangel eines Beitrags der
Unternehmer; immerhin sind beide Versicherungsanstalten erfreuliche Erschei¬
nungen und werden gewiß viel Gutes stiften.

Freilich, die soziale Frage werden sie für Italien nicht lösen, denn sie ist
hier wesentlich agrarischer Natur, und schwerlich werden die Zehntausende von
Tagelöhnern, Kleinpächtern und Kleinbauern, die buchstäblich von der Hand
in den Mund leben und von dem „liberalen" Staate nur die Freiheit erhalten
haben, zu hungern oder sich in harte Sklaverei zu begeben, bei allem Fleiß
und einer Genügsamkeit, von der man diesseits der Alpen gar keine Vorstellung
hat, imstande sein, auch nur 6 Lire jährlich zu ersparen. Was hier nötig
wäre, das wäre offenbar die Ausstattung der landlosen Tagelöhner mit Land
etwa in der Form der inszWilrig, und die Erlösung des gesamten Landvolks
von der furchtbaren Steuerlast. Beides kann nur eine energische und um¬
sichtige Staatsgesetzgebung leisten, aber davon ist noch kaum ein Anfang sichtbar,
denn die Selbstsucht der regierenden Signvri hat ihm bisher entgegengestanden.
Nur das Königtum wird diese Hindernisse überwältigen können, wie es in
Preußen seit 1807 der freilich noch absoluten Krone gelungen ist. In einem
schönen Worte der Thronrede von 1889 hat sich anch König Humbert zu diesem
sozialen Königtum bekannt (Ne-I dens äeM uruili lo rixonsso 1a xlorig, äst mio
rsssllo), und er hat für seine Person diese Gesinnung anch praktisch bethätigt,
aber die Verwirklichung des hohen Ideals ist seinem Nachfolger überlassen
geblieben. Ein ausgearbeitetes Neformgesetz hat soeben der Abgeordnete
Mciggiorino Ferraris vorgelegt.

Ohne die werkthätige Teilnahme der führenden Stände wird allerdings
das Problem so wenig zu lösen sein wie anderwärts. Aber gerade an dieser
Gesinnung scheint es ihnen noch sehr zu fehlen. So urteilte Ruggiero Bonghi
1889 in der Vorrede zu seinem Buche In pig-ZZio äa ^ontreswg, g. I^onära:
„Italien faßt nichts kräftig an, keine Studien ernst, keine Arbeit energisch.
Es verliert sich, nutzt sich ab in Nichtigkeiten, in Vorurteilen, in falschen aber
schwachen Anklagen, in falscher aber schwacher Prahlerei, in Kundgebungen
ohne Logik, in Lärm ohne Würde, in Aufregungen, die nicht tief gehn, in
Vereinigungen ohne Bewegung und Ideen, in Parlamenten, die mehr die
Schwächen als die Vorzüge des Landes vertreten, in heiseren politischen Ge¬
schrei, das in dem Auf und Ab weder Inhalt noch Ziel hat. Die Geister
unterwerfen sich keiner Disziplin, weder in der Gesellschaft, noch auf den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/663>, abgerufen am 22.07.2024.