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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Religion in der Schule

sich religiöses Gefühl entzünden oder stärken kann, und manche Hindernisse,
die dem spätern Durchbruch dieses Gefühls im Wege stehn, vermag sie still
zu beseitigen. Aber rhetorische Propaganda oder gar Anleitung zu religiöser
Bethätigung liegen außerhalb ihrer Aufgaben und würden auch, wenn nicht
schon des augenblicklichen, so doch des nachhaltigen Eindrucks entbehren.
Begeisterung verfliegt, wenn sie vor einer nachfolgenden nüchternen Erwägung
nicht standhält. Wenn die Schule diese nüchterne Erwägung im Auge behält
und durch Ausweisung der Grenzen des Naturerkennens, durch Pflege des
Interesses für religiöse Phänomene und Weckung des geschichtlichen Sinnes
vorsorgt, daß ein gereifter Intellekt nicht notwendig Religion und Kirche ablehne,
so bescheidet sie sich auf ein ihrem sonstigen Betrieb konformes Gebiet und
leistet der Religion doch einen Dienst, mit dem auch die Kirche wohl zufrieden
sein könnte.

Die so streng auf ihrer Forderung nach einem kirchlichen, dogmatischen
Religionsunterricht bestehn, sollten wohl bedenken, welche Waffe sie denen in
die Hand drücken, die den Religionsunterricht als überhaupt überflüssig aus
der Schule ganz entfernen möchten. Das Interesse eines einheitlichen Lehr¬
plans duldet keine Sonderstellung des Religionsunterrichts. Ein Lehrfach,
das eben durch seinen dogmatischen Charakter dem empirischen Grundzug des
gesamten übrigen Unterrichts direkt entgegensteht und gar dem wissenschaft¬
lichen Betrieb andrer Lehrgegenstände einen gewissen Zwang auferlegt, würde die
Schule jedenfalls über kurz oder laug als Fremdkörper aus ihrem Organismus
ausstoßen. -- Ungefährdet aber wird ein geschichtlicher Religionsunterricht seine
Stellung im Lehrplan behaupten. Darunter verstehe ich eine Interesse weckende
Behandlung des Christentums in großen Zügen von seinen alttestamentlichen,
spätjüdischen und hellenistisch-römischen Voraussetzungen an bis zu seinen gegen¬
wärtigen Erscheinungsformen, bei der es weniger auf die EinPrägung be¬
stimmter Einzelkenntnisse als auf die Übung in einsichtiger Unterscheidung des
religiös-ethischen Gehalts von der sich mit den Zeitvorstellungen wandelnden
Form ankommt. Die dabei sich mannigfach bietende Gelegenheit, philosophisches
Denken in den Schülern zu wecken und sie zu selbständiger Behandlung der
Probleme des Geisteslebens anzuleiten, wird sich kein brauchbarer Lehrer
entgehn lassen. Am Schluß des ganzen Unterrichts mögen dann solche Ge¬
dankengänge noch einmal in einem gewissen Zusammenhange wiederholt werden;
nur verlange man nicht die Zwangsjacke eines kirchlichen Systems, etwa der
Augustana.

Ein solcher geschichtlicher Religionsunterricht ist keine Utopie. In Ham¬
burg, wo man uns eine dankenswerte Freiheit läßt, erteilen wir ihn schon
fast durchweg. Im übrigen wird es Sache der verschiednen Religionslehrer¬
vereinigungen sein, den Gründen, die für ihn sprechen, Geltung zu ver¬
schaffen, bestimmter und schärfer, als es bisher in der Zeitschrift für den
evangelischen Religionsunterricht geschehn ist. Daß dabei die theologischen
Kollegen vom geistlichen Amt und von der Universität wesentlich mithelfen
können, ist klar.


Religion in der Schule

sich religiöses Gefühl entzünden oder stärken kann, und manche Hindernisse,
die dem spätern Durchbruch dieses Gefühls im Wege stehn, vermag sie still
zu beseitigen. Aber rhetorische Propaganda oder gar Anleitung zu religiöser
Bethätigung liegen außerhalb ihrer Aufgaben und würden auch, wenn nicht
schon des augenblicklichen, so doch des nachhaltigen Eindrucks entbehren.
Begeisterung verfliegt, wenn sie vor einer nachfolgenden nüchternen Erwägung
nicht standhält. Wenn die Schule diese nüchterne Erwägung im Auge behält
und durch Ausweisung der Grenzen des Naturerkennens, durch Pflege des
Interesses für religiöse Phänomene und Weckung des geschichtlichen Sinnes
vorsorgt, daß ein gereifter Intellekt nicht notwendig Religion und Kirche ablehne,
so bescheidet sie sich auf ein ihrem sonstigen Betrieb konformes Gebiet und
leistet der Religion doch einen Dienst, mit dem auch die Kirche wohl zufrieden
sein könnte.

Die so streng auf ihrer Forderung nach einem kirchlichen, dogmatischen
Religionsunterricht bestehn, sollten wohl bedenken, welche Waffe sie denen in
die Hand drücken, die den Religionsunterricht als überhaupt überflüssig aus
der Schule ganz entfernen möchten. Das Interesse eines einheitlichen Lehr¬
plans duldet keine Sonderstellung des Religionsunterrichts. Ein Lehrfach,
das eben durch seinen dogmatischen Charakter dem empirischen Grundzug des
gesamten übrigen Unterrichts direkt entgegensteht und gar dem wissenschaft¬
lichen Betrieb andrer Lehrgegenstände einen gewissen Zwang auferlegt, würde die
Schule jedenfalls über kurz oder laug als Fremdkörper aus ihrem Organismus
ausstoßen. — Ungefährdet aber wird ein geschichtlicher Religionsunterricht seine
Stellung im Lehrplan behaupten. Darunter verstehe ich eine Interesse weckende
Behandlung des Christentums in großen Zügen von seinen alttestamentlichen,
spätjüdischen und hellenistisch-römischen Voraussetzungen an bis zu seinen gegen¬
wärtigen Erscheinungsformen, bei der es weniger auf die EinPrägung be¬
stimmter Einzelkenntnisse als auf die Übung in einsichtiger Unterscheidung des
religiös-ethischen Gehalts von der sich mit den Zeitvorstellungen wandelnden
Form ankommt. Die dabei sich mannigfach bietende Gelegenheit, philosophisches
Denken in den Schülern zu wecken und sie zu selbständiger Behandlung der
Probleme des Geisteslebens anzuleiten, wird sich kein brauchbarer Lehrer
entgehn lassen. Am Schluß des ganzen Unterrichts mögen dann solche Ge¬
dankengänge noch einmal in einem gewissen Zusammenhange wiederholt werden;
nur verlange man nicht die Zwangsjacke eines kirchlichen Systems, etwa der
Augustana.

Ein solcher geschichtlicher Religionsunterricht ist keine Utopie. In Ham¬
burg, wo man uns eine dankenswerte Freiheit läßt, erteilen wir ihn schon
fast durchweg. Im übrigen wird es Sache der verschiednen Religionslehrer¬
vereinigungen sein, den Gründen, die für ihn sprechen, Geltung zu ver¬
schaffen, bestimmter und schärfer, als es bisher in der Zeitschrift für den
evangelischen Religionsunterricht geschehn ist. Daß dabei die theologischen
Kollegen vom geistlichen Amt und von der Universität wesentlich mithelfen
können, ist klar.


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[0618] Religion in der Schule sich religiöses Gefühl entzünden oder stärken kann, und manche Hindernisse, die dem spätern Durchbruch dieses Gefühls im Wege stehn, vermag sie still zu beseitigen. Aber rhetorische Propaganda oder gar Anleitung zu religiöser Bethätigung liegen außerhalb ihrer Aufgaben und würden auch, wenn nicht schon des augenblicklichen, so doch des nachhaltigen Eindrucks entbehren. Begeisterung verfliegt, wenn sie vor einer nachfolgenden nüchternen Erwägung nicht standhält. Wenn die Schule diese nüchterne Erwägung im Auge behält und durch Ausweisung der Grenzen des Naturerkennens, durch Pflege des Interesses für religiöse Phänomene und Weckung des geschichtlichen Sinnes vorsorgt, daß ein gereifter Intellekt nicht notwendig Religion und Kirche ablehne, so bescheidet sie sich auf ein ihrem sonstigen Betrieb konformes Gebiet und leistet der Religion doch einen Dienst, mit dem auch die Kirche wohl zufrieden sein könnte. Die so streng auf ihrer Forderung nach einem kirchlichen, dogmatischen Religionsunterricht bestehn, sollten wohl bedenken, welche Waffe sie denen in die Hand drücken, die den Religionsunterricht als überhaupt überflüssig aus der Schule ganz entfernen möchten. Das Interesse eines einheitlichen Lehr¬ plans duldet keine Sonderstellung des Religionsunterrichts. Ein Lehrfach, das eben durch seinen dogmatischen Charakter dem empirischen Grundzug des gesamten übrigen Unterrichts direkt entgegensteht und gar dem wissenschaft¬ lichen Betrieb andrer Lehrgegenstände einen gewissen Zwang auferlegt, würde die Schule jedenfalls über kurz oder laug als Fremdkörper aus ihrem Organismus ausstoßen. — Ungefährdet aber wird ein geschichtlicher Religionsunterricht seine Stellung im Lehrplan behaupten. Darunter verstehe ich eine Interesse weckende Behandlung des Christentums in großen Zügen von seinen alttestamentlichen, spätjüdischen und hellenistisch-römischen Voraussetzungen an bis zu seinen gegen¬ wärtigen Erscheinungsformen, bei der es weniger auf die EinPrägung be¬ stimmter Einzelkenntnisse als auf die Übung in einsichtiger Unterscheidung des religiös-ethischen Gehalts von der sich mit den Zeitvorstellungen wandelnden Form ankommt. Die dabei sich mannigfach bietende Gelegenheit, philosophisches Denken in den Schülern zu wecken und sie zu selbständiger Behandlung der Probleme des Geisteslebens anzuleiten, wird sich kein brauchbarer Lehrer entgehn lassen. Am Schluß des ganzen Unterrichts mögen dann solche Ge¬ dankengänge noch einmal in einem gewissen Zusammenhange wiederholt werden; nur verlange man nicht die Zwangsjacke eines kirchlichen Systems, etwa der Augustana. Ein solcher geschichtlicher Religionsunterricht ist keine Utopie. In Ham¬ burg, wo man uns eine dankenswerte Freiheit läßt, erteilen wir ihn schon fast durchweg. Im übrigen wird es Sache der verschiednen Religionslehrer¬ vereinigungen sein, den Gründen, die für ihn sprechen, Geltung zu ver¬ schaffen, bestimmter und schärfer, als es bisher in der Zeitschrift für den evangelischen Religionsunterricht geschehn ist. Daß dabei die theologischen Kollegen vom geistlichen Amt und von der Universität wesentlich mithelfen können, ist klar.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/618>, abgerufen am 28.09.2024.