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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Reformgedanken und Reformansätze im heutigen Italien

auf lange hinaus verdarb. Denn wirtschaftlich beherrschen sie Tunis im
Gründe noch heute. In Tunesien lebten 1899 nach französischen Angaben
neben anderthalb Millionen Eingebogen und 60000 Juden 10000 (italienische)
Malteser, 40000 Italiener (nach italienischer Behauptung sogar 70000 bis
80000) und 2000 sonstige Europäer, aber nur 15000 bis 16000 Franzosen,
und diese sind zum allergrößten Teile Beamte, nicht seßhafte Kolonisten.
Allerdings besitzen französische Grundeigentümer 46000 Hektare, italienische
nur 40000 Hektare; aber während auf den französischen Gütern meist nur
der Verwalter und einige Aufseher Franzosen sind, der Herr selbst meist in
Frankreich lebt, bewirtschaften die Italiener, namentlich Sizilianer, ihren Grund
und Boden selbst, oder sie arbeiten auf den französischen Gütern, machen sich
allmählich selbständig und kaufen sich an. So entsteht mit zunehmender
Schnelligkeit in Tunesien eine italienische Bevölkerungsschicht, die, da sie eine
sehr hohe Geburtsziffer (47 auf 1000) hat, und die Einwandrung namentlich
aus Sizilien fortdauert, nach französischer Berechnung binnen zehn Jahren auf
mehr als 100000 Köpfe anwachsen wird, während die Entstehung einer neu¬
französischen Bevölkerung ausgeschlossen zu sein scheint.

Über den Atlantischen Ozean richtet sich die italienische Auswandrung von
Genua und Neapel aus besonders nach dem spanischen und dem portugiesischen
Südamerika, nach den La Plataländern und Südbrasilien. Italienische Ansiedler
haben dort neben Deutschen die schwere Kulturarbeit übernommen und dringen
Schritt für Schritt in die weiten Ebenen und die Urwälder ein. In den An¬
fängen lagen die einzelnen Niederlassungen weit voneinander entfernt, da ritten
sogar die Priester, um sie geistlich zu versorgen, die heiligen Geräte umgehängt,
mit dem scharfgeladnen Revolver am Sattel zum Schutz gegen Räuber und
Raubtiere durch die Einöden. Jetzt leben in Rio Grande do Sui unter kaum
einer Million von Einwohnern 160000 Italiener, die meisten (140000) in
geschlossenen Niederlassungen als Bauern, die andern als Gewerbtreibeude,
Kaufleute u. tgi. init einem Gesamtvermögen von 85 Millionen Lire. Noch
stärker ist die italienische Besiedlung in Argentinien, besonders in der Provinz
Santa Fe am Parana. Diese zählte 1897 unter kaum 400000 Menschen
über ein Viertel, nämlich 106000 Italiener in etwa 400 Ansiedlungen auf
4 Millionen Hektaren (von 13152000 Hektaren überhaupt). Sie haben eine
starke wirtschaftliche Stütze in der Lanos. ä'ItAÜÄ in Buenos Ayres und gelten
im Mutterland als "unsre meist bevölkerte und reichste Kolonie," deren
energische Förderung viel wichtiger und verdienstlicher sei als die der "ver¬
fluchten Kolonie" lMaZuraw ooloma) Eritrea am Roten Meere, eines unglück¬
lichen und schlecht vorbereiteten Unternehmens.

Denn eins zeichnet diese Italiener, die doch auch aus den niedern Schichten
des Volks, aus Landarbeitern und kleinen Bauern namentlich Oberitaliens
hervorgegangen sind und ihre Verwandten und Freunde in immer stärkerer
Zahl hinüberzieht?, ihnen womöglich das Reisegeld schicken, auch von einer
rasseverwandten, obendrein wie sie selbst katholischen Bevölkerung umgeben
sind, vor dem national charakterlosen Wesen so vieler Deutschamerikaner in


Reformgedanken und Reformansätze im heutigen Italien

auf lange hinaus verdarb. Denn wirtschaftlich beherrschen sie Tunis im
Gründe noch heute. In Tunesien lebten 1899 nach französischen Angaben
neben anderthalb Millionen Eingebogen und 60000 Juden 10000 (italienische)
Malteser, 40000 Italiener (nach italienischer Behauptung sogar 70000 bis
80000) und 2000 sonstige Europäer, aber nur 15000 bis 16000 Franzosen,
und diese sind zum allergrößten Teile Beamte, nicht seßhafte Kolonisten.
Allerdings besitzen französische Grundeigentümer 46000 Hektare, italienische
nur 40000 Hektare; aber während auf den französischen Gütern meist nur
der Verwalter und einige Aufseher Franzosen sind, der Herr selbst meist in
Frankreich lebt, bewirtschaften die Italiener, namentlich Sizilianer, ihren Grund
und Boden selbst, oder sie arbeiten auf den französischen Gütern, machen sich
allmählich selbständig und kaufen sich an. So entsteht mit zunehmender
Schnelligkeit in Tunesien eine italienische Bevölkerungsschicht, die, da sie eine
sehr hohe Geburtsziffer (47 auf 1000) hat, und die Einwandrung namentlich
aus Sizilien fortdauert, nach französischer Berechnung binnen zehn Jahren auf
mehr als 100000 Köpfe anwachsen wird, während die Entstehung einer neu¬
französischen Bevölkerung ausgeschlossen zu sein scheint.

Über den Atlantischen Ozean richtet sich die italienische Auswandrung von
Genua und Neapel aus besonders nach dem spanischen und dem portugiesischen
Südamerika, nach den La Plataländern und Südbrasilien. Italienische Ansiedler
haben dort neben Deutschen die schwere Kulturarbeit übernommen und dringen
Schritt für Schritt in die weiten Ebenen und die Urwälder ein. In den An¬
fängen lagen die einzelnen Niederlassungen weit voneinander entfernt, da ritten
sogar die Priester, um sie geistlich zu versorgen, die heiligen Geräte umgehängt,
mit dem scharfgeladnen Revolver am Sattel zum Schutz gegen Räuber und
Raubtiere durch die Einöden. Jetzt leben in Rio Grande do Sui unter kaum
einer Million von Einwohnern 160000 Italiener, die meisten (140000) in
geschlossenen Niederlassungen als Bauern, die andern als Gewerbtreibeude,
Kaufleute u. tgi. init einem Gesamtvermögen von 85 Millionen Lire. Noch
stärker ist die italienische Besiedlung in Argentinien, besonders in der Provinz
Santa Fe am Parana. Diese zählte 1897 unter kaum 400000 Menschen
über ein Viertel, nämlich 106000 Italiener in etwa 400 Ansiedlungen auf
4 Millionen Hektaren (von 13152000 Hektaren überhaupt). Sie haben eine
starke wirtschaftliche Stütze in der Lanos. ä'ItAÜÄ in Buenos Ayres und gelten
im Mutterland als „unsre meist bevölkerte und reichste Kolonie," deren
energische Förderung viel wichtiger und verdienstlicher sei als die der „ver¬
fluchten Kolonie" lMaZuraw ooloma) Eritrea am Roten Meere, eines unglück¬
lichen und schlecht vorbereiteten Unternehmens.

Denn eins zeichnet diese Italiener, die doch auch aus den niedern Schichten
des Volks, aus Landarbeitern und kleinen Bauern namentlich Oberitaliens
hervorgegangen sind und ihre Verwandten und Freunde in immer stärkerer
Zahl hinüberzieht?, ihnen womöglich das Reisegeld schicken, auch von einer
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sind, vor dem national charakterlosen Wesen so vieler Deutschamerikaner in


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[0559] Reformgedanken und Reformansätze im heutigen Italien auf lange hinaus verdarb. Denn wirtschaftlich beherrschen sie Tunis im Gründe noch heute. In Tunesien lebten 1899 nach französischen Angaben neben anderthalb Millionen Eingebogen und 60000 Juden 10000 (italienische) Malteser, 40000 Italiener (nach italienischer Behauptung sogar 70000 bis 80000) und 2000 sonstige Europäer, aber nur 15000 bis 16000 Franzosen, und diese sind zum allergrößten Teile Beamte, nicht seßhafte Kolonisten. Allerdings besitzen französische Grundeigentümer 46000 Hektare, italienische nur 40000 Hektare; aber während auf den französischen Gütern meist nur der Verwalter und einige Aufseher Franzosen sind, der Herr selbst meist in Frankreich lebt, bewirtschaften die Italiener, namentlich Sizilianer, ihren Grund und Boden selbst, oder sie arbeiten auf den französischen Gütern, machen sich allmählich selbständig und kaufen sich an. So entsteht mit zunehmender Schnelligkeit in Tunesien eine italienische Bevölkerungsschicht, die, da sie eine sehr hohe Geburtsziffer (47 auf 1000) hat, und die Einwandrung namentlich aus Sizilien fortdauert, nach französischer Berechnung binnen zehn Jahren auf mehr als 100000 Köpfe anwachsen wird, während die Entstehung einer neu¬ französischen Bevölkerung ausgeschlossen zu sein scheint. Über den Atlantischen Ozean richtet sich die italienische Auswandrung von Genua und Neapel aus besonders nach dem spanischen und dem portugiesischen Südamerika, nach den La Plataländern und Südbrasilien. Italienische Ansiedler haben dort neben Deutschen die schwere Kulturarbeit übernommen und dringen Schritt für Schritt in die weiten Ebenen und die Urwälder ein. In den An¬ fängen lagen die einzelnen Niederlassungen weit voneinander entfernt, da ritten sogar die Priester, um sie geistlich zu versorgen, die heiligen Geräte umgehängt, mit dem scharfgeladnen Revolver am Sattel zum Schutz gegen Räuber und Raubtiere durch die Einöden. Jetzt leben in Rio Grande do Sui unter kaum einer Million von Einwohnern 160000 Italiener, die meisten (140000) in geschlossenen Niederlassungen als Bauern, die andern als Gewerbtreibeude, Kaufleute u. tgi. init einem Gesamtvermögen von 85 Millionen Lire. Noch stärker ist die italienische Besiedlung in Argentinien, besonders in der Provinz Santa Fe am Parana. Diese zählte 1897 unter kaum 400000 Menschen über ein Viertel, nämlich 106000 Italiener in etwa 400 Ansiedlungen auf 4 Millionen Hektaren (von 13152000 Hektaren überhaupt). Sie haben eine starke wirtschaftliche Stütze in der Lanos. ä'ItAÜÄ in Buenos Ayres und gelten im Mutterland als „unsre meist bevölkerte und reichste Kolonie," deren energische Förderung viel wichtiger und verdienstlicher sei als die der „ver¬ fluchten Kolonie" lMaZuraw ooloma) Eritrea am Roten Meere, eines unglück¬ lichen und schlecht vorbereiteten Unternehmens. Denn eins zeichnet diese Italiener, die doch auch aus den niedern Schichten des Volks, aus Landarbeitern und kleinen Bauern namentlich Oberitaliens hervorgegangen sind und ihre Verwandten und Freunde in immer stärkerer Zahl hinüberzieht?, ihnen womöglich das Reisegeld schicken, auch von einer rasseverwandten, obendrein wie sie selbst katholischen Bevölkerung umgeben sind, vor dem national charakterlosen Wesen so vieler Deutschamerikaner in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/559>, abgerufen am 29.06.2024.