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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Reformgedanken und Reformansätze im heutigen Italien

nur den ganzen Osten des Mittelmeers und das Schwarze Meer, sondern
unterhalten auch regelmäßige Verbindung mit Indien, China, Süd- und
Mittelamerika, Fachaufsicht über den Handel führen, wie bei uns, die
(73) Handelskammern im Lande selbst, und seit 1883 bestehn solche auch in
den wichtigsten Plätzen des Auslandes, in Paris, London, Tunis und
Alexandria, wie in Newhork, San Franzisko, Buenos Ayres, Montevideo
und Rosario ti Santa Fe in Argentinien. In andern Städten hat der Staat
die Errichtung von Handelsagenturen unterstützt.

Diese Bemühungen finden vielfach einen festen Anhalt an italienischen
Niederlassungen. Denn die Italiener haben allein von allen romanischen
Nationen eine starke Volksvermehrung und eine sehr bedeutende Auswaudrung,
die seit 1887 jährlich über 100000 Menschen dem Heimatlande entführt und
1896 mit 182265 Köpfen den höchsten Stand erreicht hat, und sie halten
im Ausland unter Fremden mit zäher Treue an ihrem Volkstum fest. Die
beiden unter der nationalen Flagge unternommnen Kolonialgründungen an
der ostafrikanischen Küste sind freilich noch nicht über die Anfänge hinaus¬
gekommen. Die (üolcmm lZritrsg. hat Italien furchtbare Opfer gekostet, ist
deshalb gründlich unpopulär und hat soeben erst gesicherte Grenzen gegen
Abessinien erlangt. An der langen Somaliküste hat Italien durch Vertrag
vom 12. August 1892 die vier Häfen Warschekh, Mogdischu, Merka und
Barawa mit ihrer Umgebung vom Sultan von Sansibar auf fünfzig Jahre
gepachtet und ihre Rechte später (1896) an die kapitalkräftige italienisch-ost¬
afrikanische Gesellschaft überlassen, aber auch hier ist noch alles im ersten
Werden.

Viel wichtiger sind zunächst die auch bedeutend ältern italienischen
Niederlassungen uuter fremder Hoheit. Im Mittelmeere gehören dazu
Malta und Tunis. Auf Malta leben unter englischer Herrschaft etwa
200000 Menschen italienischer Abkunft oder wenigstens italienischer Sprache
neben nur 1600 ortsanwesenden Engländern (die Truppen ausgenommen).
Deshalb hat bisher nicht nur in der Schule, sondern auch in der Ver¬
waltung das Italienische geherrscht. Als nun 1899 die englische Regierung
die Einführung der englischen Amtssprache binnen fünfzehn Jahren verfügte,
protestierten dagegen die dreizehn italienisch-maltesischen Mitglieder, weitaus die
Mehrheit, des LonsiMo all govsrno und lehnten alle finanziellen Regierungs¬
vorlagen ab. Auch in Italien entstand große Aufregung; indessen wiesen
doch gemäßigte Zeitungen, wie das Oiorniüö all Lieilig. in Palermo, darauf
hin, daß die italienische Schulsprache nicht bedroht sei, und die ganze Sache für
Italien nicht bedeutend genug sei, sich ihretwegen mit England zu überwerfen.
In derselben Erwägung beantwortete der Minister des Auswärtigen, Visconti-
Venosta, eine Jnterpellation im Parlament mit der Entgegnung, das sei eine
innere englische Angelegenheit, in die er sich nicht einmischen könne. Große
Hoffnungen haben die Italiener seit lange auf Tunis gesetzt, und sie haben
sie schwerlich aufgegeben trotz der französischen Okkupation im Jahre 1882,
die ihnen eine herbe Enttäuschung bereitete und ihr Verhältnis zu Frankreich


Reformgedanken und Reformansätze im heutigen Italien

nur den ganzen Osten des Mittelmeers und das Schwarze Meer, sondern
unterhalten auch regelmäßige Verbindung mit Indien, China, Süd- und
Mittelamerika, Fachaufsicht über den Handel führen, wie bei uns, die
(73) Handelskammern im Lande selbst, und seit 1883 bestehn solche auch in
den wichtigsten Plätzen des Auslandes, in Paris, London, Tunis und
Alexandria, wie in Newhork, San Franzisko, Buenos Ayres, Montevideo
und Rosario ti Santa Fe in Argentinien. In andern Städten hat der Staat
die Errichtung von Handelsagenturen unterstützt.

Diese Bemühungen finden vielfach einen festen Anhalt an italienischen
Niederlassungen. Denn die Italiener haben allein von allen romanischen
Nationen eine starke Volksvermehrung und eine sehr bedeutende Auswaudrung,
die seit 1887 jährlich über 100000 Menschen dem Heimatlande entführt und
1896 mit 182265 Köpfen den höchsten Stand erreicht hat, und sie halten
im Ausland unter Fremden mit zäher Treue an ihrem Volkstum fest. Die
beiden unter der nationalen Flagge unternommnen Kolonialgründungen an
der ostafrikanischen Küste sind freilich noch nicht über die Anfänge hinaus¬
gekommen. Die (üolcmm lZritrsg. hat Italien furchtbare Opfer gekostet, ist
deshalb gründlich unpopulär und hat soeben erst gesicherte Grenzen gegen
Abessinien erlangt. An der langen Somaliküste hat Italien durch Vertrag
vom 12. August 1892 die vier Häfen Warschekh, Mogdischu, Merka und
Barawa mit ihrer Umgebung vom Sultan von Sansibar auf fünfzig Jahre
gepachtet und ihre Rechte später (1896) an die kapitalkräftige italienisch-ost¬
afrikanische Gesellschaft überlassen, aber auch hier ist noch alles im ersten
Werden.

Viel wichtiger sind zunächst die auch bedeutend ältern italienischen
Niederlassungen uuter fremder Hoheit. Im Mittelmeere gehören dazu
Malta und Tunis. Auf Malta leben unter englischer Herrschaft etwa
200000 Menschen italienischer Abkunft oder wenigstens italienischer Sprache
neben nur 1600 ortsanwesenden Engländern (die Truppen ausgenommen).
Deshalb hat bisher nicht nur in der Schule, sondern auch in der Ver¬
waltung das Italienische geherrscht. Als nun 1899 die englische Regierung
die Einführung der englischen Amtssprache binnen fünfzehn Jahren verfügte,
protestierten dagegen die dreizehn italienisch-maltesischen Mitglieder, weitaus die
Mehrheit, des LonsiMo all govsrno und lehnten alle finanziellen Regierungs¬
vorlagen ab. Auch in Italien entstand große Aufregung; indessen wiesen
doch gemäßigte Zeitungen, wie das Oiorniüö all Lieilig. in Palermo, darauf
hin, daß die italienische Schulsprache nicht bedroht sei, und die ganze Sache für
Italien nicht bedeutend genug sei, sich ihretwegen mit England zu überwerfen.
In derselben Erwägung beantwortete der Minister des Auswärtigen, Visconti-
Venosta, eine Jnterpellation im Parlament mit der Entgegnung, das sei eine
innere englische Angelegenheit, in die er sich nicht einmischen könne. Große
Hoffnungen haben die Italiener seit lange auf Tunis gesetzt, und sie haben
sie schwerlich aufgegeben trotz der französischen Okkupation im Jahre 1882,
die ihnen eine herbe Enttäuschung bereitete und ihr Verhältnis zu Frankreich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/558>, abgerufen am 29.06.2024.