Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die russischen Hungersnöte

Staatsunterstützung für die erwachsenen und noch nicht erkrankten Leute nicht
hinreicht, so ist es nicht zu verwundern, daß manche Bauern sich das Zahn¬
fleisch verwunden, "in den Skorbut zu simulieren, in die Speiseanstalten und
Spitäler des Roten Kreuzes aufgenommen zu werden und so dem wirklichen
Skorbut und dem Hungertode zu entgehn. Die private Wohlthätigkeit regt
sich daneben, aber ihrer Organisation werden die ungeheuerlichste" Schwierig¬
keiten bereitet, ist doch jede förmliche Vereinsgründung von vornherein ver¬
boten. Wo es ihr trotzdem gelingt, sich unter dem harmlosen Namen Kruschok,
Kreis, zu organisieren, wie in Ssamara, und sie sich durch keine Chikanen ab¬
schrecken läßt, trügt sie zur Linderung des Elends viel bei. Von dem Kruschok
zu Ssamara wird erzählt: "Als er seine ersten Speiseanstalten errichtete, er¬
klärten die Behörden den Bauern, wer sich jene Speisung gefallen lasse, dem
werde die Semstwounterstützung entzogen. Später wollte der Gouverneur
durchaus den Kruschok in die Organisation des Noten Kreuzes einordnen.
Der Kruschok erklärte sich dazu bereit uuter der Bedingung, daß sein Wirkungs¬
kreis von dem des Noten Kreuzes abgesondert werde. Da wurde das Projekt
fallen gelassen, und man ließ ihn eine Zeit lang in Ruhe. Zuguterletzt, als
die Bauern den Speiseanstalten des Kruschok selbst uuter Verzicht auf die amt¬
liche Unterstützung zuliefen, wandte sich der Gouverneur schriftlich an das
Komitee des Kruschok mit dem Ansinnen: das Komitee möge die Rationen
seiner Speiseanstalten heruntersetzen, da der Unterschied zwischen diesen und
jenen des Noten Kreuzes im Volke verschiedne Gerüchte hervorrufe und den
Verdacht errege, daß sich die Beamten des Roten Kreuzes Unredlichkeiten zu
schulden kommen ließen. Der Krnschok antwortete, darauf könne er nicht ein¬
gehn, da die Rationen bereits so niedrig seien, daß ihre weitere Verminde¬
rung zur völligen Erschöpfung der Kräfte der Pfleglinge führe" würde. Das
wurde denn auch bald darauf durch die Thatsache bestätigt, daß in den Speise¬
häusern des Noten Kreuzes der Skorbut ausbrach und man sich dort genötigt
sah, die Nationen zu erhöhen."

Die Verkettung des Vauernelends mit den Staatsfinanzen weist ein be¬
sondrer Abschnitt des Buchs nach. Die Verfasser haben außer den Berichten
der Finanzminister, die veröffentlicht werden, ungedruckte amtliche Berichte und
unter andern Quellenwerken hauptsächlich das Buch über Steuerrückstände von
Brschesky benutzt, der im Auftrage des Finanzministers Witte eine Inspektions¬
reise in die Gouvernements unternommen hat, die sich durch besonders große
Stenerrückstände auszeichnen. Die Rückstände sind chronisch wie die Hungers¬
nöte und allgemeiner als diese vor der Hand noch sind, und die Ansammlung
der Rückstände vernichtet die gesetzliche Normierung der Steuern. "Der Bauer
muß stets gewärtig sein, daß neben dem Jahresbetrag der Steuern auch Rückstände
eingefordert werden, er weiß deshalb nie im voraus, wieviel er zu entrichten
haben wird. Denn die Eintreibung der Steuer und sämtlicher Rückstände in
einem Jahre ist eine Unmöglichkeit, die selbst der Jsprawnik einsieht. Wieviel
nun in jedem Jahre bezahlt werden soll, bestimmt nicht das Gesetz, sondern


Die russischen Hungersnöte

Staatsunterstützung für die erwachsenen und noch nicht erkrankten Leute nicht
hinreicht, so ist es nicht zu verwundern, daß manche Bauern sich das Zahn¬
fleisch verwunden, »in den Skorbut zu simulieren, in die Speiseanstalten und
Spitäler des Roten Kreuzes aufgenommen zu werden und so dem wirklichen
Skorbut und dem Hungertode zu entgehn. Die private Wohlthätigkeit regt
sich daneben, aber ihrer Organisation werden die ungeheuerlichste» Schwierig¬
keiten bereitet, ist doch jede förmliche Vereinsgründung von vornherein ver¬
boten. Wo es ihr trotzdem gelingt, sich unter dem harmlosen Namen Kruschok,
Kreis, zu organisieren, wie in Ssamara, und sie sich durch keine Chikanen ab¬
schrecken läßt, trügt sie zur Linderung des Elends viel bei. Von dem Kruschok
zu Ssamara wird erzählt: „Als er seine ersten Speiseanstalten errichtete, er¬
klärten die Behörden den Bauern, wer sich jene Speisung gefallen lasse, dem
werde die Semstwounterstützung entzogen. Später wollte der Gouverneur
durchaus den Kruschok in die Organisation des Noten Kreuzes einordnen.
Der Kruschok erklärte sich dazu bereit uuter der Bedingung, daß sein Wirkungs¬
kreis von dem des Noten Kreuzes abgesondert werde. Da wurde das Projekt
fallen gelassen, und man ließ ihn eine Zeit lang in Ruhe. Zuguterletzt, als
die Bauern den Speiseanstalten des Kruschok selbst uuter Verzicht auf die amt¬
liche Unterstützung zuliefen, wandte sich der Gouverneur schriftlich an das
Komitee des Kruschok mit dem Ansinnen: das Komitee möge die Rationen
seiner Speiseanstalten heruntersetzen, da der Unterschied zwischen diesen und
jenen des Noten Kreuzes im Volke verschiedne Gerüchte hervorrufe und den
Verdacht errege, daß sich die Beamten des Roten Kreuzes Unredlichkeiten zu
schulden kommen ließen. Der Krnschok antwortete, darauf könne er nicht ein¬
gehn, da die Rationen bereits so niedrig seien, daß ihre weitere Verminde¬
rung zur völligen Erschöpfung der Kräfte der Pfleglinge führe» würde. Das
wurde denn auch bald darauf durch die Thatsache bestätigt, daß in den Speise¬
häusern des Noten Kreuzes der Skorbut ausbrach und man sich dort genötigt
sah, die Nationen zu erhöhen."

Die Verkettung des Vauernelends mit den Staatsfinanzen weist ein be¬
sondrer Abschnitt des Buchs nach. Die Verfasser haben außer den Berichten
der Finanzminister, die veröffentlicht werden, ungedruckte amtliche Berichte und
unter andern Quellenwerken hauptsächlich das Buch über Steuerrückstände von
Brschesky benutzt, der im Auftrage des Finanzministers Witte eine Inspektions¬
reise in die Gouvernements unternommen hat, die sich durch besonders große
Stenerrückstände auszeichnen. Die Rückstände sind chronisch wie die Hungers¬
nöte und allgemeiner als diese vor der Hand noch sind, und die Ansammlung
der Rückstände vernichtet die gesetzliche Normierung der Steuern. „Der Bauer
muß stets gewärtig sein, daß neben dem Jahresbetrag der Steuern auch Rückstände
eingefordert werden, er weiß deshalb nie im voraus, wieviel er zu entrichten
haben wird. Denn die Eintreibung der Steuer und sämtlicher Rückstände in
einem Jahre ist eine Unmöglichkeit, die selbst der Jsprawnik einsieht. Wieviel
nun in jedem Jahre bezahlt werden soll, bestimmt nicht das Gesetz, sondern


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0549" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/291626"/>
          <fw type="header" place="top"> Die russischen Hungersnöte</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1962" prev="#ID_1961"> Staatsunterstützung für die erwachsenen und noch nicht erkrankten Leute nicht<lb/>
hinreicht, so ist es nicht zu verwundern, daß manche Bauern sich das Zahn¬<lb/>
fleisch verwunden, »in den Skorbut zu simulieren, in die Speiseanstalten und<lb/>
Spitäler des Roten Kreuzes aufgenommen zu werden und so dem wirklichen<lb/>
Skorbut und dem Hungertode zu entgehn. Die private Wohlthätigkeit regt<lb/>
sich daneben, aber ihrer Organisation werden die ungeheuerlichste» Schwierig¬<lb/>
keiten bereitet, ist doch jede förmliche Vereinsgründung von vornherein ver¬<lb/>
boten. Wo es ihr trotzdem gelingt, sich unter dem harmlosen Namen Kruschok,<lb/>
Kreis, zu organisieren, wie in Ssamara, und sie sich durch keine Chikanen ab¬<lb/>
schrecken läßt, trügt sie zur Linderung des Elends viel bei. Von dem Kruschok<lb/>
zu Ssamara wird erzählt: &#x201E;Als er seine ersten Speiseanstalten errichtete, er¬<lb/>
klärten die Behörden den Bauern, wer sich jene Speisung gefallen lasse, dem<lb/>
werde die Semstwounterstützung entzogen. Später wollte der Gouverneur<lb/>
durchaus den Kruschok in die Organisation des Noten Kreuzes einordnen.<lb/>
Der Kruschok erklärte sich dazu bereit uuter der Bedingung, daß sein Wirkungs¬<lb/>
kreis von dem des Noten Kreuzes abgesondert werde. Da wurde das Projekt<lb/>
fallen gelassen, und man ließ ihn eine Zeit lang in Ruhe. Zuguterletzt, als<lb/>
die Bauern den Speiseanstalten des Kruschok selbst uuter Verzicht auf die amt¬<lb/>
liche Unterstützung zuliefen, wandte sich der Gouverneur schriftlich an das<lb/>
Komitee des Kruschok mit dem Ansinnen: das Komitee möge die Rationen<lb/>
seiner Speiseanstalten heruntersetzen, da der Unterschied zwischen diesen und<lb/>
jenen des Noten Kreuzes im Volke verschiedne Gerüchte hervorrufe und den<lb/>
Verdacht errege, daß sich die Beamten des Roten Kreuzes Unredlichkeiten zu<lb/>
schulden kommen ließen. Der Krnschok antwortete, darauf könne er nicht ein¬<lb/>
gehn, da die Rationen bereits so niedrig seien, daß ihre weitere Verminde¬<lb/>
rung zur völligen Erschöpfung der Kräfte der Pfleglinge führe» würde. Das<lb/>
wurde denn auch bald darauf durch die Thatsache bestätigt, daß in den Speise¬<lb/>
häusern des Noten Kreuzes der Skorbut ausbrach und man sich dort genötigt<lb/>
sah, die Nationen zu erhöhen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1963" next="#ID_1964"> Die Verkettung des Vauernelends mit den Staatsfinanzen weist ein be¬<lb/>
sondrer Abschnitt des Buchs nach. Die Verfasser haben außer den Berichten<lb/>
der Finanzminister, die veröffentlicht werden, ungedruckte amtliche Berichte und<lb/>
unter andern Quellenwerken hauptsächlich das Buch über Steuerrückstände von<lb/>
Brschesky benutzt, der im Auftrage des Finanzministers Witte eine Inspektions¬<lb/>
reise in die Gouvernements unternommen hat, die sich durch besonders große<lb/>
Stenerrückstände auszeichnen. Die Rückstände sind chronisch wie die Hungers¬<lb/>
nöte und allgemeiner als diese vor der Hand noch sind, und die Ansammlung<lb/>
der Rückstände vernichtet die gesetzliche Normierung der Steuern. &#x201E;Der Bauer<lb/>
muß stets gewärtig sein, daß neben dem Jahresbetrag der Steuern auch Rückstände<lb/>
eingefordert werden, er weiß deshalb nie im voraus, wieviel er zu entrichten<lb/>
haben wird. Denn die Eintreibung der Steuer und sämtlicher Rückstände in<lb/>
einem Jahre ist eine Unmöglichkeit, die selbst der Jsprawnik einsieht. Wieviel<lb/>
nun in jedem Jahre bezahlt werden soll, bestimmt nicht das Gesetz, sondern</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0549] Die russischen Hungersnöte Staatsunterstützung für die erwachsenen und noch nicht erkrankten Leute nicht hinreicht, so ist es nicht zu verwundern, daß manche Bauern sich das Zahn¬ fleisch verwunden, »in den Skorbut zu simulieren, in die Speiseanstalten und Spitäler des Roten Kreuzes aufgenommen zu werden und so dem wirklichen Skorbut und dem Hungertode zu entgehn. Die private Wohlthätigkeit regt sich daneben, aber ihrer Organisation werden die ungeheuerlichste» Schwierig¬ keiten bereitet, ist doch jede förmliche Vereinsgründung von vornherein ver¬ boten. Wo es ihr trotzdem gelingt, sich unter dem harmlosen Namen Kruschok, Kreis, zu organisieren, wie in Ssamara, und sie sich durch keine Chikanen ab¬ schrecken läßt, trügt sie zur Linderung des Elends viel bei. Von dem Kruschok zu Ssamara wird erzählt: „Als er seine ersten Speiseanstalten errichtete, er¬ klärten die Behörden den Bauern, wer sich jene Speisung gefallen lasse, dem werde die Semstwounterstützung entzogen. Später wollte der Gouverneur durchaus den Kruschok in die Organisation des Noten Kreuzes einordnen. Der Kruschok erklärte sich dazu bereit uuter der Bedingung, daß sein Wirkungs¬ kreis von dem des Noten Kreuzes abgesondert werde. Da wurde das Projekt fallen gelassen, und man ließ ihn eine Zeit lang in Ruhe. Zuguterletzt, als die Bauern den Speiseanstalten des Kruschok selbst uuter Verzicht auf die amt¬ liche Unterstützung zuliefen, wandte sich der Gouverneur schriftlich an das Komitee des Kruschok mit dem Ansinnen: das Komitee möge die Rationen seiner Speiseanstalten heruntersetzen, da der Unterschied zwischen diesen und jenen des Noten Kreuzes im Volke verschiedne Gerüchte hervorrufe und den Verdacht errege, daß sich die Beamten des Roten Kreuzes Unredlichkeiten zu schulden kommen ließen. Der Krnschok antwortete, darauf könne er nicht ein¬ gehn, da die Rationen bereits so niedrig seien, daß ihre weitere Verminde¬ rung zur völligen Erschöpfung der Kräfte der Pfleglinge führe» würde. Das wurde denn auch bald darauf durch die Thatsache bestätigt, daß in den Speise¬ häusern des Noten Kreuzes der Skorbut ausbrach und man sich dort genötigt sah, die Nationen zu erhöhen." Die Verkettung des Vauernelends mit den Staatsfinanzen weist ein be¬ sondrer Abschnitt des Buchs nach. Die Verfasser haben außer den Berichten der Finanzminister, die veröffentlicht werden, ungedruckte amtliche Berichte und unter andern Quellenwerken hauptsächlich das Buch über Steuerrückstände von Brschesky benutzt, der im Auftrage des Finanzministers Witte eine Inspektions¬ reise in die Gouvernements unternommen hat, die sich durch besonders große Stenerrückstände auszeichnen. Die Rückstände sind chronisch wie die Hungers¬ nöte und allgemeiner als diese vor der Hand noch sind, und die Ansammlung der Rückstände vernichtet die gesetzliche Normierung der Steuern. „Der Bauer muß stets gewärtig sein, daß neben dem Jahresbetrag der Steuern auch Rückstände eingefordert werden, er weiß deshalb nie im voraus, wieviel er zu entrichten haben wird. Denn die Eintreibung der Steuer und sämtlicher Rückstände in einem Jahre ist eine Unmöglichkeit, die selbst der Jsprawnik einsieht. Wieviel nun in jedem Jahre bezahlt werden soll, bestimmt nicht das Gesetz, sondern

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/549
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/549>, abgerufen am 28.09.2024.