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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Neue Weltgeschichten

schicht erkannt haben, Theodorichs des Großen "Hauptziel" in Italien soll es
gewesen sein, "die nationalen Verschiedenheiten zwischen Römern und Goten
zu verwischen" und dergleichen. Aber in allgemeinen Übersichten dieser Art,
die zu den schwierigsten Aufgaben eines Historikers gehören, wird es an solchen
Entgleisungen selten fehlen. Bedenklicher ist es, daß einige Hauptabschnitte
recht wenig befriedigen. Auf die griechische Geschichte bis auf Alexander den
Großen hat der Verfasser, Rudolf von Skala, ganze 42 Seiten verwandt,
während den amerikanischen Naturvölkern im ersten Bande ihrer 170 zugeteilt
sind! Dieses Beispiel beleuchtet besonders grell den Mangel an richtigen Pro¬
portionen zwischen den einzelnen Teilen dieser Weltgeschichte. Daß Europa
in der Geschichte eine alles andre überragende Stellung einnimmt, jetzt mehr
als je, wo von den acht großen Mächten sechs in Europa liegen und von
diesen wieder fünf in fremde Erdteile übergreifen, wo ferner die europäische Kultur
die Welt beherrscht und sogar Ostasien zu bemeistern beginnt, daß im Alter¬
tum Griechen und Jtaliker die bedeutendsten Kulturleistungen vollbracht haben,
daß im Mittelalter das deutsch-römische Reich im Mittelpunkt steht, das sind
doch alles Thatsachen und uicht teleologische oder gar patriotische Konstruk¬
tionen. Kommen diese Thatsachen in der Weltgeschichtschreibung nicht auch in
der Disposition und in der Abmessung des ihnen gewidmeten Raums zur
Geltung, so heißt das die geschichtliche Wahrheit verzerren, also fälschen. Da¬
durch, daß die Amerikaner, die auf die allgemeine Kulturentwicklung nicht den
allergeringsten Einfluß geübt haben, bisher viel weniger geschildert worden
sind als die alten Hellenen, werden sie doch nicht wichtiger als die Griechen,
deren Kultur von so unendlicher Bedeutung für Mit- und Nachwelt geworden
ist, von einer weit größern, als die der Ägypter, Assyrer, Vabylonier und Phö-
niker zusammengenommen. Was Skala giebt, beruht auf einer geistvollen und
vor allem richtigen Periodisieruug, ist auch eine Darstellung der großen Züge,
aber eine griechische Geschichte ist es ganz und gar nicht, nicht einmal eine
wirklich anschauliche, lebendige Kulturgeschichte, vou der im höchsten Grade
dürftig behandelten "politischen" Geschichte ganz zu geschweigen. Ein wahres
Muster ist hier der peloponnesische Krieg auf nicht ganz einer Seite; hier wird
z- B. der Entscheidungskampf vor Syrakus gar nicht erwähnt! Das nenne
ich die griechische Geschichte uicht behandeln, sondern mißhandeln. Und für
welche Leser ist diese flüchtige Skizze denn eigentlich bestimmt? Wer von
griechischer Geschichte etwas versteht, für den ist sie überflüssig, und für einen,
der sie nicht schon ganz ordentlich kennt, ist sie schlechterdings ungenügend.
Der Abschnitt "Italien und die römische Weltherrschaft" ist besser, aber auch
er leidet schwer unter dem Zwange eines widernatürlichen Schemas. Denn
da "die UrVölker der Apenninenhalbinscl" schon vorher von einem andern be¬
handelt worden sind, so hat Julius Jung sein einleitendes Kapitel auf sie
nicht mit berechnen können; er spricht also hier zwar von den griechischen An-
siedlungen, aber nicht von der so sehr wichtigen etruskischen Kultur, und da
ihm verboten war, von dem Auftreten der Römer außerhalb Italiens zu reden,


Grenzbaten IV 1900 00
Neue Weltgeschichten

schicht erkannt haben, Theodorichs des Großen „Hauptziel" in Italien soll es
gewesen sein, „die nationalen Verschiedenheiten zwischen Römern und Goten
zu verwischen" und dergleichen. Aber in allgemeinen Übersichten dieser Art,
die zu den schwierigsten Aufgaben eines Historikers gehören, wird es an solchen
Entgleisungen selten fehlen. Bedenklicher ist es, daß einige Hauptabschnitte
recht wenig befriedigen. Auf die griechische Geschichte bis auf Alexander den
Großen hat der Verfasser, Rudolf von Skala, ganze 42 Seiten verwandt,
während den amerikanischen Naturvölkern im ersten Bande ihrer 170 zugeteilt
sind! Dieses Beispiel beleuchtet besonders grell den Mangel an richtigen Pro¬
portionen zwischen den einzelnen Teilen dieser Weltgeschichte. Daß Europa
in der Geschichte eine alles andre überragende Stellung einnimmt, jetzt mehr
als je, wo von den acht großen Mächten sechs in Europa liegen und von
diesen wieder fünf in fremde Erdteile übergreifen, wo ferner die europäische Kultur
die Welt beherrscht und sogar Ostasien zu bemeistern beginnt, daß im Alter¬
tum Griechen und Jtaliker die bedeutendsten Kulturleistungen vollbracht haben,
daß im Mittelalter das deutsch-römische Reich im Mittelpunkt steht, das sind
doch alles Thatsachen und uicht teleologische oder gar patriotische Konstruk¬
tionen. Kommen diese Thatsachen in der Weltgeschichtschreibung nicht auch in
der Disposition und in der Abmessung des ihnen gewidmeten Raums zur
Geltung, so heißt das die geschichtliche Wahrheit verzerren, also fälschen. Da¬
durch, daß die Amerikaner, die auf die allgemeine Kulturentwicklung nicht den
allergeringsten Einfluß geübt haben, bisher viel weniger geschildert worden
sind als die alten Hellenen, werden sie doch nicht wichtiger als die Griechen,
deren Kultur von so unendlicher Bedeutung für Mit- und Nachwelt geworden
ist, von einer weit größern, als die der Ägypter, Assyrer, Vabylonier und Phö-
niker zusammengenommen. Was Skala giebt, beruht auf einer geistvollen und
vor allem richtigen Periodisieruug, ist auch eine Darstellung der großen Züge,
aber eine griechische Geschichte ist es ganz und gar nicht, nicht einmal eine
wirklich anschauliche, lebendige Kulturgeschichte, vou der im höchsten Grade
dürftig behandelten „politischen" Geschichte ganz zu geschweigen. Ein wahres
Muster ist hier der peloponnesische Krieg auf nicht ganz einer Seite; hier wird
z- B. der Entscheidungskampf vor Syrakus gar nicht erwähnt! Das nenne
ich die griechische Geschichte uicht behandeln, sondern mißhandeln. Und für
welche Leser ist diese flüchtige Skizze denn eigentlich bestimmt? Wer von
griechischer Geschichte etwas versteht, für den ist sie überflüssig, und für einen,
der sie nicht schon ganz ordentlich kennt, ist sie schlechterdings ungenügend.
Der Abschnitt „Italien und die römische Weltherrschaft" ist besser, aber auch
er leidet schwer unter dem Zwange eines widernatürlichen Schemas. Denn
da „die UrVölker der Apenninenhalbinscl" schon vorher von einem andern be¬
handelt worden sind, so hat Julius Jung sein einleitendes Kapitel auf sie
nicht mit berechnen können; er spricht also hier zwar von den griechischen An-
siedlungen, aber nicht von der so sehr wichtigen etruskischen Kultur, und da
ihm verboten war, von dem Auftreten der Römer außerhalb Italiens zu reden,


Grenzbaten IV 1900 00
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[0519] Neue Weltgeschichten schicht erkannt haben, Theodorichs des Großen „Hauptziel" in Italien soll es gewesen sein, „die nationalen Verschiedenheiten zwischen Römern und Goten zu verwischen" und dergleichen. Aber in allgemeinen Übersichten dieser Art, die zu den schwierigsten Aufgaben eines Historikers gehören, wird es an solchen Entgleisungen selten fehlen. Bedenklicher ist es, daß einige Hauptabschnitte recht wenig befriedigen. Auf die griechische Geschichte bis auf Alexander den Großen hat der Verfasser, Rudolf von Skala, ganze 42 Seiten verwandt, während den amerikanischen Naturvölkern im ersten Bande ihrer 170 zugeteilt sind! Dieses Beispiel beleuchtet besonders grell den Mangel an richtigen Pro¬ portionen zwischen den einzelnen Teilen dieser Weltgeschichte. Daß Europa in der Geschichte eine alles andre überragende Stellung einnimmt, jetzt mehr als je, wo von den acht großen Mächten sechs in Europa liegen und von diesen wieder fünf in fremde Erdteile übergreifen, wo ferner die europäische Kultur die Welt beherrscht und sogar Ostasien zu bemeistern beginnt, daß im Alter¬ tum Griechen und Jtaliker die bedeutendsten Kulturleistungen vollbracht haben, daß im Mittelalter das deutsch-römische Reich im Mittelpunkt steht, das sind doch alles Thatsachen und uicht teleologische oder gar patriotische Konstruk¬ tionen. Kommen diese Thatsachen in der Weltgeschichtschreibung nicht auch in der Disposition und in der Abmessung des ihnen gewidmeten Raums zur Geltung, so heißt das die geschichtliche Wahrheit verzerren, also fälschen. Da¬ durch, daß die Amerikaner, die auf die allgemeine Kulturentwicklung nicht den allergeringsten Einfluß geübt haben, bisher viel weniger geschildert worden sind als die alten Hellenen, werden sie doch nicht wichtiger als die Griechen, deren Kultur von so unendlicher Bedeutung für Mit- und Nachwelt geworden ist, von einer weit größern, als die der Ägypter, Assyrer, Vabylonier und Phö- niker zusammengenommen. Was Skala giebt, beruht auf einer geistvollen und vor allem richtigen Periodisieruug, ist auch eine Darstellung der großen Züge, aber eine griechische Geschichte ist es ganz und gar nicht, nicht einmal eine wirklich anschauliche, lebendige Kulturgeschichte, vou der im höchsten Grade dürftig behandelten „politischen" Geschichte ganz zu geschweigen. Ein wahres Muster ist hier der peloponnesische Krieg auf nicht ganz einer Seite; hier wird z- B. der Entscheidungskampf vor Syrakus gar nicht erwähnt! Das nenne ich die griechische Geschichte uicht behandeln, sondern mißhandeln. Und für welche Leser ist diese flüchtige Skizze denn eigentlich bestimmt? Wer von griechischer Geschichte etwas versteht, für den ist sie überflüssig, und für einen, der sie nicht schon ganz ordentlich kennt, ist sie schlechterdings ungenügend. Der Abschnitt „Italien und die römische Weltherrschaft" ist besser, aber auch er leidet schwer unter dem Zwange eines widernatürlichen Schemas. Denn da „die UrVölker der Apenninenhalbinscl" schon vorher von einem andern be¬ handelt worden sind, so hat Julius Jung sein einleitendes Kapitel auf sie nicht mit berechnen können; er spricht also hier zwar von den griechischen An- siedlungen, aber nicht von der so sehr wichtigen etruskischen Kultur, und da ihm verboten war, von dem Auftreten der Römer außerhalb Italiens zu reden, Grenzbaten IV 1900 00

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/519>, abgerufen am 29.06.2024.