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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Neue Weltgeschichten

eher als vom Altertum überhaupt, von Alexanders des Großen Weltreich, und
von der Begründung der römischen Macht in Asien eher als von Makedonien
und Rom, von Makedonien eher als von Griechenland. Die ersten Jahr¬
hunderte des Christentums werden geschildert nach dem Islam, ehe wir nach
Griechenland und Italien kommen. Denn Christentum und Islam sind west¬
asiatische Erzeugnisse, und die geographisch-ethnographische Einteilung zwingt
den Welthistoriker, seinen Gang von Ost nach West zu nehmen. Helmolt
wirst in einer Besprechung seiner Weltgeschichte in der Beilage zur Münchner)
Allgemeinen Zeitung vom 26. Oktober 1899 einer Weltgeschichte "alter"
Art, uümlich der Spamerschen, "willkürlich zerhackte Entwicklungsreihen"
und "grausame Cüsuren" vor, weil sie in einem und demselben Abschnitte
z. B. die Araber und den Islam, Byzanz, das karolingische Frankenreich, den
germanischen Norden und Nußland vereinige. Gewiß, aufs Jahr stimmen die
zeitlichen Abgrenzungen bei verschiednen Völkern natürlich nicht, und etwas Künst¬
liches haben sie immer, aber unzweifelhaft hängen die gleichzeitigen Generationen
verschiedner Völker vielfach enger miteinander zusammen als die aufeinander
folgenden Generationen desselben Volks, und mir scheint es viel "grausamer,"
die gleichzeitigen Lebensäußerungen eines und desselben Volks in der Dar¬
stellung nur deshalb völlig auseinauderzureißen, weil sie in mehreren Ländern
zu Tage treten, also z. B. von der griechischen Geschichte die Darstellung der
Kolonisation zu trennen, nur weil diese sich nach dem Schwarzen Meer,
Ägypten, Sizilien, Süditalien u. s. f. erstreckt hat. Die historischen Subjekte
oder, wenn man will, Persönlichkeiten sind doch die Völker, nicht die Länder,
und auch deren Abgrenzung bei Helmolt ist doch anch vielfach willkürlich. Oder
gehören nicht etwa die Küsten des Ägeischen Meers, sie mögen nun in Europa
oder in Asien liegen, ihrer Entwicklung nach aufs engste zusammen? Und was
hat in dieser Beziehung jahrhundertelang der Norden der Balkanhalbinsel mit
den Ländern südlich von diesen: Scheidegebirge zu thun gehabt? So viel wie die
Germanen mit den Jtalikern. Ich vermisse aber in der gewählten geographisch-
ethnographischen Gruppierung sogar die volle Konsequenz dieser Einteilung.
Denn nur die Geschichte Nordafrikas und der Pyrenäischen Halbinsel wird bis
zur Gegenwart herabgeführt, die der übrigen Nandländer nur bis zum Aus-
gange des Altertums. Warum?

Helmolt hat das unruhige Durcheinander der einzelnen Abschnitte doch
wohl selbst empfunden, denn er schickt dem vierten Bande einen einleitenden
Abschnitt (von Graf Wilczek) über den "innern geschichtlichen Zusammenhang
der Mittelmeervölker" voraus, den er uach dem Tode des Verfassers selbst
"überarbeitet" hat. Leider zeigt dieses Kapitel neben manchen geistvollen Ge¬
danken doch auch eine Menge schiefer, halb wahrer oder ganz falscher Urteile.
Die innern Kriege der Griechen sollen "ohne Haß und Leidenschaft" gefochten
worden sein, Argos wird unter die seemächtigen Städte gerechnet, Karthago
soll die Verbindung mit dem Mutterlande bald abgebrochen, die Römer sollen
"zuerst von allen Völkern" die Gefahr einer starken besitzlosen Bcvölkerungs-


Neue Weltgeschichten

eher als vom Altertum überhaupt, von Alexanders des Großen Weltreich, und
von der Begründung der römischen Macht in Asien eher als von Makedonien
und Rom, von Makedonien eher als von Griechenland. Die ersten Jahr¬
hunderte des Christentums werden geschildert nach dem Islam, ehe wir nach
Griechenland und Italien kommen. Denn Christentum und Islam sind west¬
asiatische Erzeugnisse, und die geographisch-ethnographische Einteilung zwingt
den Welthistoriker, seinen Gang von Ost nach West zu nehmen. Helmolt
wirst in einer Besprechung seiner Weltgeschichte in der Beilage zur Münchner)
Allgemeinen Zeitung vom 26. Oktober 1899 einer Weltgeschichte „alter"
Art, uümlich der Spamerschen, „willkürlich zerhackte Entwicklungsreihen"
und „grausame Cüsuren" vor, weil sie in einem und demselben Abschnitte
z. B. die Araber und den Islam, Byzanz, das karolingische Frankenreich, den
germanischen Norden und Nußland vereinige. Gewiß, aufs Jahr stimmen die
zeitlichen Abgrenzungen bei verschiednen Völkern natürlich nicht, und etwas Künst¬
liches haben sie immer, aber unzweifelhaft hängen die gleichzeitigen Generationen
verschiedner Völker vielfach enger miteinander zusammen als die aufeinander
folgenden Generationen desselben Volks, und mir scheint es viel „grausamer,"
die gleichzeitigen Lebensäußerungen eines und desselben Volks in der Dar¬
stellung nur deshalb völlig auseinauderzureißen, weil sie in mehreren Ländern
zu Tage treten, also z. B. von der griechischen Geschichte die Darstellung der
Kolonisation zu trennen, nur weil diese sich nach dem Schwarzen Meer,
Ägypten, Sizilien, Süditalien u. s. f. erstreckt hat. Die historischen Subjekte
oder, wenn man will, Persönlichkeiten sind doch die Völker, nicht die Länder,
und auch deren Abgrenzung bei Helmolt ist doch anch vielfach willkürlich. Oder
gehören nicht etwa die Küsten des Ägeischen Meers, sie mögen nun in Europa
oder in Asien liegen, ihrer Entwicklung nach aufs engste zusammen? Und was
hat in dieser Beziehung jahrhundertelang der Norden der Balkanhalbinsel mit
den Ländern südlich von diesen: Scheidegebirge zu thun gehabt? So viel wie die
Germanen mit den Jtalikern. Ich vermisse aber in der gewählten geographisch-
ethnographischen Gruppierung sogar die volle Konsequenz dieser Einteilung.
Denn nur die Geschichte Nordafrikas und der Pyrenäischen Halbinsel wird bis
zur Gegenwart herabgeführt, die der übrigen Nandländer nur bis zum Aus-
gange des Altertums. Warum?

Helmolt hat das unruhige Durcheinander der einzelnen Abschnitte doch
wohl selbst empfunden, denn er schickt dem vierten Bande einen einleitenden
Abschnitt (von Graf Wilczek) über den „innern geschichtlichen Zusammenhang
der Mittelmeervölker" voraus, den er uach dem Tode des Verfassers selbst
„überarbeitet" hat. Leider zeigt dieses Kapitel neben manchen geistvollen Ge¬
danken doch auch eine Menge schiefer, halb wahrer oder ganz falscher Urteile.
Die innern Kriege der Griechen sollen „ohne Haß und Leidenschaft" gefochten
worden sein, Argos wird unter die seemächtigen Städte gerechnet, Karthago
soll die Verbindung mit dem Mutterlande bald abgebrochen, die Römer sollen
„zuerst von allen Völkern" die Gefahr einer starken besitzlosen Bcvölkerungs-


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[0518] Neue Weltgeschichten eher als vom Altertum überhaupt, von Alexanders des Großen Weltreich, und von der Begründung der römischen Macht in Asien eher als von Makedonien und Rom, von Makedonien eher als von Griechenland. Die ersten Jahr¬ hunderte des Christentums werden geschildert nach dem Islam, ehe wir nach Griechenland und Italien kommen. Denn Christentum und Islam sind west¬ asiatische Erzeugnisse, und die geographisch-ethnographische Einteilung zwingt den Welthistoriker, seinen Gang von Ost nach West zu nehmen. Helmolt wirst in einer Besprechung seiner Weltgeschichte in der Beilage zur Münchner) Allgemeinen Zeitung vom 26. Oktober 1899 einer Weltgeschichte „alter" Art, uümlich der Spamerschen, „willkürlich zerhackte Entwicklungsreihen" und „grausame Cüsuren" vor, weil sie in einem und demselben Abschnitte z. B. die Araber und den Islam, Byzanz, das karolingische Frankenreich, den germanischen Norden und Nußland vereinige. Gewiß, aufs Jahr stimmen die zeitlichen Abgrenzungen bei verschiednen Völkern natürlich nicht, und etwas Künst¬ liches haben sie immer, aber unzweifelhaft hängen die gleichzeitigen Generationen verschiedner Völker vielfach enger miteinander zusammen als die aufeinander folgenden Generationen desselben Volks, und mir scheint es viel „grausamer," die gleichzeitigen Lebensäußerungen eines und desselben Volks in der Dar¬ stellung nur deshalb völlig auseinauderzureißen, weil sie in mehreren Ländern zu Tage treten, also z. B. von der griechischen Geschichte die Darstellung der Kolonisation zu trennen, nur weil diese sich nach dem Schwarzen Meer, Ägypten, Sizilien, Süditalien u. s. f. erstreckt hat. Die historischen Subjekte oder, wenn man will, Persönlichkeiten sind doch die Völker, nicht die Länder, und auch deren Abgrenzung bei Helmolt ist doch anch vielfach willkürlich. Oder gehören nicht etwa die Küsten des Ägeischen Meers, sie mögen nun in Europa oder in Asien liegen, ihrer Entwicklung nach aufs engste zusammen? Und was hat in dieser Beziehung jahrhundertelang der Norden der Balkanhalbinsel mit den Ländern südlich von diesen: Scheidegebirge zu thun gehabt? So viel wie die Germanen mit den Jtalikern. Ich vermisse aber in der gewählten geographisch- ethnographischen Gruppierung sogar die volle Konsequenz dieser Einteilung. Denn nur die Geschichte Nordafrikas und der Pyrenäischen Halbinsel wird bis zur Gegenwart herabgeführt, die der übrigen Nandländer nur bis zum Aus- gange des Altertums. Warum? Helmolt hat das unruhige Durcheinander der einzelnen Abschnitte doch wohl selbst empfunden, denn er schickt dem vierten Bande einen einleitenden Abschnitt (von Graf Wilczek) über den „innern geschichtlichen Zusammenhang der Mittelmeervölker" voraus, den er uach dem Tode des Verfassers selbst „überarbeitet" hat. Leider zeigt dieses Kapitel neben manchen geistvollen Ge¬ danken doch auch eine Menge schiefer, halb wahrer oder ganz falscher Urteile. Die innern Kriege der Griechen sollen „ohne Haß und Leidenschaft" gefochten worden sein, Argos wird unter die seemächtigen Städte gerechnet, Karthago soll die Verbindung mit dem Mutterlande bald abgebrochen, die Römer sollen „zuerst von allen Völkern" die Gefahr einer starken besitzlosen Bcvölkerungs-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/518>, abgerufen am 26.06.2024.