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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Aus der Wertherzeit

Hartmann aber, nach'Milan zurückgekehrt, teilt an Lavater und dessen
Frau mit, was er in diesen Tagen Glückliches und Leidvolles erfahren hatte.*)
Er thut es in der stammelnden Geniesprache jener Zeit. Der Werther ist
sein Lieblingsbuch geworden -- aller Neid und Groll auf Goethe ist jetzt
verflogen. "Ich armer Pilgrim bin hier glücklich, habe alles, was ich will,
werde hier auf Hiiuden getragen und verehrt, und doch ist mein Herz leer und
mein Auge thränt. Ich habe mir Werthers Spaziergänge genommen, schweife
des Nachts in einem Schlitten, den ich selbst führe, auf dem Feld herum.
Nun lasse ich mich für Goethe töten. . . . Lavater, hast du leine Ähnlichkeit
zwischen mir und Werther gefunden? . . . Ach Gott, mir ists jetzt nirgends
mehr wohl. Alles drängt mich, ängstigt mich; und ich könnte glücklicher sein,
als kein Mensch ans Erden. Ach, ich wünschte, mein Leben ginge zum Ende,
denn jetzt würd ich am liebsten die Szene ändern. Glaub aber ja nicht, daß
Menschen daran schuld haben. Nein, ich werde nur zu sehr geliebt. Aber
ich weiß nicht, warum mein Herz so an gar nichts andres denkt, als an dieses.
Und Werthers Leiden sind nun tägliche Nahrung für meinen Geist."

Im März und im April bringt Elisa einige Wochen bei ihrer Großmutter
in Mitau zu, wo sie eine Kur für ihre angegriffne Gesundheit braucht. Sie
sieht aber Hartmann nur kurz und selten. Kommt er zu Besuch, so bittet sie
ihn, bald zu gehn; mit dem Vorsatz, sich zu meiden, wollen sie es ernst nehmen.
Dagegen hat sich Hartmann in Alt-Autz mit den Eltern Medem befreundet,
mit Elisas Stiefmutter führt er eine Korrespondenz, und Anfang Juni bringt
er wieder einige Tage in Alt-Autz zu, wo sich auch Elisa einfindet. Hier auf
dem elterlichen Gute war man weniger beengt, und es scheint, daß diese Be¬
gegnung der Leidenschaft neue Nahrung gab. Hartmann vermittelte jetzt auch
eine direkte Korrespondenz zwischen Lavater und seiner Freundin, und dies
war der Anfang des später so ausgebreiteten Verkehrs, den Frau von der Recke
mit der deutsche" Schriftstellerwelt pflegte. Lavater benutzte diesen Briefwechsel,
">n seinen jungen Freund Elisen zur Erziehung und Lenkung ans Herz zu
^'geu, er kannte ihn genau, und ihm selber gab er den praktischen Rat, er
solle sich verheiraten. Worauf aber Hartmann erwiderte: "Möcht ein Weib
nehmen? So von ungefähr -- ja, wenn meine von der Recke Mädchen wäre,
möcht wohl vielleicht schwach genug sein, den Wunsch zu thun. Nun ists
vorbei -- bis mir einmal ein Mädchen unter die Augen tritt, das mir alle
meine Sinne wandelt."

Anfangs Juli war Elisa wieder einige Tage in Mitau, und hier kam es
abermals zu einer leidenschaftlichen Szene, in der sich beide unwandelbare
Freundschaft gelobten. Elisa erführe, daß Hartmann täglich aus der Fülle
seines Herzens Briefe an sie schreibt, die er aber bei sich verwahrt. Sehnsucht
mich dem Tode und die Ahnung frühen Todes mischt sich schon in alle seine
Gespräche. "Ich weiß nicht, schreibt Elisa, ob meine Einbildungskraft sich



V.,l. Äoethchihrbuch 1888, Seite 128 ff.
Aus der Wertherzeit

Hartmann aber, nach'Milan zurückgekehrt, teilt an Lavater und dessen
Frau mit, was er in diesen Tagen Glückliches und Leidvolles erfahren hatte.*)
Er thut es in der stammelnden Geniesprache jener Zeit. Der Werther ist
sein Lieblingsbuch geworden — aller Neid und Groll auf Goethe ist jetzt
verflogen. „Ich armer Pilgrim bin hier glücklich, habe alles, was ich will,
werde hier auf Hiiuden getragen und verehrt, und doch ist mein Herz leer und
mein Auge thränt. Ich habe mir Werthers Spaziergänge genommen, schweife
des Nachts in einem Schlitten, den ich selbst führe, auf dem Feld herum.
Nun lasse ich mich für Goethe töten. . . . Lavater, hast du leine Ähnlichkeit
zwischen mir und Werther gefunden? . . . Ach Gott, mir ists jetzt nirgends
mehr wohl. Alles drängt mich, ängstigt mich; und ich könnte glücklicher sein,
als kein Mensch ans Erden. Ach, ich wünschte, mein Leben ginge zum Ende,
denn jetzt würd ich am liebsten die Szene ändern. Glaub aber ja nicht, daß
Menschen daran schuld haben. Nein, ich werde nur zu sehr geliebt. Aber
ich weiß nicht, warum mein Herz so an gar nichts andres denkt, als an dieses.
Und Werthers Leiden sind nun tägliche Nahrung für meinen Geist."

Im März und im April bringt Elisa einige Wochen bei ihrer Großmutter
in Mitau zu, wo sie eine Kur für ihre angegriffne Gesundheit braucht. Sie
sieht aber Hartmann nur kurz und selten. Kommt er zu Besuch, so bittet sie
ihn, bald zu gehn; mit dem Vorsatz, sich zu meiden, wollen sie es ernst nehmen.
Dagegen hat sich Hartmann in Alt-Autz mit den Eltern Medem befreundet,
mit Elisas Stiefmutter führt er eine Korrespondenz, und Anfang Juni bringt
er wieder einige Tage in Alt-Autz zu, wo sich auch Elisa einfindet. Hier auf
dem elterlichen Gute war man weniger beengt, und es scheint, daß diese Be¬
gegnung der Leidenschaft neue Nahrung gab. Hartmann vermittelte jetzt auch
eine direkte Korrespondenz zwischen Lavater und seiner Freundin, und dies
war der Anfang des später so ausgebreiteten Verkehrs, den Frau von der Recke
mit der deutsche» Schriftstellerwelt pflegte. Lavater benutzte diesen Briefwechsel,
">n seinen jungen Freund Elisen zur Erziehung und Lenkung ans Herz zu
^'geu, er kannte ihn genau, und ihm selber gab er den praktischen Rat, er
solle sich verheiraten. Worauf aber Hartmann erwiderte: „Möcht ein Weib
nehmen? So von ungefähr — ja, wenn meine von der Recke Mädchen wäre,
möcht wohl vielleicht schwach genug sein, den Wunsch zu thun. Nun ists
vorbei — bis mir einmal ein Mädchen unter die Augen tritt, das mir alle
meine Sinne wandelt."

Anfangs Juli war Elisa wieder einige Tage in Mitau, und hier kam es
abermals zu einer leidenschaftlichen Szene, in der sich beide unwandelbare
Freundschaft gelobten. Elisa erführe, daß Hartmann täglich aus der Fülle
seines Herzens Briefe an sie schreibt, die er aber bei sich verwahrt. Sehnsucht
mich dem Tode und die Ahnung frühen Todes mischt sich schon in alle seine
Gespräche. „Ich weiß nicht, schreibt Elisa, ob meine Einbildungskraft sich



V.,l. Äoethchihrbuch 1888, Seite 128 ff.
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[0461] Aus der Wertherzeit Hartmann aber, nach'Milan zurückgekehrt, teilt an Lavater und dessen Frau mit, was er in diesen Tagen Glückliches und Leidvolles erfahren hatte.*) Er thut es in der stammelnden Geniesprache jener Zeit. Der Werther ist sein Lieblingsbuch geworden — aller Neid und Groll auf Goethe ist jetzt verflogen. „Ich armer Pilgrim bin hier glücklich, habe alles, was ich will, werde hier auf Hiiuden getragen und verehrt, und doch ist mein Herz leer und mein Auge thränt. Ich habe mir Werthers Spaziergänge genommen, schweife des Nachts in einem Schlitten, den ich selbst führe, auf dem Feld herum. Nun lasse ich mich für Goethe töten. . . . Lavater, hast du leine Ähnlichkeit zwischen mir und Werther gefunden? . . . Ach Gott, mir ists jetzt nirgends mehr wohl. Alles drängt mich, ängstigt mich; und ich könnte glücklicher sein, als kein Mensch ans Erden. Ach, ich wünschte, mein Leben ginge zum Ende, denn jetzt würd ich am liebsten die Szene ändern. Glaub aber ja nicht, daß Menschen daran schuld haben. Nein, ich werde nur zu sehr geliebt. Aber ich weiß nicht, warum mein Herz so an gar nichts andres denkt, als an dieses. Und Werthers Leiden sind nun tägliche Nahrung für meinen Geist." Im März und im April bringt Elisa einige Wochen bei ihrer Großmutter in Mitau zu, wo sie eine Kur für ihre angegriffne Gesundheit braucht. Sie sieht aber Hartmann nur kurz und selten. Kommt er zu Besuch, so bittet sie ihn, bald zu gehn; mit dem Vorsatz, sich zu meiden, wollen sie es ernst nehmen. Dagegen hat sich Hartmann in Alt-Autz mit den Eltern Medem befreundet, mit Elisas Stiefmutter führt er eine Korrespondenz, und Anfang Juni bringt er wieder einige Tage in Alt-Autz zu, wo sich auch Elisa einfindet. Hier auf dem elterlichen Gute war man weniger beengt, und es scheint, daß diese Be¬ gegnung der Leidenschaft neue Nahrung gab. Hartmann vermittelte jetzt auch eine direkte Korrespondenz zwischen Lavater und seiner Freundin, und dies war der Anfang des später so ausgebreiteten Verkehrs, den Frau von der Recke mit der deutsche» Schriftstellerwelt pflegte. Lavater benutzte diesen Briefwechsel, ">n seinen jungen Freund Elisen zur Erziehung und Lenkung ans Herz zu ^'geu, er kannte ihn genau, und ihm selber gab er den praktischen Rat, er solle sich verheiraten. Worauf aber Hartmann erwiderte: „Möcht ein Weib nehmen? So von ungefähr — ja, wenn meine von der Recke Mädchen wäre, möcht wohl vielleicht schwach genug sein, den Wunsch zu thun. Nun ists vorbei — bis mir einmal ein Mädchen unter die Augen tritt, das mir alle meine Sinne wandelt." Anfangs Juli war Elisa wieder einige Tage in Mitau, und hier kam es abermals zu einer leidenschaftlichen Szene, in der sich beide unwandelbare Freundschaft gelobten. Elisa erführe, daß Hartmann täglich aus der Fülle seines Herzens Briefe an sie schreibt, die er aber bei sich verwahrt. Sehnsucht mich dem Tode und die Ahnung frühen Todes mischt sich schon in alle seine Gespräche. „Ich weiß nicht, schreibt Elisa, ob meine Einbildungskraft sich V.,l. Äoethchihrbuch 1888, Seite 128 ff.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/461>, abgerufen am 29.06.2024.