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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Aus der Wertherzeit

täuscht, aber es scheint nur, als herrschte eine tiefe Schwermut über sein
ganzes Wesen, und als hätte er auch nicht mehr die blühende Farbe der Ge¬
sundheit."

Ein letztes mal sahen sie sich im September wieder in Alt-Autz. Hart-
mann ist im Umgang mir der Geliebten das einemal heiter und glücklich, dann
wieder zeigt er sich ganz von Todesgedanken erfüllt. "Mir war so, als sprach
ein Engel Gottes über die Verwandlung unsers Seins! Gott! -- was das
für ein Mann ist! Jede seiner Unterredungen hat sich meiner Seele tief ein¬
geprägt, und jedes Gespräch mit ihm macht ihn mir lieber. Warum sind die
Verhältnisse nicht so, daß wir uns unsers Umgangs freuen können? Warum
ist Hartmann nicht mein Bruder?" Am letzten Abend noch einmal eine
Wertherszene, als Hartmann der Geliebten die Sternbilder erklärt, das der
Cassiopeia ans Wiedersehen deutet und dereinst im Wäldchen von Alt-Autz be¬
graben zu werden wünscht. Elisas jüngerer Bruder Fritz und ihre Freundin
Karoline Stolz waren bei dieser empfindsamen Szene gleichfalls zugegen, bei
der Elisa selbst nicht mehr weit entfernt war von dem GefühlScmsbruch, von dem
sich Lotte beim letzten Abschied von Werther hatte überraschen und überwältigen
lassen, und über den sie beim ersten Lesen des Romans fast unwillig gewesen
war. Sie selbst rief sich zwei Jahre später diese Szene mit allen Einzelheiten
ins Gedächtnis zurück, indem sie an Karoline schrieb: "Es war ein schöner
Septemberabend -- der Mond leuchtete sanft -- doch funkelten einige Sterne
am Himmel. Hartmann nannte uns beiden einige dieser Gestirne. Ich und
Hartmann, wir bogen uns hinaus, um die Stellung des Orions zu sehen --
sein Gesicht kam mir so nahe, daß ich den Hauch seines Atems fühlte; er
unedele sich mir noch mehr, da zog ich mich zurücke, der Kamm siel aus meinen
Haaren, meine Haare wehten ihm ins Gesicht, er küßte die Spitzen meiner
Haare, ergriff meine Hand, küßte diese -- ich fühlte seine heißen Thränen,
ein nie gefühlter süßer Schuler durchbebte mich! Dich schloß er dann in seine
Arme -- ich sah dies -- und es that mir wohl! Aber noch wohler wurde
mir, da ich, ungesehen von euch, Hartmanns heiße Thränen von meiner Hand
küßte."

Nur noch wenig Wochen, und die Todesahnungen des Jünglings hatten
sich erfüllt. Im Oktober wurde er von einem hitzigen Fieber ergriffen, und
es kamen schlimme, hoffnungslose Nachrichten nach Neuenburg. Von der Recke
selbst schrieb ihr aus der Stadt über Hartmanns Befinden "mit dem Ausdruck
bittersten Schmerzes." Doch sie durfte niemand verraten, wie nahe ihr der
drohende Verlust ging. "Ich muß ein heitres Gesicht zeigen, schrieb sie der
Freundin Stolz am 29. Oktober, muß täglich über Hartmanns tödliche Krank¬
heit sprechen hören und darf nicht sprechen, wie mir ums Herz ist. Sie,
Freundin meines Herzens, Sie kennen ihn. Sie wissen es auch, welche lautre
Herzlichkeit meine Seele für ihn empfindet! Gott! warum mußte ich ihn --
warum mußte ich die Seligkeit kennen lernen, einer solchen Seele wert zu sein,
und gerade dadurch eine Stütze in jeder Tugend zu erlangen! . . . Gott!


Aus der Wertherzeit

täuscht, aber es scheint nur, als herrschte eine tiefe Schwermut über sein
ganzes Wesen, und als hätte er auch nicht mehr die blühende Farbe der Ge¬
sundheit."

Ein letztes mal sahen sie sich im September wieder in Alt-Autz. Hart-
mann ist im Umgang mir der Geliebten das einemal heiter und glücklich, dann
wieder zeigt er sich ganz von Todesgedanken erfüllt. „Mir war so, als sprach
ein Engel Gottes über die Verwandlung unsers Seins! Gott! — was das
für ein Mann ist! Jede seiner Unterredungen hat sich meiner Seele tief ein¬
geprägt, und jedes Gespräch mit ihm macht ihn mir lieber. Warum sind die
Verhältnisse nicht so, daß wir uns unsers Umgangs freuen können? Warum
ist Hartmann nicht mein Bruder?" Am letzten Abend noch einmal eine
Wertherszene, als Hartmann der Geliebten die Sternbilder erklärt, das der
Cassiopeia ans Wiedersehen deutet und dereinst im Wäldchen von Alt-Autz be¬
graben zu werden wünscht. Elisas jüngerer Bruder Fritz und ihre Freundin
Karoline Stolz waren bei dieser empfindsamen Szene gleichfalls zugegen, bei
der Elisa selbst nicht mehr weit entfernt war von dem GefühlScmsbruch, von dem
sich Lotte beim letzten Abschied von Werther hatte überraschen und überwältigen
lassen, und über den sie beim ersten Lesen des Romans fast unwillig gewesen
war. Sie selbst rief sich zwei Jahre später diese Szene mit allen Einzelheiten
ins Gedächtnis zurück, indem sie an Karoline schrieb: „Es war ein schöner
Septemberabend — der Mond leuchtete sanft — doch funkelten einige Sterne
am Himmel. Hartmann nannte uns beiden einige dieser Gestirne. Ich und
Hartmann, wir bogen uns hinaus, um die Stellung des Orions zu sehen —
sein Gesicht kam mir so nahe, daß ich den Hauch seines Atems fühlte; er
unedele sich mir noch mehr, da zog ich mich zurücke, der Kamm siel aus meinen
Haaren, meine Haare wehten ihm ins Gesicht, er küßte die Spitzen meiner
Haare, ergriff meine Hand, küßte diese — ich fühlte seine heißen Thränen,
ein nie gefühlter süßer Schuler durchbebte mich! Dich schloß er dann in seine
Arme — ich sah dies — und es that mir wohl! Aber noch wohler wurde
mir, da ich, ungesehen von euch, Hartmanns heiße Thränen von meiner Hand
küßte."

Nur noch wenig Wochen, und die Todesahnungen des Jünglings hatten
sich erfüllt. Im Oktober wurde er von einem hitzigen Fieber ergriffen, und
es kamen schlimme, hoffnungslose Nachrichten nach Neuenburg. Von der Recke
selbst schrieb ihr aus der Stadt über Hartmanns Befinden „mit dem Ausdruck
bittersten Schmerzes." Doch sie durfte niemand verraten, wie nahe ihr der
drohende Verlust ging. „Ich muß ein heitres Gesicht zeigen, schrieb sie der
Freundin Stolz am 29. Oktober, muß täglich über Hartmanns tödliche Krank¬
heit sprechen hören und darf nicht sprechen, wie mir ums Herz ist. Sie,
Freundin meines Herzens, Sie kennen ihn. Sie wissen es auch, welche lautre
Herzlichkeit meine Seele für ihn empfindet! Gott! warum mußte ich ihn —
warum mußte ich die Seligkeit kennen lernen, einer solchen Seele wert zu sein,
und gerade dadurch eine Stütze in jeder Tugend zu erlangen! . . . Gott!


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[0462] Aus der Wertherzeit täuscht, aber es scheint nur, als herrschte eine tiefe Schwermut über sein ganzes Wesen, und als hätte er auch nicht mehr die blühende Farbe der Ge¬ sundheit." Ein letztes mal sahen sie sich im September wieder in Alt-Autz. Hart- mann ist im Umgang mir der Geliebten das einemal heiter und glücklich, dann wieder zeigt er sich ganz von Todesgedanken erfüllt. „Mir war so, als sprach ein Engel Gottes über die Verwandlung unsers Seins! Gott! — was das für ein Mann ist! Jede seiner Unterredungen hat sich meiner Seele tief ein¬ geprägt, und jedes Gespräch mit ihm macht ihn mir lieber. Warum sind die Verhältnisse nicht so, daß wir uns unsers Umgangs freuen können? Warum ist Hartmann nicht mein Bruder?" Am letzten Abend noch einmal eine Wertherszene, als Hartmann der Geliebten die Sternbilder erklärt, das der Cassiopeia ans Wiedersehen deutet und dereinst im Wäldchen von Alt-Autz be¬ graben zu werden wünscht. Elisas jüngerer Bruder Fritz und ihre Freundin Karoline Stolz waren bei dieser empfindsamen Szene gleichfalls zugegen, bei der Elisa selbst nicht mehr weit entfernt war von dem GefühlScmsbruch, von dem sich Lotte beim letzten Abschied von Werther hatte überraschen und überwältigen lassen, und über den sie beim ersten Lesen des Romans fast unwillig gewesen war. Sie selbst rief sich zwei Jahre später diese Szene mit allen Einzelheiten ins Gedächtnis zurück, indem sie an Karoline schrieb: „Es war ein schöner Septemberabend — der Mond leuchtete sanft — doch funkelten einige Sterne am Himmel. Hartmann nannte uns beiden einige dieser Gestirne. Ich und Hartmann, wir bogen uns hinaus, um die Stellung des Orions zu sehen — sein Gesicht kam mir so nahe, daß ich den Hauch seines Atems fühlte; er unedele sich mir noch mehr, da zog ich mich zurücke, der Kamm siel aus meinen Haaren, meine Haare wehten ihm ins Gesicht, er küßte die Spitzen meiner Haare, ergriff meine Hand, küßte diese — ich fühlte seine heißen Thränen, ein nie gefühlter süßer Schuler durchbebte mich! Dich schloß er dann in seine Arme — ich sah dies — und es that mir wohl! Aber noch wohler wurde mir, da ich, ungesehen von euch, Hartmanns heiße Thränen von meiner Hand küßte." Nur noch wenig Wochen, und die Todesahnungen des Jünglings hatten sich erfüllt. Im Oktober wurde er von einem hitzigen Fieber ergriffen, und es kamen schlimme, hoffnungslose Nachrichten nach Neuenburg. Von der Recke selbst schrieb ihr aus der Stadt über Hartmanns Befinden „mit dem Ausdruck bittersten Schmerzes." Doch sie durfte niemand verraten, wie nahe ihr der drohende Verlust ging. „Ich muß ein heitres Gesicht zeigen, schrieb sie der Freundin Stolz am 29. Oktober, muß täglich über Hartmanns tödliche Krank¬ heit sprechen hören und darf nicht sprechen, wie mir ums Herz ist. Sie, Freundin meines Herzens, Sie kennen ihn. Sie wissen es auch, welche lautre Herzlichkeit meine Seele für ihn empfindet! Gott! warum mußte ich ihn — warum mußte ich die Seligkeit kennen lernen, einer solchen Seele wert zu sein, und gerade dadurch eine Stütze in jeder Tugend zu erlangen! . . . Gott!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/462>, abgerufen am 26.06.2024.