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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Reform des österreichisch-ungarischen Dncilismus

Apponyi Stellung genommen, sich vielmehr immer -- wie dies denn auch sein
Sohn als Erbe seiner Anschauungen in einem auch in deutscher Sprache er¬
schienenen bemerkenswerten Buche über den 1867er Ausgleich*) gethan hat --
die höhere Einheit des "Reichs" vor Augen gehalten.

Was die Männer der Deakpartei aus Überzeugung und politischer Kon¬
sequenz gethan hatten, dazu sahen sich nach der Fusion die einstigen Führer
des linken Zentrums infolge ihrer Schwenkung genötigt. Hatten sie auch die
gegen wesentliche Bestimmungen des 1867 er Ausgleichs gerichteten Biharer
Punkte "an den Nagel gehängt," so mußten sie doch lange gegen das Mi߬
trauen der Krone kämpfen und sich darum besonders sorgfältig vor offen¬
baren Rückfällen in ihre frühern separatistischen Bestrebungen hüten. Als
Renegaten waren sie auch bereit, den Preis für eine längere Dauer ihrer ein¬
träglichen Majoritätsherrschaft zu bezahlen. Das ist der eine Grund für die
einigermaßen auffallende Thatsache, daß sich im Jahre 1888 die zweite Er¬
neuerung des wirtschaftlichen Ausgleichs weit glatter vollzog als die erste.
Aber der damals allmächtige parlamentarische Diktator Koloman Tisza hatte
bei dieser im wesentlichen unveränderten Aufrechthaltung der Beziehungen zu
Österreich, die seinen innersten Neigungen und Überzeugungen durchaus zu¬
widerlief, eben doch immer noch das klare Bewußtsein der wirtschaftlichen und
finanziellen Inferiorität Ungarns gegenüber Österreich gehabt.

Dieser schwer in die Wagschale fallende Umstand änderte sich aber un¬
erwartet rasch, als noch vor dem Sturze Tiszas Alexander Wekerle die Her¬
stellung des Gleichgewichts zwischen den Ausgaben und den Einnahmen des
Staats, einer Aufgabe, der sich "der Kavalier Graf Szapäry" ganz und gar
nicht gewachsen gezeigt hatte, in Angriff nahm, und als Gabriel Baroß eine im
vollen Sinne des Worts fanatische Jndustrieförderungsaktion als eins der
Mittel zu dem Zweck der wirtschaftlichen Emanzipation Ungarns von Österreich in
Szene setzte. Damals begannen sich immer deutlicher die Früchte der amt¬
lichen Unterrichtspolitik zu zeigen, die die ganze Gefühls- und Gedankenwelt
der magyarischen Jugend in separatistischem Sinne beeinflußt, und deutlicher
trat auch die Tendenz der Nationalpartei zu Tage, die Bestimmungen des
Ausgleichgesetzes nur als den Ausgangspunkt zu der größer" Selbständigkeit
Ungarns zu betrachten. Ganz im Sinne von Gambettas "1o ol^rivAlisrnö, v'est
l'snneiniL" gab man das Schlagwort aus, daß Osterreich, daß Wien der
Feind sei, und daß Österreichs Verlegenheit die Gelegenheit Ungarns bedeute.
Immerhin repräsentierte Wekerle noch ein Stück europäischen Bewußtseins.
Denn er hatte Verständnis für die Großmachtbedingungen der Monarchie.

Eine nicht gerade äußerlich hervortretende aber darum um so intensivere
Wendung brachte das nach der Gesinnung seines Chefs unbedingt separatistisch
gesinnte Kabinett Bänffy. Äußerlich, der Krone gegenüber, in allen Fällen
ganz skrupellos dienstwillig, vermochte es nicht der Versuchung zu widerstehn,



Besprochen in dem Artikel- "Andrassy, Dipcmli, Lang" 1898 Ur. 186 der Zeitschrift
"Die Zeit."
Reform des österreichisch-ungarischen Dncilismus

Apponyi Stellung genommen, sich vielmehr immer — wie dies denn auch sein
Sohn als Erbe seiner Anschauungen in einem auch in deutscher Sprache er¬
schienenen bemerkenswerten Buche über den 1867er Ausgleich*) gethan hat —
die höhere Einheit des „Reichs" vor Augen gehalten.

Was die Männer der Deakpartei aus Überzeugung und politischer Kon¬
sequenz gethan hatten, dazu sahen sich nach der Fusion die einstigen Führer
des linken Zentrums infolge ihrer Schwenkung genötigt. Hatten sie auch die
gegen wesentliche Bestimmungen des 1867 er Ausgleichs gerichteten Biharer
Punkte „an den Nagel gehängt," so mußten sie doch lange gegen das Mi߬
trauen der Krone kämpfen und sich darum besonders sorgfältig vor offen¬
baren Rückfällen in ihre frühern separatistischen Bestrebungen hüten. Als
Renegaten waren sie auch bereit, den Preis für eine längere Dauer ihrer ein¬
träglichen Majoritätsherrschaft zu bezahlen. Das ist der eine Grund für die
einigermaßen auffallende Thatsache, daß sich im Jahre 1888 die zweite Er¬
neuerung des wirtschaftlichen Ausgleichs weit glatter vollzog als die erste.
Aber der damals allmächtige parlamentarische Diktator Koloman Tisza hatte
bei dieser im wesentlichen unveränderten Aufrechthaltung der Beziehungen zu
Österreich, die seinen innersten Neigungen und Überzeugungen durchaus zu¬
widerlief, eben doch immer noch das klare Bewußtsein der wirtschaftlichen und
finanziellen Inferiorität Ungarns gegenüber Österreich gehabt.

Dieser schwer in die Wagschale fallende Umstand änderte sich aber un¬
erwartet rasch, als noch vor dem Sturze Tiszas Alexander Wekerle die Her¬
stellung des Gleichgewichts zwischen den Ausgaben und den Einnahmen des
Staats, einer Aufgabe, der sich „der Kavalier Graf Szapäry" ganz und gar
nicht gewachsen gezeigt hatte, in Angriff nahm, und als Gabriel Baroß eine im
vollen Sinne des Worts fanatische Jndustrieförderungsaktion als eins der
Mittel zu dem Zweck der wirtschaftlichen Emanzipation Ungarns von Österreich in
Szene setzte. Damals begannen sich immer deutlicher die Früchte der amt¬
lichen Unterrichtspolitik zu zeigen, die die ganze Gefühls- und Gedankenwelt
der magyarischen Jugend in separatistischem Sinne beeinflußt, und deutlicher
trat auch die Tendenz der Nationalpartei zu Tage, die Bestimmungen des
Ausgleichgesetzes nur als den Ausgangspunkt zu der größer» Selbständigkeit
Ungarns zu betrachten. Ganz im Sinne von Gambettas „1o ol^rivAlisrnö, v'est
l'snneiniL" gab man das Schlagwort aus, daß Osterreich, daß Wien der
Feind sei, und daß Österreichs Verlegenheit die Gelegenheit Ungarns bedeute.
Immerhin repräsentierte Wekerle noch ein Stück europäischen Bewußtseins.
Denn er hatte Verständnis für die Großmachtbedingungen der Monarchie.

Eine nicht gerade äußerlich hervortretende aber darum um so intensivere
Wendung brachte das nach der Gesinnung seines Chefs unbedingt separatistisch
gesinnte Kabinett Bänffy. Äußerlich, der Krone gegenüber, in allen Fällen
ganz skrupellos dienstwillig, vermochte es nicht der Versuchung zu widerstehn,



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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/438>, abgerufen am 28.09.2024.