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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Wie der Volksgeist des heutigen Englands geworden ist

keinerlei Vorteil oder Nachteil daran geknüpft werden, daß der Schüler den
Religionsunterricht oder Gottesdienst irgend eines Bekenntnisses, insbesondre
den von der Schule selbst etwa erteilten Religionsunterricht besucht oder nicht
besucht. Die kirchliche Zugehörigkeit soll keinerlei Unterschied, auch nicht für
die Zulassung zur Schule, begründen. Um das Fernbleiben vom Religions¬
unterricht zu erleichtern, ist vorgeschrieben, daß er stets zu Anfang oder Ende
des übrigen Unterrichts zu erteilen ist. Auf die Beobachtung der Klausel wird
streng gesehen, für gröbliche Verletzungen ist die sofortige Entziehung des
Staatszuschusses angedroht. Im allgemeinen wird die Klausel ihrem Buch¬
staben nach gewissenhaft von Schulleitungen und Lehrern befolgt. Wohl aber,
und zwar seitens der Nonkonformisten gegenüber Schulen der Staatskirche,
sind zahlreiche Klagen darüber erhoben worden, daß sie unwirksam sei.
Wenigen Eltern sei sie überhaupt bekannt, und much diese machten in der Regel
keinen Gebrauch von ihr, sei es nun, weil sie die Empfindung hätten, der
Schule gegenüber gebunden zu sein, sei es, weil sie für ihre Person oder für
ihr Kind befürchteten, Anstoß zu erregen. Namentlich ist in den Dorfschulen
der Staatskirche oft ein Druck auf die Eltern ausgeübt worden, und es ist
auch vorgekommen, daß Kinder von Dissentern z. B. durch Anweisung eines
besondern Platzes bloßgestellt worden sind. Auf der andern Seite haben
einzelne Schulleitungen in der Befolgung der Klausel weit über das Ziel ge¬
schossen, indem sie außerhalb des Religionsunterrichts, z. B. in Disziplinar-
füllen, jede Erwähnung Gottes und seiner Gebote für ausgeschlossen hielten.
Mit der Gewissensklnusel wacht der Staat nur über die Glaubensfreiheit.
Religion ist Privatsache. Wenn es den Eltern gefällt, wächst ihr Kind in
völliger Unkenntnis irgend eines Glaubens auf. Der Staat giebt auch keinerlei
Zuschuß zu dem Religionsunterricht, den die Schule erteilt, er erkennt die
religiöse Erziehung nicht als Schulzweck an. . . . Freilich ist dies in England
verhältnismäßig ungefährlich, weil noch jetzt der kirchlich-religiöse Sinn des
Volkes lebendig ist. Daß die Staatskirche nicht auch für die Volksschule an¬
erkannt ist und die Gewissensklausel besteht, beruht denn auch nicht auf einem
Zugeständnis an die nur kleine Partei, die jedem religiösen Glauben abgeneigt
ist, sondern ist ein Zugeständnis an die zahl- und einflußreichen Dissenters,
die ein ungemein starkes konfessionelles Bewußtsein haben. Das englische
System ist nicht ein Beleg für unkirchlichen, sondern für kirchlichen Sinn"
(S. 139 bis 141). Völlige Freiheit herrscht auch in der Festsetzung des Lehr-
Plnns, sodaß die englischen Volksschulen in ihrer bunten Mannigfaltigkeit teils
über unsre Volksschule hinausgehn, teils, dies allerdings meist, dahinter zurück¬
bleiben. Die Hälfte aller Volksschüler hat außer den drei Elementarfächern
nur ein "Klassenfach" und erfährt also, falls Unterricht in der Muttersprache
das eine Fach ist, nichts von Geographie, Geschichte und Naturlehre. Andre
Schulen haben eine Fülle von Klassenfächern; allerdings nehmen, da der Besuch
des Unterrichts an jedem einzelnen dieser Fächer freigestellt ist, nur wenige an
allen teil.


Wie der Volksgeist des heutigen Englands geworden ist

keinerlei Vorteil oder Nachteil daran geknüpft werden, daß der Schüler den
Religionsunterricht oder Gottesdienst irgend eines Bekenntnisses, insbesondre
den von der Schule selbst etwa erteilten Religionsunterricht besucht oder nicht
besucht. Die kirchliche Zugehörigkeit soll keinerlei Unterschied, auch nicht für
die Zulassung zur Schule, begründen. Um das Fernbleiben vom Religions¬
unterricht zu erleichtern, ist vorgeschrieben, daß er stets zu Anfang oder Ende
des übrigen Unterrichts zu erteilen ist. Auf die Beobachtung der Klausel wird
streng gesehen, für gröbliche Verletzungen ist die sofortige Entziehung des
Staatszuschusses angedroht. Im allgemeinen wird die Klausel ihrem Buch¬
staben nach gewissenhaft von Schulleitungen und Lehrern befolgt. Wohl aber,
und zwar seitens der Nonkonformisten gegenüber Schulen der Staatskirche,
sind zahlreiche Klagen darüber erhoben worden, daß sie unwirksam sei.
Wenigen Eltern sei sie überhaupt bekannt, und much diese machten in der Regel
keinen Gebrauch von ihr, sei es nun, weil sie die Empfindung hätten, der
Schule gegenüber gebunden zu sein, sei es, weil sie für ihre Person oder für
ihr Kind befürchteten, Anstoß zu erregen. Namentlich ist in den Dorfschulen
der Staatskirche oft ein Druck auf die Eltern ausgeübt worden, und es ist
auch vorgekommen, daß Kinder von Dissentern z. B. durch Anweisung eines
besondern Platzes bloßgestellt worden sind. Auf der andern Seite haben
einzelne Schulleitungen in der Befolgung der Klausel weit über das Ziel ge¬
schossen, indem sie außerhalb des Religionsunterrichts, z. B. in Disziplinar-
füllen, jede Erwähnung Gottes und seiner Gebote für ausgeschlossen hielten.
Mit der Gewissensklnusel wacht der Staat nur über die Glaubensfreiheit.
Religion ist Privatsache. Wenn es den Eltern gefällt, wächst ihr Kind in
völliger Unkenntnis irgend eines Glaubens auf. Der Staat giebt auch keinerlei
Zuschuß zu dem Religionsunterricht, den die Schule erteilt, er erkennt die
religiöse Erziehung nicht als Schulzweck an. . . . Freilich ist dies in England
verhältnismäßig ungefährlich, weil noch jetzt der kirchlich-religiöse Sinn des
Volkes lebendig ist. Daß die Staatskirche nicht auch für die Volksschule an¬
erkannt ist und die Gewissensklausel besteht, beruht denn auch nicht auf einem
Zugeständnis an die nur kleine Partei, die jedem religiösen Glauben abgeneigt
ist, sondern ist ein Zugeständnis an die zahl- und einflußreichen Dissenters,
die ein ungemein starkes konfessionelles Bewußtsein haben. Das englische
System ist nicht ein Beleg für unkirchlichen, sondern für kirchlichen Sinn"
(S. 139 bis 141). Völlige Freiheit herrscht auch in der Festsetzung des Lehr-
Plnns, sodaß die englischen Volksschulen in ihrer bunten Mannigfaltigkeit teils
über unsre Volksschule hinausgehn, teils, dies allerdings meist, dahinter zurück¬
bleiben. Die Hälfte aller Volksschüler hat außer den drei Elementarfächern
nur ein „Klassenfach" und erfährt also, falls Unterricht in der Muttersprache
das eine Fach ist, nichts von Geographie, Geschichte und Naturlehre. Andre
Schulen haben eine Fülle von Klassenfächern; allerdings nehmen, da der Besuch
des Unterrichts an jedem einzelnen dieser Fächer freigestellt ist, nur wenige an
allen teil.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/397>, abgerufen am 29.06.2024.