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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Wie der Volksgeist des heutigen Englands geworden ist

Aus der vortrefflichen Darstellung des höhern Schulwesens heben wir
nur ein paar charakteristische Züge hervor. Bekanntlich werden die Schüler
der etwa unsern Gymnasien entsprechenden sieben Stiftungsschulen, von denen
Eton und Harrow die berühmtesten sind (die übrigen heißen Rugby, Shrews-
bury, Winchester, Westminster und Charterhouse), mit den Büchern nicht allzu¬
sehr geplagt; in Harrow werden nach Nostitz kaum sechs bis sieben Stunden
geistiger Arbeit, einschließlich der häuslichen, auf den Tag gerechnet. Dabei
erfreuen sich die Burschen vollkommner Freiheit in der Verwendung ihrer
reichlich zugemessenen Sport- und Erholungszeit, sodaß sie selbständig handeln
lernen und von ihrer jugendlichen Frische und Fröhlichkeit nichts einbüßen.
Aber -- Prügel bekommen sie, und das häufig und derb. Für eine Schande
halten sie sie so wenig, daß "man sagt, jeder Schüler wünsche sie sich im
stillen wenigstens einmal, dann allerdings nicht wieder." Zwischen Prügeln
und Prügeln ist eben ein Unterschied. Wenn ein schwächliches und nervöses
Stubenpflänzchen von acht oder zehn Jahren gestoßen, gerauft, um ganzen
Körper braun und blau geschlagen wird, so ist das rohe Mißhandlung, die
niemals etwas Gutes bewirken, wohl aber großen seelischen und leiblichen
Schaden anrichten kann. Wenn dagegen einem derben und gesunden Jungen
von vierzehn bis sechzehn Jahren, der keine "Nerven," dafür aber starke
Knochen und feste Muskeln hat, der untere Teil des Rückens manchmal mit
einem Stöckchen bearbeitet wird, und wenn ihm das nach dem herrschenden
Komment mehr Ehre als Schande bringt, so ist kein Unglück dabei, obwohl
natürlich die Aufhebung dieses Komments auch nichts schaden würde. Die
Söhne der englischen Vornehmen werden, wie Nostitz hervorhebt, dem Verkehr
mit den Eltern sehr zeitig entzogen, oder vielmehr genießen ihn überhaupt
nicht. Vor dem vierzehnten Jahre bleiben sie in der Kinderstube, dann kommen
sie auf die Stiftsschule, dann auf die Universität, die keiner "am Ort" hat,
und wo sie meist im College wohnen. Und das geschieht zu ihrem Heil. Denn
die Tagesordnung, die Zeit und Art der Mahlzeiten, Erholungen und Ver¬
gnügungen der Vornehmen eignet sich durchaus nicht für Kinder und junge
Leute; sollen diese gesund bleiben, so müssen sie abgesondert leben. Diese ab¬
gesonderte, ganz den Bedürfnissen der Jugend angemessene Lebensweise hat
nun zur Folge, daß sie nicht allein gesund und frisch bleiben und ungemein
kräftig werden, sondern daß sie auch die Kindlichkeit viel länger bewahren als
unsre jungen Leute, die einerseits um den Unterhaltungen, Vergnügungen und
Sorgen der Erwachsenen teilnehmen, andrerseits durch übermäßige Denkarbeit
zum Grübeln verführt werden; in England macht nach Nostitz auch der begabte
junge Mann viel länger den Eindruck eines großen Jungen. Was ihm im
Vergleich mit unsern Abiturienten und Studenten an positiven Kenntnissei:
abgeht, das kann er sich bei seiner rüstigen Körperkraft mit seiner unge¬
schwächten geistigen Aufnahmefähigkeit nachträglich, wenn er merkt, daß ers
braucht, leicht und rasch erwerben. Und, großes Kind, wie er ist, interessiert
er sich doch schon als Schüler für das politische Leben seines Landes und


Wie der Volksgeist des heutigen Englands geworden ist

Aus der vortrefflichen Darstellung des höhern Schulwesens heben wir
nur ein paar charakteristische Züge hervor. Bekanntlich werden die Schüler
der etwa unsern Gymnasien entsprechenden sieben Stiftungsschulen, von denen
Eton und Harrow die berühmtesten sind (die übrigen heißen Rugby, Shrews-
bury, Winchester, Westminster und Charterhouse), mit den Büchern nicht allzu¬
sehr geplagt; in Harrow werden nach Nostitz kaum sechs bis sieben Stunden
geistiger Arbeit, einschließlich der häuslichen, auf den Tag gerechnet. Dabei
erfreuen sich die Burschen vollkommner Freiheit in der Verwendung ihrer
reichlich zugemessenen Sport- und Erholungszeit, sodaß sie selbständig handeln
lernen und von ihrer jugendlichen Frische und Fröhlichkeit nichts einbüßen.
Aber — Prügel bekommen sie, und das häufig und derb. Für eine Schande
halten sie sie so wenig, daß „man sagt, jeder Schüler wünsche sie sich im
stillen wenigstens einmal, dann allerdings nicht wieder." Zwischen Prügeln
und Prügeln ist eben ein Unterschied. Wenn ein schwächliches und nervöses
Stubenpflänzchen von acht oder zehn Jahren gestoßen, gerauft, um ganzen
Körper braun und blau geschlagen wird, so ist das rohe Mißhandlung, die
niemals etwas Gutes bewirken, wohl aber großen seelischen und leiblichen
Schaden anrichten kann. Wenn dagegen einem derben und gesunden Jungen
von vierzehn bis sechzehn Jahren, der keine „Nerven," dafür aber starke
Knochen und feste Muskeln hat, der untere Teil des Rückens manchmal mit
einem Stöckchen bearbeitet wird, und wenn ihm das nach dem herrschenden
Komment mehr Ehre als Schande bringt, so ist kein Unglück dabei, obwohl
natürlich die Aufhebung dieses Komments auch nichts schaden würde. Die
Söhne der englischen Vornehmen werden, wie Nostitz hervorhebt, dem Verkehr
mit den Eltern sehr zeitig entzogen, oder vielmehr genießen ihn überhaupt
nicht. Vor dem vierzehnten Jahre bleiben sie in der Kinderstube, dann kommen
sie auf die Stiftsschule, dann auf die Universität, die keiner „am Ort" hat,
und wo sie meist im College wohnen. Und das geschieht zu ihrem Heil. Denn
die Tagesordnung, die Zeit und Art der Mahlzeiten, Erholungen und Ver¬
gnügungen der Vornehmen eignet sich durchaus nicht für Kinder und junge
Leute; sollen diese gesund bleiben, so müssen sie abgesondert leben. Diese ab¬
gesonderte, ganz den Bedürfnissen der Jugend angemessene Lebensweise hat
nun zur Folge, daß sie nicht allein gesund und frisch bleiben und ungemein
kräftig werden, sondern daß sie auch die Kindlichkeit viel länger bewahren als
unsre jungen Leute, die einerseits um den Unterhaltungen, Vergnügungen und
Sorgen der Erwachsenen teilnehmen, andrerseits durch übermäßige Denkarbeit
zum Grübeln verführt werden; in England macht nach Nostitz auch der begabte
junge Mann viel länger den Eindruck eines großen Jungen. Was ihm im
Vergleich mit unsern Abiturienten und Studenten an positiven Kenntnissei:
abgeht, das kann er sich bei seiner rüstigen Körperkraft mit seiner unge¬
schwächten geistigen Aufnahmefähigkeit nachträglich, wenn er merkt, daß ers
braucht, leicht und rasch erwerben. Und, großes Kind, wie er ist, interessiert
er sich doch schon als Schüler für das politische Leben seines Landes und


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[0398] Wie der Volksgeist des heutigen Englands geworden ist Aus der vortrefflichen Darstellung des höhern Schulwesens heben wir nur ein paar charakteristische Züge hervor. Bekanntlich werden die Schüler der etwa unsern Gymnasien entsprechenden sieben Stiftungsschulen, von denen Eton und Harrow die berühmtesten sind (die übrigen heißen Rugby, Shrews- bury, Winchester, Westminster und Charterhouse), mit den Büchern nicht allzu¬ sehr geplagt; in Harrow werden nach Nostitz kaum sechs bis sieben Stunden geistiger Arbeit, einschließlich der häuslichen, auf den Tag gerechnet. Dabei erfreuen sich die Burschen vollkommner Freiheit in der Verwendung ihrer reichlich zugemessenen Sport- und Erholungszeit, sodaß sie selbständig handeln lernen und von ihrer jugendlichen Frische und Fröhlichkeit nichts einbüßen. Aber — Prügel bekommen sie, und das häufig und derb. Für eine Schande halten sie sie so wenig, daß „man sagt, jeder Schüler wünsche sie sich im stillen wenigstens einmal, dann allerdings nicht wieder." Zwischen Prügeln und Prügeln ist eben ein Unterschied. Wenn ein schwächliches und nervöses Stubenpflänzchen von acht oder zehn Jahren gestoßen, gerauft, um ganzen Körper braun und blau geschlagen wird, so ist das rohe Mißhandlung, die niemals etwas Gutes bewirken, wohl aber großen seelischen und leiblichen Schaden anrichten kann. Wenn dagegen einem derben und gesunden Jungen von vierzehn bis sechzehn Jahren, der keine „Nerven," dafür aber starke Knochen und feste Muskeln hat, der untere Teil des Rückens manchmal mit einem Stöckchen bearbeitet wird, und wenn ihm das nach dem herrschenden Komment mehr Ehre als Schande bringt, so ist kein Unglück dabei, obwohl natürlich die Aufhebung dieses Komments auch nichts schaden würde. Die Söhne der englischen Vornehmen werden, wie Nostitz hervorhebt, dem Verkehr mit den Eltern sehr zeitig entzogen, oder vielmehr genießen ihn überhaupt nicht. Vor dem vierzehnten Jahre bleiben sie in der Kinderstube, dann kommen sie auf die Stiftsschule, dann auf die Universität, die keiner „am Ort" hat, und wo sie meist im College wohnen. Und das geschieht zu ihrem Heil. Denn die Tagesordnung, die Zeit und Art der Mahlzeiten, Erholungen und Ver¬ gnügungen der Vornehmen eignet sich durchaus nicht für Kinder und junge Leute; sollen diese gesund bleiben, so müssen sie abgesondert leben. Diese ab¬ gesonderte, ganz den Bedürfnissen der Jugend angemessene Lebensweise hat nun zur Folge, daß sie nicht allein gesund und frisch bleiben und ungemein kräftig werden, sondern daß sie auch die Kindlichkeit viel länger bewahren als unsre jungen Leute, die einerseits um den Unterhaltungen, Vergnügungen und Sorgen der Erwachsenen teilnehmen, andrerseits durch übermäßige Denkarbeit zum Grübeln verführt werden; in England macht nach Nostitz auch der begabte junge Mann viel länger den Eindruck eines großen Jungen. Was ihm im Vergleich mit unsern Abiturienten und Studenten an positiven Kenntnissei: abgeht, das kann er sich bei seiner rüstigen Körperkraft mit seiner unge¬ schwächten geistigen Aufnahmefähigkeit nachträglich, wenn er merkt, daß ers braucht, leicht und rasch erwerben. Und, großes Kind, wie er ist, interessiert er sich doch schon als Schüler für das politische Leben seines Landes und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/398>, abgerufen am 28.09.2024.