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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Herbsttage in der Lisel

begriffne Haus wurde aus Steinen aufgeführt, zeigte überhaupt in seiner
ganzen Anlage einen gewissen Wohlstand. Wo die Straße das Dorf verläßt,
steht eine kleine den vierzehn Nothelfern geweihte Kapelle am Wege. Die
vielfarbigen Figürchen der gnadenreichen Heiligen standen in zwei übereinander
angebrachten Reihen auf dem schmucklosen Steinaltärchen, sie hatten in Form
und Farbe eine verzweifelte Ähnlichkeit mit den buntverzierten Lebkuchenfiguren,
wie sie auf den Jahrmärkten der Dörfer feilgeboten werden. Hilfsbedürftige
oder dankbare Seelen hatten durch das Drahtgitter der Pforte als bescheidnes
Opfer Papierblumen gesteckt, bei deren Anblick mir der Gedanke kam, die Not
der armen Leute müsse in der That groß sein, wenn sie zu diesen Fetischen
-- anders kann ich diese Glanzproben künstlerischen Unvermögens beim besten
Willen nicht bezeichnen -- Vertrauen haben. Weit vom Ort entfernt, auf
einem Schieferfelsen über der Ahr, in die sich der Wirftbach an dieser Stelle
ergießt, liegen die Kirche und das Schulhaus. Der Geistliche, der dort oben
gleichfalls seine Wohnung hat, muß sich wie ein kleiner Burgherr vorkommen,
wenn er von seinem Fenster aus in das grüne Thal und auf das klare
Forellenwasser, das den Fuß des Felsens umspült, hinabschaut. Um mir die
etwa fünf Kilometer lange Schleife der Chaussee zu ersparen, stieg ich, nachdem
ich den Ahrsteg überschritten hatte, zur Kirche empor, in der Erwartung, dort
oben wieder die Straße zu erreichen. Diese Erwartung wurde freilich getäuscht,
da die Chaussee offenbar eine weit größere Biegung machte, als ich vermutet
hatte, und wie es schien in plötzlich veränderter Richtung über einen ent¬
fernten Höhenrücken dahinzog. Aber ich bereute den Aufstieg uicht. Weder
die Kirche noch das Schulhaus war verschlossen, aber von Menschen war keine
Spur zu sehen. Nachdem ich mich im Innern des kleinen, anheimelnden
Gotteshauses abgekühlt hatte, setzte ich mich auf die Kirchhofmauer und ließ,
vom Winde umweht, den Blick über das weite Land dahinschiveifen. Bei
dieser Gelegenheit konnte ich beobachten, wie die Elemente an der Zerstörung
des Felsens arbeiten. Der Fels ist frei von Alluvium, überall tritt das
blättrige Geschiebe des Gesteins zu Tage. Unter meinen Tritten mußten sich
größere und kleinere Stücke des Schiefers gelockert haben; ich sah jetzt, wie
der Wind sie völlig losriß und über den steilabfallenden Abhang ins Thal
trieb. Immer neue Bröckchen blätterten ub und nahmen alle denselben Weg
in die Tiefe. Jetzt konnte ich mir erklären, weshalb die Kirche auf einer be¬
sondern, ihrer Größe genau entsprechenden Erhebung des Felsens zu thronen
schien: sie war einfach im Lause der Zeit dadurch emporgestiegen, daß ihre
Umgebung auf die von mir beobachtete Weise langsam gesunken war. So
hatte ich Gelegenheit gehabt, einem Prozeß als Zeuge beizuwohnen, dessen
Verlauf wir kurzlebigen Erdensöhne in der Regel nur auf dem Wege hypothe¬
tischer Schlußfolgerung zu ergründen pflegen.




Herbsttage in der Lisel

begriffne Haus wurde aus Steinen aufgeführt, zeigte überhaupt in seiner
ganzen Anlage einen gewissen Wohlstand. Wo die Straße das Dorf verläßt,
steht eine kleine den vierzehn Nothelfern geweihte Kapelle am Wege. Die
vielfarbigen Figürchen der gnadenreichen Heiligen standen in zwei übereinander
angebrachten Reihen auf dem schmucklosen Steinaltärchen, sie hatten in Form
und Farbe eine verzweifelte Ähnlichkeit mit den buntverzierten Lebkuchenfiguren,
wie sie auf den Jahrmärkten der Dörfer feilgeboten werden. Hilfsbedürftige
oder dankbare Seelen hatten durch das Drahtgitter der Pforte als bescheidnes
Opfer Papierblumen gesteckt, bei deren Anblick mir der Gedanke kam, die Not
der armen Leute müsse in der That groß sein, wenn sie zu diesen Fetischen
— anders kann ich diese Glanzproben künstlerischen Unvermögens beim besten
Willen nicht bezeichnen — Vertrauen haben. Weit vom Ort entfernt, auf
einem Schieferfelsen über der Ahr, in die sich der Wirftbach an dieser Stelle
ergießt, liegen die Kirche und das Schulhaus. Der Geistliche, der dort oben
gleichfalls seine Wohnung hat, muß sich wie ein kleiner Burgherr vorkommen,
wenn er von seinem Fenster aus in das grüne Thal und auf das klare
Forellenwasser, das den Fuß des Felsens umspült, hinabschaut. Um mir die
etwa fünf Kilometer lange Schleife der Chaussee zu ersparen, stieg ich, nachdem
ich den Ahrsteg überschritten hatte, zur Kirche empor, in der Erwartung, dort
oben wieder die Straße zu erreichen. Diese Erwartung wurde freilich getäuscht,
da die Chaussee offenbar eine weit größere Biegung machte, als ich vermutet
hatte, und wie es schien in plötzlich veränderter Richtung über einen ent¬
fernten Höhenrücken dahinzog. Aber ich bereute den Aufstieg uicht. Weder
die Kirche noch das Schulhaus war verschlossen, aber von Menschen war keine
Spur zu sehen. Nachdem ich mich im Innern des kleinen, anheimelnden
Gotteshauses abgekühlt hatte, setzte ich mich auf die Kirchhofmauer und ließ,
vom Winde umweht, den Blick über das weite Land dahinschiveifen. Bei
dieser Gelegenheit konnte ich beobachten, wie die Elemente an der Zerstörung
des Felsens arbeiten. Der Fels ist frei von Alluvium, überall tritt das
blättrige Geschiebe des Gesteins zu Tage. Unter meinen Tritten mußten sich
größere und kleinere Stücke des Schiefers gelockert haben; ich sah jetzt, wie
der Wind sie völlig losriß und über den steilabfallenden Abhang ins Thal
trieb. Immer neue Bröckchen blätterten ub und nahmen alle denselben Weg
in die Tiefe. Jetzt konnte ich mir erklären, weshalb die Kirche auf einer be¬
sondern, ihrer Größe genau entsprechenden Erhebung des Felsens zu thronen
schien: sie war einfach im Lause der Zeit dadurch emporgestiegen, daß ihre
Umgebung auf die von mir beobachtete Weise langsam gesunken war. So
hatte ich Gelegenheit gehabt, einem Prozeß als Zeuge beizuwohnen, dessen
Verlauf wir kurzlebigen Erdensöhne in der Regel nur auf dem Wege hypothe¬
tischer Schlußfolgerung zu ergründen pflegen.




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[0375] Herbsttage in der Lisel begriffne Haus wurde aus Steinen aufgeführt, zeigte überhaupt in seiner ganzen Anlage einen gewissen Wohlstand. Wo die Straße das Dorf verläßt, steht eine kleine den vierzehn Nothelfern geweihte Kapelle am Wege. Die vielfarbigen Figürchen der gnadenreichen Heiligen standen in zwei übereinander angebrachten Reihen auf dem schmucklosen Steinaltärchen, sie hatten in Form und Farbe eine verzweifelte Ähnlichkeit mit den buntverzierten Lebkuchenfiguren, wie sie auf den Jahrmärkten der Dörfer feilgeboten werden. Hilfsbedürftige oder dankbare Seelen hatten durch das Drahtgitter der Pforte als bescheidnes Opfer Papierblumen gesteckt, bei deren Anblick mir der Gedanke kam, die Not der armen Leute müsse in der That groß sein, wenn sie zu diesen Fetischen — anders kann ich diese Glanzproben künstlerischen Unvermögens beim besten Willen nicht bezeichnen — Vertrauen haben. Weit vom Ort entfernt, auf einem Schieferfelsen über der Ahr, in die sich der Wirftbach an dieser Stelle ergießt, liegen die Kirche und das Schulhaus. Der Geistliche, der dort oben gleichfalls seine Wohnung hat, muß sich wie ein kleiner Burgherr vorkommen, wenn er von seinem Fenster aus in das grüne Thal und auf das klare Forellenwasser, das den Fuß des Felsens umspült, hinabschaut. Um mir die etwa fünf Kilometer lange Schleife der Chaussee zu ersparen, stieg ich, nachdem ich den Ahrsteg überschritten hatte, zur Kirche empor, in der Erwartung, dort oben wieder die Straße zu erreichen. Diese Erwartung wurde freilich getäuscht, da die Chaussee offenbar eine weit größere Biegung machte, als ich vermutet hatte, und wie es schien in plötzlich veränderter Richtung über einen ent¬ fernten Höhenrücken dahinzog. Aber ich bereute den Aufstieg uicht. Weder die Kirche noch das Schulhaus war verschlossen, aber von Menschen war keine Spur zu sehen. Nachdem ich mich im Innern des kleinen, anheimelnden Gotteshauses abgekühlt hatte, setzte ich mich auf die Kirchhofmauer und ließ, vom Winde umweht, den Blick über das weite Land dahinschiveifen. Bei dieser Gelegenheit konnte ich beobachten, wie die Elemente an der Zerstörung des Felsens arbeiten. Der Fels ist frei von Alluvium, überall tritt das blättrige Geschiebe des Gesteins zu Tage. Unter meinen Tritten mußten sich größere und kleinere Stücke des Schiefers gelockert haben; ich sah jetzt, wie der Wind sie völlig losriß und über den steilabfallenden Abhang ins Thal trieb. Immer neue Bröckchen blätterten ub und nahmen alle denselben Weg in die Tiefe. Jetzt konnte ich mir erklären, weshalb die Kirche auf einer be¬ sondern, ihrer Größe genau entsprechenden Erhebung des Felsens zu thronen schien: sie war einfach im Lause der Zeit dadurch emporgestiegen, daß ihre Umgebung auf die von mir beobachtete Weise langsam gesunken war. So hatte ich Gelegenheit gehabt, einem Prozeß als Zeuge beizuwohnen, dessen Verlauf wir kurzlebigen Erdensöhne in der Regel nur auf dem Wege hypothe¬ tischer Schlußfolgerung zu ergründen pflegen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/375>, abgerufen am 29.06.2024.