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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Neue Bücher über Musik

Verbindung zu setzen. Scheinbar stehn sie zu einander in dem Gegensatz
von Fortschritt und Reaktion, thatsächlich kommen sie in der Absicht überein,
deu musikalischen Ideengehalt der Zeit zu bereichern. Franz Liszt hat den
Beweis erbracht, daß sich in einer Person beide Strömungen sehr wohl
vereinigen können. Sein Herz schlug für Wagner und für Bach zugleich, die
Eigentümlichkeit des Stils seiner großen Vokalwerke beruht nicht zum ge¬
ringsten auf der Kenntnis und Benutzung alter Ausdrucksmittel und Formen.
Und wie bei ihm läßt sich an einer ganzen Reihe neuerer Tonsetzer der
Einfluß alter Kunst und alter Meister verfolgen. Die vierte Sinfonie von
Brahms z. B. ist voll davon, auch der Schein von Originalität, der die
Oratorien des nur mittelmüßig begabten Pcrosi bei den Italienern zu einem
so gewaltigen Ansehen gebracht hat, geht auf die Einmischung alter Elemente,
der Motcttenpassion, zurück. Die Wiederbelebung alter Tonkunst ist also
eine Thatsache, sie ist aber noch weit vom Ziel entfernt. Die neudeutsche
Bewegung hat gesiegt, die andre hat es noch nicht einmal zu einer ge¬
nügenden Organisation gebracht, ihre bisherigen Erfolge sind den Musikern
aufgezwungen worden. Unter diesen Umstünden ist eine Schrift, die einmal
das Verständnis für die Bedeutung der in Frage kommenden Bestrebungen in
weiten Kreisen zu wecken sucht, an sich ein Verdienst. Ein Autor, der sich
dieser Aufgabe unterzieht, würde sie am einfachsten in drei Teilen lösen können:
1. Die Bedeutung der Wiederbelebung alter Tonkunst; 2. ihre bisherige Ge¬
schichte; 3. ihre Pflichten für die Zukunft. Hohenemser stellt das Thema
schon etwas zu eng: der Einfluß auf die Komponisten ist nur ein Teil
des Ganzen und der Teil, der sich äußerlich am wenigsten bemerkbar macht.
Er hat aber auch dieses Bruchstück nur halb erledigt und kommt auf den
135 Seiten seiner Abhandlung nur mit der Vokalmusik zum Abschluß. Das
ist ein taktischer Fehler. Wer ein Lied anstimme, das die Gemüter packen
soll, muß die Melodie zu Ende führen, jahrelang auf Fortsetzungen zu warten
hat unsre Zeit nicht die Geduld. Die Bewegung an sich hat der Verfasser
mit vielem Fleiß studiert. Mit Recht führt er sie auf die deutschen Roman¬
tiker zurück und giebt dafür aus den Schriften Tiecks und seiner Genossen
manchen Beleg, der bisher noch nicht ans Licht gezogen worden ist. Die
Schwierigkeiten, die ihr die Fachmusiker machten, werden sehr hübsch aus den
Briefen M. Hauptmanns veranschaulicht, der im Jahre 1824 Palestrinaischer
Musik nur einen akademischen Wert für die Geschichtsbücher der Musik beimißt,
neun Jahre später aber sie für die einzig wirkliche Kirchenmusik erklärt und
eine Palestrinaausgabe beantragt. Auch die für den weitern Verlauf der Be¬
strebungen wichtigen Ereignisse hat Hohenemser wohl alle berücksichtigt. Er
würde aber dem Leser besser gedient haben, wenn er schlichter und kürzer
berichtet, vielleicht einfach in Form einer Liste alle die Neuausgaben alter
Musik, die im Inland und Ausland erschienen sind, angeführt hätte. Dein
Auge schon thäte es wohl, zu sehen, wie die Strömung breiter wird, wie
an die Stelle des Zufalls, der persönlichen Neigungen System tritt, wie die


Neue Bücher über Musik

Verbindung zu setzen. Scheinbar stehn sie zu einander in dem Gegensatz
von Fortschritt und Reaktion, thatsächlich kommen sie in der Absicht überein,
deu musikalischen Ideengehalt der Zeit zu bereichern. Franz Liszt hat den
Beweis erbracht, daß sich in einer Person beide Strömungen sehr wohl
vereinigen können. Sein Herz schlug für Wagner und für Bach zugleich, die
Eigentümlichkeit des Stils seiner großen Vokalwerke beruht nicht zum ge¬
ringsten auf der Kenntnis und Benutzung alter Ausdrucksmittel und Formen.
Und wie bei ihm läßt sich an einer ganzen Reihe neuerer Tonsetzer der
Einfluß alter Kunst und alter Meister verfolgen. Die vierte Sinfonie von
Brahms z. B. ist voll davon, auch der Schein von Originalität, der die
Oratorien des nur mittelmüßig begabten Pcrosi bei den Italienern zu einem
so gewaltigen Ansehen gebracht hat, geht auf die Einmischung alter Elemente,
der Motcttenpassion, zurück. Die Wiederbelebung alter Tonkunst ist also
eine Thatsache, sie ist aber noch weit vom Ziel entfernt. Die neudeutsche
Bewegung hat gesiegt, die andre hat es noch nicht einmal zu einer ge¬
nügenden Organisation gebracht, ihre bisherigen Erfolge sind den Musikern
aufgezwungen worden. Unter diesen Umstünden ist eine Schrift, die einmal
das Verständnis für die Bedeutung der in Frage kommenden Bestrebungen in
weiten Kreisen zu wecken sucht, an sich ein Verdienst. Ein Autor, der sich
dieser Aufgabe unterzieht, würde sie am einfachsten in drei Teilen lösen können:
1. Die Bedeutung der Wiederbelebung alter Tonkunst; 2. ihre bisherige Ge¬
schichte; 3. ihre Pflichten für die Zukunft. Hohenemser stellt das Thema
schon etwas zu eng: der Einfluß auf die Komponisten ist nur ein Teil
des Ganzen und der Teil, der sich äußerlich am wenigsten bemerkbar macht.
Er hat aber auch dieses Bruchstück nur halb erledigt und kommt auf den
135 Seiten seiner Abhandlung nur mit der Vokalmusik zum Abschluß. Das
ist ein taktischer Fehler. Wer ein Lied anstimme, das die Gemüter packen
soll, muß die Melodie zu Ende führen, jahrelang auf Fortsetzungen zu warten
hat unsre Zeit nicht die Geduld. Die Bewegung an sich hat der Verfasser
mit vielem Fleiß studiert. Mit Recht führt er sie auf die deutschen Roman¬
tiker zurück und giebt dafür aus den Schriften Tiecks und seiner Genossen
manchen Beleg, der bisher noch nicht ans Licht gezogen worden ist. Die
Schwierigkeiten, die ihr die Fachmusiker machten, werden sehr hübsch aus den
Briefen M. Hauptmanns veranschaulicht, der im Jahre 1824 Palestrinaischer
Musik nur einen akademischen Wert für die Geschichtsbücher der Musik beimißt,
neun Jahre später aber sie für die einzig wirkliche Kirchenmusik erklärt und
eine Palestrinaausgabe beantragt. Auch die für den weitern Verlauf der Be¬
strebungen wichtigen Ereignisse hat Hohenemser wohl alle berücksichtigt. Er
würde aber dem Leser besser gedient haben, wenn er schlichter und kürzer
berichtet, vielleicht einfach in Form einer Liste alle die Neuausgaben alter
Musik, die im Inland und Ausland erschienen sind, angeführt hätte. Dein
Auge schon thäte es wohl, zu sehen, wie die Strömung breiter wird, wie
an die Stelle des Zufalls, der persönlichen Neigungen System tritt, wie die


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[0364] Neue Bücher über Musik Verbindung zu setzen. Scheinbar stehn sie zu einander in dem Gegensatz von Fortschritt und Reaktion, thatsächlich kommen sie in der Absicht überein, deu musikalischen Ideengehalt der Zeit zu bereichern. Franz Liszt hat den Beweis erbracht, daß sich in einer Person beide Strömungen sehr wohl vereinigen können. Sein Herz schlug für Wagner und für Bach zugleich, die Eigentümlichkeit des Stils seiner großen Vokalwerke beruht nicht zum ge¬ ringsten auf der Kenntnis und Benutzung alter Ausdrucksmittel und Formen. Und wie bei ihm läßt sich an einer ganzen Reihe neuerer Tonsetzer der Einfluß alter Kunst und alter Meister verfolgen. Die vierte Sinfonie von Brahms z. B. ist voll davon, auch der Schein von Originalität, der die Oratorien des nur mittelmüßig begabten Pcrosi bei den Italienern zu einem so gewaltigen Ansehen gebracht hat, geht auf die Einmischung alter Elemente, der Motcttenpassion, zurück. Die Wiederbelebung alter Tonkunst ist also eine Thatsache, sie ist aber noch weit vom Ziel entfernt. Die neudeutsche Bewegung hat gesiegt, die andre hat es noch nicht einmal zu einer ge¬ nügenden Organisation gebracht, ihre bisherigen Erfolge sind den Musikern aufgezwungen worden. Unter diesen Umstünden ist eine Schrift, die einmal das Verständnis für die Bedeutung der in Frage kommenden Bestrebungen in weiten Kreisen zu wecken sucht, an sich ein Verdienst. Ein Autor, der sich dieser Aufgabe unterzieht, würde sie am einfachsten in drei Teilen lösen können: 1. Die Bedeutung der Wiederbelebung alter Tonkunst; 2. ihre bisherige Ge¬ schichte; 3. ihre Pflichten für die Zukunft. Hohenemser stellt das Thema schon etwas zu eng: der Einfluß auf die Komponisten ist nur ein Teil des Ganzen und der Teil, der sich äußerlich am wenigsten bemerkbar macht. Er hat aber auch dieses Bruchstück nur halb erledigt und kommt auf den 135 Seiten seiner Abhandlung nur mit der Vokalmusik zum Abschluß. Das ist ein taktischer Fehler. Wer ein Lied anstimme, das die Gemüter packen soll, muß die Melodie zu Ende führen, jahrelang auf Fortsetzungen zu warten hat unsre Zeit nicht die Geduld. Die Bewegung an sich hat der Verfasser mit vielem Fleiß studiert. Mit Recht führt er sie auf die deutschen Roman¬ tiker zurück und giebt dafür aus den Schriften Tiecks und seiner Genossen manchen Beleg, der bisher noch nicht ans Licht gezogen worden ist. Die Schwierigkeiten, die ihr die Fachmusiker machten, werden sehr hübsch aus den Briefen M. Hauptmanns veranschaulicht, der im Jahre 1824 Palestrinaischer Musik nur einen akademischen Wert für die Geschichtsbücher der Musik beimißt, neun Jahre später aber sie für die einzig wirkliche Kirchenmusik erklärt und eine Palestrinaausgabe beantragt. Auch die für den weitern Verlauf der Be¬ strebungen wichtigen Ereignisse hat Hohenemser wohl alle berücksichtigt. Er würde aber dem Leser besser gedient haben, wenn er schlichter und kürzer berichtet, vielleicht einfach in Form einer Liste alle die Neuausgaben alter Musik, die im Inland und Ausland erschienen sind, angeführt hätte. Dein Auge schon thäte es wohl, zu sehen, wie die Strömung breiter wird, wie an die Stelle des Zufalls, der persönlichen Neigungen System tritt, wie die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/364>, abgerufen am 29.06.2024.