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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Neue Bücher über^Musik

Eine solche Arbeit hat vor fünfzig Jahren gefehlt, sie würde viel unnützen
Streit verhütet haben. Sie ist aber noch heute willkommen, kann den Gegnern
wie den Anhängern der neuen Musik nützen. Deren Wert und Berechtigung
sicher zu beurteilen schlägt Rietsch den richtigen Weg ein. Nicht vom ersten ästhe¬
tischen Eindruck, meint er, dürfen wir ausgehn, sondern von der Feststellung
des musikalischen Thatbestands. So führt er denn die Leser vor die nach seiner
Ansicht wichtigsten Stilneuernngen in den Werken der beiden Komponisten
und beleuchtet sie psychologisch und geschichtlich mit einem Ergebnis, das
sich kurz in den Satz fassen läßt: Die Arbeit von Rietsch ist die wirksamste
Verteidigungsschrift, die bisher zu Gunsten der neudeutschen Musik erschienen
ist. Sie hat ihre Mängel, den größten darin, daß sie aus der Summe der
neuen stilistischen Elemente die harmonischen zu einseitig hervorhebt. Worin sich
eine Lisztsche Sinfonie von einer Beethovenschen unterscheidet, erfährt man durch
Rietsch nicht, auch nicht einmal durch einen Hinweis auf verwandte Arbeiten.
Aber trotz dieser Beschränkung wirbt sein Buch für die Sache, der es gewidmet
ist, wie kein andres durch das außerordentliche pädagogische Geschick der Dar¬
stellung. Auch Otto Tiersch und andre haben in neuen Harmonielehren die¬
selben Ansichten wie Rietsch vertreten; er erreicht aber das hundertfache durch
die Wahl der Beispiele und noch mehr durch die frischen und beziehungsvollen
Erläuterungen, mit denen er sie versieht. Soweit er dabei geschichtlich kom¬
mentiert, darf mau sich verwundern, daß zu den Vergleichen die große
Revolutionsperiode von 1600 und die ihr folgende Zeit so wenig heran¬
gezogen ist.

Am Schlüsse der Arbeit wirft der Verfasser einen Blick auf die aus¬
führende Musik der Periode. Auch sie arbeitet wie die Komposition auf be¬
stimmtem und reichern Ausdruck hin, auch sie beansprucht zu diesen: Zweck
eine größere Freiheit in der Behandlung der Vorlagen und der hergebrachten
Regeln. Die heute noch andauernden Bemühungen um die Gesetze des musi¬
kalischen Vortrags datieren seit dem Auftreten Franz Liszts. Liszt war es,
der den Dirigenten zurief: Wir sind Steuermänner, keine Ruderknechte.
R. Wagner stellte sich mit der Broschüre: "Über das Dirigieren" an die Seite
seines Freundes. Im weitem Laufe dieser Bewegung ist dann Hans von
Bülow besonders hervorgetreten. Rietsch geht aber zu weit, wenn er ihn den
"Erneuerer der nachschaffenden Kunst in unserm Zeitabschnitt" nennt und
Phantasiert vollständig, wenn er von "zahllosen Schriften" spricht, in denen
Bülow seine Anschauungen zur Geltung gebracht habe.

Zu der Arbeit von Rietsch ist das vierte Stück der Sammlung eine vor¬
zügliche Ergänzung. In ihm stellt Richard Hohenemser die Frage:
"Welche Einflüsse hatte die Wiederbelebung der ältern Musik im neunzehnten
Jahrhundert auf die deutschen Komponisten?" Die wichtigsten musikalischen
Erscheinungen in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts sind die
Werke und die Bestrebungen der neudeutschen auf der einen Seite, auf der
andern die Versuche, die Gegenwart mit den Schätzen der ältern Tonkunst in


Grenzboten IV 1900 42
Neue Bücher über^Musik

Eine solche Arbeit hat vor fünfzig Jahren gefehlt, sie würde viel unnützen
Streit verhütet haben. Sie ist aber noch heute willkommen, kann den Gegnern
wie den Anhängern der neuen Musik nützen. Deren Wert und Berechtigung
sicher zu beurteilen schlägt Rietsch den richtigen Weg ein. Nicht vom ersten ästhe¬
tischen Eindruck, meint er, dürfen wir ausgehn, sondern von der Feststellung
des musikalischen Thatbestands. So führt er denn die Leser vor die nach seiner
Ansicht wichtigsten Stilneuernngen in den Werken der beiden Komponisten
und beleuchtet sie psychologisch und geschichtlich mit einem Ergebnis, das
sich kurz in den Satz fassen läßt: Die Arbeit von Rietsch ist die wirksamste
Verteidigungsschrift, die bisher zu Gunsten der neudeutschen Musik erschienen
ist. Sie hat ihre Mängel, den größten darin, daß sie aus der Summe der
neuen stilistischen Elemente die harmonischen zu einseitig hervorhebt. Worin sich
eine Lisztsche Sinfonie von einer Beethovenschen unterscheidet, erfährt man durch
Rietsch nicht, auch nicht einmal durch einen Hinweis auf verwandte Arbeiten.
Aber trotz dieser Beschränkung wirbt sein Buch für die Sache, der es gewidmet
ist, wie kein andres durch das außerordentliche pädagogische Geschick der Dar¬
stellung. Auch Otto Tiersch und andre haben in neuen Harmonielehren die¬
selben Ansichten wie Rietsch vertreten; er erreicht aber das hundertfache durch
die Wahl der Beispiele und noch mehr durch die frischen und beziehungsvollen
Erläuterungen, mit denen er sie versieht. Soweit er dabei geschichtlich kom¬
mentiert, darf mau sich verwundern, daß zu den Vergleichen die große
Revolutionsperiode von 1600 und die ihr folgende Zeit so wenig heran¬
gezogen ist.

Am Schlüsse der Arbeit wirft der Verfasser einen Blick auf die aus¬
führende Musik der Periode. Auch sie arbeitet wie die Komposition auf be¬
stimmtem und reichern Ausdruck hin, auch sie beansprucht zu diesen: Zweck
eine größere Freiheit in der Behandlung der Vorlagen und der hergebrachten
Regeln. Die heute noch andauernden Bemühungen um die Gesetze des musi¬
kalischen Vortrags datieren seit dem Auftreten Franz Liszts. Liszt war es,
der den Dirigenten zurief: Wir sind Steuermänner, keine Ruderknechte.
R. Wagner stellte sich mit der Broschüre: „Über das Dirigieren" an die Seite
seines Freundes. Im weitem Laufe dieser Bewegung ist dann Hans von
Bülow besonders hervorgetreten. Rietsch geht aber zu weit, wenn er ihn den
»Erneuerer der nachschaffenden Kunst in unserm Zeitabschnitt" nennt und
Phantasiert vollständig, wenn er von „zahllosen Schriften" spricht, in denen
Bülow seine Anschauungen zur Geltung gebracht habe.

Zu der Arbeit von Rietsch ist das vierte Stück der Sammlung eine vor¬
zügliche Ergänzung. In ihm stellt Richard Hohenemser die Frage:
»Welche Einflüsse hatte die Wiederbelebung der ältern Musik im neunzehnten
Jahrhundert auf die deutschen Komponisten?" Die wichtigsten musikalischen
Erscheinungen in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts sind die
Werke und die Bestrebungen der neudeutschen auf der einen Seite, auf der
andern die Versuche, die Gegenwart mit den Schätzen der ältern Tonkunst in


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[0363] Neue Bücher über^Musik Eine solche Arbeit hat vor fünfzig Jahren gefehlt, sie würde viel unnützen Streit verhütet haben. Sie ist aber noch heute willkommen, kann den Gegnern wie den Anhängern der neuen Musik nützen. Deren Wert und Berechtigung sicher zu beurteilen schlägt Rietsch den richtigen Weg ein. Nicht vom ersten ästhe¬ tischen Eindruck, meint er, dürfen wir ausgehn, sondern von der Feststellung des musikalischen Thatbestands. So führt er denn die Leser vor die nach seiner Ansicht wichtigsten Stilneuernngen in den Werken der beiden Komponisten und beleuchtet sie psychologisch und geschichtlich mit einem Ergebnis, das sich kurz in den Satz fassen läßt: Die Arbeit von Rietsch ist die wirksamste Verteidigungsschrift, die bisher zu Gunsten der neudeutschen Musik erschienen ist. Sie hat ihre Mängel, den größten darin, daß sie aus der Summe der neuen stilistischen Elemente die harmonischen zu einseitig hervorhebt. Worin sich eine Lisztsche Sinfonie von einer Beethovenschen unterscheidet, erfährt man durch Rietsch nicht, auch nicht einmal durch einen Hinweis auf verwandte Arbeiten. Aber trotz dieser Beschränkung wirbt sein Buch für die Sache, der es gewidmet ist, wie kein andres durch das außerordentliche pädagogische Geschick der Dar¬ stellung. Auch Otto Tiersch und andre haben in neuen Harmonielehren die¬ selben Ansichten wie Rietsch vertreten; er erreicht aber das hundertfache durch die Wahl der Beispiele und noch mehr durch die frischen und beziehungsvollen Erläuterungen, mit denen er sie versieht. Soweit er dabei geschichtlich kom¬ mentiert, darf mau sich verwundern, daß zu den Vergleichen die große Revolutionsperiode von 1600 und die ihr folgende Zeit so wenig heran¬ gezogen ist. Am Schlüsse der Arbeit wirft der Verfasser einen Blick auf die aus¬ führende Musik der Periode. Auch sie arbeitet wie die Komposition auf be¬ stimmtem und reichern Ausdruck hin, auch sie beansprucht zu diesen: Zweck eine größere Freiheit in der Behandlung der Vorlagen und der hergebrachten Regeln. Die heute noch andauernden Bemühungen um die Gesetze des musi¬ kalischen Vortrags datieren seit dem Auftreten Franz Liszts. Liszt war es, der den Dirigenten zurief: Wir sind Steuermänner, keine Ruderknechte. R. Wagner stellte sich mit der Broschüre: „Über das Dirigieren" an die Seite seines Freundes. Im weitem Laufe dieser Bewegung ist dann Hans von Bülow besonders hervorgetreten. Rietsch geht aber zu weit, wenn er ihn den »Erneuerer der nachschaffenden Kunst in unserm Zeitabschnitt" nennt und Phantasiert vollständig, wenn er von „zahllosen Schriften" spricht, in denen Bülow seine Anschauungen zur Geltung gebracht habe. Zu der Arbeit von Rietsch ist das vierte Stück der Sammlung eine vor¬ zügliche Ergänzung. In ihm stellt Richard Hohenemser die Frage: »Welche Einflüsse hatte die Wiederbelebung der ältern Musik im neunzehnten Jahrhundert auf die deutschen Komponisten?" Die wichtigsten musikalischen Erscheinungen in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts sind die Werke und die Bestrebungen der neudeutschen auf der einen Seite, auf der andern die Versuche, die Gegenwart mit den Schätzen der ältern Tonkunst in Grenzboten IV 1900 42

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/363>, abgerufen am 26.06.2024.