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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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in seinem Niesenumfang zu erhalten? Von allen fremden Mächten könnte,
dünkt mich, nur Rußland ein solches Interesse haben.

Bleibt die Mandschudynastie an der Regierung, und bleibt Peking Haupt¬
stadt, so hat Nußland vermöge der Nähe seiner Grenze sowie vermöge der
festen Basis seiner Eisenbahn in der Mandschurei eine solche Macht vor den
andern Staaten voraus, daß der russische Gesandte leicht in Peking künftig
die Rolle spielen kann, die der russische "Ambassadeur" vor hundertfünfund¬
zwanzig Jahren in Warschau spielte. Rußland stellt sich deshalb heute so
freundlich als möglich zu China, trotz der Tausende von Chinesen, die, unter
dem russischen Schwert gefallen, den Amur als Leichen hinabgeschwommen sind,
und trotz der Besetzung des chinesischen rechten Flußufers durch russische Truppen.
Es muß ihm daran liegen, jederzeit und leicht auf die Hauptstadt und die
Regierung den Daumen drücken zu können, woraus folgt, daß es für ein un¬
geteiltes China unter der Mandschudynastie und mit Peking als Residenz sein
muß. Es muß ihm ferner, von seinem Geldmangel, der einen Krieg verbietet,
ganz abgesehen, daran liegen, sobald als möglich wieder Frieden zu haben,
um mit seinem Bahnbau fertig zu werden, um den Einfluß der andern Mächte
in Peking nicht weiter neben sich zu haben, um möglichst allein zu bleiben
mit seinen vorläufigen Freunden. Es wird also bestrebt sein, die Mächte von
Peking, von China baldigst wegzulocken und zugleich der Dynastie beizustehn.
Sind die Truppen und Schiffe der andern erst einmal abgedampft, dann hat
Nußland immer noch in Sibirien und am Amur Kriegsmacht genug, daß es
Forderungen stellen und durchsetzen kann, falls Japan ihm nicht etwa in den
Arm füllt. Bis dahin aber muß es streben, in guten Beziehungen zu China
zu bleiben, um uicht genötigt zu sein, eine Grenze von einigen tausend Kilo¬
metern gegen feindselig gesinnte Nachbarn zu schützen. Die chinesische Nachbar¬
schaft hat eben für Rußland ihre Vorteile, aber auch ihre Nachteile. Umgekehrt
ist es bei Deutschland und den andern Staaten nußer Japan, die nicht ein Heer
an der Grenze von China erhalten können. Wenn aus dem einen Reiche drei
kleinere entstünden, wenn die Mongolei und Tibet unabhängig würden, so könnte
das der Aufschließung dieser Länder nur günstig sein. säße in Nanking wieder
wie vor der Mandschuzeit ein Kaiser, so würden sich die Beziehungen, auf die
wir in Zukunft am Janthe hoffen, voraussichtlich leichter und besser gestalten
als bisher. Wollte Rußland die ganze Mandschurei annektieren, so wäre das
für Japans Aussichten in Korea sehr gefährlich, aber für Europa von ge¬
ringer Bedeutung unter der Voraussetzung, daß Peking nicht die Hauptstadt
von ganz China bliebe. Die bloße territoriale Ausdehnung bedeute für Ru߬
land sicherlich noch keinen Machtzuwachs, der Europa beunruhigen müßte.
Auch wird sich Rußland sehr wahrscheinlich damit begnügen, möglichst viel an
Handelsgebiet und an politischem Einfluß zu gewinnen. Hierbei wäre ein
Zerfall Chinas für Europa eben gegenüber dem russischen Einfluß vorteilhaft.
Fällt das nördliche China mehr unter russischen Einfluß, so öffnete sich uns und


Grenzboten IV 1900 40
Lhina

in seinem Niesenumfang zu erhalten? Von allen fremden Mächten könnte,
dünkt mich, nur Rußland ein solches Interesse haben.

Bleibt die Mandschudynastie an der Regierung, und bleibt Peking Haupt¬
stadt, so hat Nußland vermöge der Nähe seiner Grenze sowie vermöge der
festen Basis seiner Eisenbahn in der Mandschurei eine solche Macht vor den
andern Staaten voraus, daß der russische Gesandte leicht in Peking künftig
die Rolle spielen kann, die der russische „Ambassadeur" vor hundertfünfund¬
zwanzig Jahren in Warschau spielte. Rußland stellt sich deshalb heute so
freundlich als möglich zu China, trotz der Tausende von Chinesen, die, unter
dem russischen Schwert gefallen, den Amur als Leichen hinabgeschwommen sind,
und trotz der Besetzung des chinesischen rechten Flußufers durch russische Truppen.
Es muß ihm daran liegen, jederzeit und leicht auf die Hauptstadt und die
Regierung den Daumen drücken zu können, woraus folgt, daß es für ein un¬
geteiltes China unter der Mandschudynastie und mit Peking als Residenz sein
muß. Es muß ihm ferner, von seinem Geldmangel, der einen Krieg verbietet,
ganz abgesehen, daran liegen, sobald als möglich wieder Frieden zu haben,
um mit seinem Bahnbau fertig zu werden, um den Einfluß der andern Mächte
in Peking nicht weiter neben sich zu haben, um möglichst allein zu bleiben
mit seinen vorläufigen Freunden. Es wird also bestrebt sein, die Mächte von
Peking, von China baldigst wegzulocken und zugleich der Dynastie beizustehn.
Sind die Truppen und Schiffe der andern erst einmal abgedampft, dann hat
Nußland immer noch in Sibirien und am Amur Kriegsmacht genug, daß es
Forderungen stellen und durchsetzen kann, falls Japan ihm nicht etwa in den
Arm füllt. Bis dahin aber muß es streben, in guten Beziehungen zu China
zu bleiben, um uicht genötigt zu sein, eine Grenze von einigen tausend Kilo¬
metern gegen feindselig gesinnte Nachbarn zu schützen. Die chinesische Nachbar¬
schaft hat eben für Rußland ihre Vorteile, aber auch ihre Nachteile. Umgekehrt
ist es bei Deutschland und den andern Staaten nußer Japan, die nicht ein Heer
an der Grenze von China erhalten können. Wenn aus dem einen Reiche drei
kleinere entstünden, wenn die Mongolei und Tibet unabhängig würden, so könnte
das der Aufschließung dieser Länder nur günstig sein. säße in Nanking wieder
wie vor der Mandschuzeit ein Kaiser, so würden sich die Beziehungen, auf die
wir in Zukunft am Janthe hoffen, voraussichtlich leichter und besser gestalten
als bisher. Wollte Rußland die ganze Mandschurei annektieren, so wäre das
für Japans Aussichten in Korea sehr gefährlich, aber für Europa von ge¬
ringer Bedeutung unter der Voraussetzung, daß Peking nicht die Hauptstadt
von ganz China bliebe. Die bloße territoriale Ausdehnung bedeute für Ru߬
land sicherlich noch keinen Machtzuwachs, der Europa beunruhigen müßte.
Auch wird sich Rußland sehr wahrscheinlich damit begnügen, möglichst viel an
Handelsgebiet und an politischem Einfluß zu gewinnen. Hierbei wäre ein
Zerfall Chinas für Europa eben gegenüber dem russischen Einfluß vorteilhaft.
Fällt das nördliche China mehr unter russischen Einfluß, so öffnete sich uns und


Grenzboten IV 1900 40
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[0347] Lhina in seinem Niesenumfang zu erhalten? Von allen fremden Mächten könnte, dünkt mich, nur Rußland ein solches Interesse haben. Bleibt die Mandschudynastie an der Regierung, und bleibt Peking Haupt¬ stadt, so hat Nußland vermöge der Nähe seiner Grenze sowie vermöge der festen Basis seiner Eisenbahn in der Mandschurei eine solche Macht vor den andern Staaten voraus, daß der russische Gesandte leicht in Peking künftig die Rolle spielen kann, die der russische „Ambassadeur" vor hundertfünfund¬ zwanzig Jahren in Warschau spielte. Rußland stellt sich deshalb heute so freundlich als möglich zu China, trotz der Tausende von Chinesen, die, unter dem russischen Schwert gefallen, den Amur als Leichen hinabgeschwommen sind, und trotz der Besetzung des chinesischen rechten Flußufers durch russische Truppen. Es muß ihm daran liegen, jederzeit und leicht auf die Hauptstadt und die Regierung den Daumen drücken zu können, woraus folgt, daß es für ein un¬ geteiltes China unter der Mandschudynastie und mit Peking als Residenz sein muß. Es muß ihm ferner, von seinem Geldmangel, der einen Krieg verbietet, ganz abgesehen, daran liegen, sobald als möglich wieder Frieden zu haben, um mit seinem Bahnbau fertig zu werden, um den Einfluß der andern Mächte in Peking nicht weiter neben sich zu haben, um möglichst allein zu bleiben mit seinen vorläufigen Freunden. Es wird also bestrebt sein, die Mächte von Peking, von China baldigst wegzulocken und zugleich der Dynastie beizustehn. Sind die Truppen und Schiffe der andern erst einmal abgedampft, dann hat Nußland immer noch in Sibirien und am Amur Kriegsmacht genug, daß es Forderungen stellen und durchsetzen kann, falls Japan ihm nicht etwa in den Arm füllt. Bis dahin aber muß es streben, in guten Beziehungen zu China zu bleiben, um uicht genötigt zu sein, eine Grenze von einigen tausend Kilo¬ metern gegen feindselig gesinnte Nachbarn zu schützen. Die chinesische Nachbar¬ schaft hat eben für Rußland ihre Vorteile, aber auch ihre Nachteile. Umgekehrt ist es bei Deutschland und den andern Staaten nußer Japan, die nicht ein Heer an der Grenze von China erhalten können. Wenn aus dem einen Reiche drei kleinere entstünden, wenn die Mongolei und Tibet unabhängig würden, so könnte das der Aufschließung dieser Länder nur günstig sein. säße in Nanking wieder wie vor der Mandschuzeit ein Kaiser, so würden sich die Beziehungen, auf die wir in Zukunft am Janthe hoffen, voraussichtlich leichter und besser gestalten als bisher. Wollte Rußland die ganze Mandschurei annektieren, so wäre das für Japans Aussichten in Korea sehr gefährlich, aber für Europa von ge¬ ringer Bedeutung unter der Voraussetzung, daß Peking nicht die Hauptstadt von ganz China bliebe. Die bloße territoriale Ausdehnung bedeute für Ru߬ land sicherlich noch keinen Machtzuwachs, der Europa beunruhigen müßte. Auch wird sich Rußland sehr wahrscheinlich damit begnügen, möglichst viel an Handelsgebiet und an politischem Einfluß zu gewinnen. Hierbei wäre ein Zerfall Chinas für Europa eben gegenüber dem russischen Einfluß vorteilhaft. Fällt das nördliche China mehr unter russischen Einfluß, so öffnete sich uns und Grenzboten IV 1900 40

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/347>, abgerufen am 28.09.2024.