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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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China

man nun die Abschließung Chinas weder aufrecht halten kann noch will, dann
liegt es doch am nächsten, der Macht dort die Hand zu reichen, die einer Öff¬
nung des Landes am wenigsten abgeneigt ist, nicht aber der Mandschudynastie,
in deren Interesse und Tradition die Abschließung liegt, Gordon rettete die
Dynastie, die heute an der Spitze ihrer Boxer die Ausrottung aller Fremden
unternommen hat, und nun sollten die vereinigten Mächte diese Dynastie noch
einmal retten? Warum? Zu welchem Zweck? Ich sehe keinen andern Grund,
als weil man fürchtet, daß die durch den Sturz der Dynastie eintretende große
Umwälzung für einige Zeit das Geschäft stören, den fremden Banken und
Handelsleuten Verlust bringen könnte. Oder fürchtet man, daß die euro¬
päischen Mächte sich einander in die Haare geraten konnten? Also um einige
Millionen zu retten oder aus Mißtrauen und Eifersucht gegeneinander würde
der alte, für China verderbliche und für die dort interessierten oder lebenden
Fremden immer bedrohliche Zustand wiederhergestellt werden. Wiederher¬
gestellt nach immerhin großen Verlusten, die durch diese Wirren verursacht
worden sind, und mit der Wahrscheinlichkeit, fast Gewißheit, daß nach Verlauf
einiger Zeit der Aufstand gegen die Mnndschu wiederum losbrechen und noch
größere Verluste für unsre Taschen mit sich bringen wird. Sollen wir uns
hierfür bemühn? Sollte das nicht eine kurzsichtige Politik sein? Aber es ist
schwer, ein solches Urteil zu äußern, nachdem sich solche Autoritäten wie Herr
Robert Hart für die Notwendigkeit, das heutige China unbeschädigt zu er¬
halten, ausgesprochen haben.

Vielleicht ändert aber sogar Herr Hart seine Meinung, wenn diese Wirren
nicht durch einen neuen Pekinger Frieden in kurzer Zeit beendet werden, wenn
sich vielmehr, wie eher anzunehmen ist, die Erhebung verallgemeinert. Ein
Zusammengehn der fremden Mächte mit der Dynastie gegen eine große Er¬
hebung, die die Befreiung des Landes von der Herrschaft der Mandschu zum
Ziel hätte, wäre denn doch eine höchst sonderbare Politik. Wie? Sollten
die Mächte eine Negierung stützen, die soeben unter dem Schein eines Volks¬
aufstands, unter der Firma privater Verschwörungen von langer Hand her
und mit großer Vorsicht ein Blutbad unter den Unterthanen dieser Mächte,
einen Versuch der Ausrottung aller dort lebenden Christen veranstaltet hat?
Eine Regierung, die jederzeit der Politik der offnen Thür am feindlichsten
gewesen ist? Sollten sie diese Regierung gewaltsam in der Macht erhalten,
nur weil heute kein Kandidat für den Thron von China fertig und bereit
steht? Wie vor fünfundvierzig Jahren, so dürfte sich auch jetzt ein Führer
finden, wenn erst der Aufstand an Macht stark genug geworden sein wird, daß
er sich offen und allgemein gegen die Regierung richten kann. Es leben in
China noch viele Nachkommen der alten Mingdynastie, und auch wenn China
wieder in mehrere Reiche zerfiele, wo wäre da das Übel? Vor alters be¬
standen mehrere chinesische Reiche, und nach dem mittlern davon mit der alten
Hauptstadt Nanking nennt man noch heute oft das ganze China das Reich
der Mitte. Wer hat denn ein Interesse daran, dieses heutige Mandschureich


China

man nun die Abschließung Chinas weder aufrecht halten kann noch will, dann
liegt es doch am nächsten, der Macht dort die Hand zu reichen, die einer Öff¬
nung des Landes am wenigsten abgeneigt ist, nicht aber der Mandschudynastie,
in deren Interesse und Tradition die Abschließung liegt, Gordon rettete die
Dynastie, die heute an der Spitze ihrer Boxer die Ausrottung aller Fremden
unternommen hat, und nun sollten die vereinigten Mächte diese Dynastie noch
einmal retten? Warum? Zu welchem Zweck? Ich sehe keinen andern Grund,
als weil man fürchtet, daß die durch den Sturz der Dynastie eintretende große
Umwälzung für einige Zeit das Geschäft stören, den fremden Banken und
Handelsleuten Verlust bringen könnte. Oder fürchtet man, daß die euro¬
päischen Mächte sich einander in die Haare geraten konnten? Also um einige
Millionen zu retten oder aus Mißtrauen und Eifersucht gegeneinander würde
der alte, für China verderbliche und für die dort interessierten oder lebenden
Fremden immer bedrohliche Zustand wiederhergestellt werden. Wiederher¬
gestellt nach immerhin großen Verlusten, die durch diese Wirren verursacht
worden sind, und mit der Wahrscheinlichkeit, fast Gewißheit, daß nach Verlauf
einiger Zeit der Aufstand gegen die Mnndschu wiederum losbrechen und noch
größere Verluste für unsre Taschen mit sich bringen wird. Sollen wir uns
hierfür bemühn? Sollte das nicht eine kurzsichtige Politik sein? Aber es ist
schwer, ein solches Urteil zu äußern, nachdem sich solche Autoritäten wie Herr
Robert Hart für die Notwendigkeit, das heutige China unbeschädigt zu er¬
halten, ausgesprochen haben.

Vielleicht ändert aber sogar Herr Hart seine Meinung, wenn diese Wirren
nicht durch einen neuen Pekinger Frieden in kurzer Zeit beendet werden, wenn
sich vielmehr, wie eher anzunehmen ist, die Erhebung verallgemeinert. Ein
Zusammengehn der fremden Mächte mit der Dynastie gegen eine große Er¬
hebung, die die Befreiung des Landes von der Herrschaft der Mandschu zum
Ziel hätte, wäre denn doch eine höchst sonderbare Politik. Wie? Sollten
die Mächte eine Negierung stützen, die soeben unter dem Schein eines Volks¬
aufstands, unter der Firma privater Verschwörungen von langer Hand her
und mit großer Vorsicht ein Blutbad unter den Unterthanen dieser Mächte,
einen Versuch der Ausrottung aller dort lebenden Christen veranstaltet hat?
Eine Regierung, die jederzeit der Politik der offnen Thür am feindlichsten
gewesen ist? Sollten sie diese Regierung gewaltsam in der Macht erhalten,
nur weil heute kein Kandidat für den Thron von China fertig und bereit
steht? Wie vor fünfundvierzig Jahren, so dürfte sich auch jetzt ein Führer
finden, wenn erst der Aufstand an Macht stark genug geworden sein wird, daß
er sich offen und allgemein gegen die Regierung richten kann. Es leben in
China noch viele Nachkommen der alten Mingdynastie, und auch wenn China
wieder in mehrere Reiche zerfiele, wo wäre da das Übel? Vor alters be¬
standen mehrere chinesische Reiche, und nach dem mittlern davon mit der alten
Hauptstadt Nanking nennt man noch heute oft das ganze China das Reich
der Mitte. Wer hat denn ein Interesse daran, dieses heutige Mandschureich


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[0346] China man nun die Abschließung Chinas weder aufrecht halten kann noch will, dann liegt es doch am nächsten, der Macht dort die Hand zu reichen, die einer Öff¬ nung des Landes am wenigsten abgeneigt ist, nicht aber der Mandschudynastie, in deren Interesse und Tradition die Abschließung liegt, Gordon rettete die Dynastie, die heute an der Spitze ihrer Boxer die Ausrottung aller Fremden unternommen hat, und nun sollten die vereinigten Mächte diese Dynastie noch einmal retten? Warum? Zu welchem Zweck? Ich sehe keinen andern Grund, als weil man fürchtet, daß die durch den Sturz der Dynastie eintretende große Umwälzung für einige Zeit das Geschäft stören, den fremden Banken und Handelsleuten Verlust bringen könnte. Oder fürchtet man, daß die euro¬ päischen Mächte sich einander in die Haare geraten konnten? Also um einige Millionen zu retten oder aus Mißtrauen und Eifersucht gegeneinander würde der alte, für China verderbliche und für die dort interessierten oder lebenden Fremden immer bedrohliche Zustand wiederhergestellt werden. Wiederher¬ gestellt nach immerhin großen Verlusten, die durch diese Wirren verursacht worden sind, und mit der Wahrscheinlichkeit, fast Gewißheit, daß nach Verlauf einiger Zeit der Aufstand gegen die Mnndschu wiederum losbrechen und noch größere Verluste für unsre Taschen mit sich bringen wird. Sollen wir uns hierfür bemühn? Sollte das nicht eine kurzsichtige Politik sein? Aber es ist schwer, ein solches Urteil zu äußern, nachdem sich solche Autoritäten wie Herr Robert Hart für die Notwendigkeit, das heutige China unbeschädigt zu er¬ halten, ausgesprochen haben. Vielleicht ändert aber sogar Herr Hart seine Meinung, wenn diese Wirren nicht durch einen neuen Pekinger Frieden in kurzer Zeit beendet werden, wenn sich vielmehr, wie eher anzunehmen ist, die Erhebung verallgemeinert. Ein Zusammengehn der fremden Mächte mit der Dynastie gegen eine große Er¬ hebung, die die Befreiung des Landes von der Herrschaft der Mandschu zum Ziel hätte, wäre denn doch eine höchst sonderbare Politik. Wie? Sollten die Mächte eine Negierung stützen, die soeben unter dem Schein eines Volks¬ aufstands, unter der Firma privater Verschwörungen von langer Hand her und mit großer Vorsicht ein Blutbad unter den Unterthanen dieser Mächte, einen Versuch der Ausrottung aller dort lebenden Christen veranstaltet hat? Eine Regierung, die jederzeit der Politik der offnen Thür am feindlichsten gewesen ist? Sollten sie diese Regierung gewaltsam in der Macht erhalten, nur weil heute kein Kandidat für den Thron von China fertig und bereit steht? Wie vor fünfundvierzig Jahren, so dürfte sich auch jetzt ein Führer finden, wenn erst der Aufstand an Macht stark genug geworden sein wird, daß er sich offen und allgemein gegen die Regierung richten kann. Es leben in China noch viele Nachkommen der alten Mingdynastie, und auch wenn China wieder in mehrere Reiche zerfiele, wo wäre da das Übel? Vor alters be¬ standen mehrere chinesische Reiche, und nach dem mittlern davon mit der alten Hauptstadt Nanking nennt man noch heute oft das ganze China das Reich der Mitte. Wer hat denn ein Interesse daran, dieses heutige Mandschureich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/346>, abgerufen am 29.06.2024.