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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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China

es leidet keinen Zweifel, daß die Dynastie seit einigen Jahren den Schutz des
Himmels nicht mehr hat; das Volk hegt Haß und Verachtung gegen seine
Herrscher. Es ist keine kindliche Pietät mehr unter uns, und das Reich wird
zusammenstürzen." Von einem andern Mandarinen erzählt Huc: Der Sturz
der Mcmdschudhnastie würde diesen Mnudariuen nicht betrüben, er hielt es für
natürlich, daß China auch einen chinesischen Kaiser habe. Aber die große
Volksmasse bekümmert sich wenig um den Staat. Doch ist die Abneigung
gegen die fremden Eroberer (die Mandschu) vorhanden."

Wenn man diese im Jahre 1846 gemachten Aufzeichnungen im Zusammen¬
hang mit dem 1851 beginnenden großen Aufstand erwögt, und wenn man sich
ferner erinnert, daß die vereinigten Engländer und Franzosen 1860 die Opfer
eines Kriegs brachten, um sich in dem Frieden von Peking die Eingänge zu
dem chinesischen Reiche offen zu erhalten; wenn man sich ferner erinnert, daß
der Taipingaufstand mit Hilfe der Engländer und wesentlich durch General
Gordon als Befehlshaber des chinesischen Heers niedergeworfen wurde: so wird
sich einem die Frage aufdrängen, ob diese Unterstützung der chinesischen Regie¬
rung nicht ein arger Fehler war. Wenn die Mandschuherrschaft das haupt¬
sächliche Hindernis für die Öffnung Chinas ist, und wenn England keine Er¬
oberungen, sondern nur eben diese Öffnung des Landes für den Weltverkehr
anstrebte, so hätte es logischerweise im Interesse Englands liegen müssen,
nicht die Regierung, sondern die Aufstündischen zu unterstützen, deren Ziel eben
der Sturz der Mandschuherrschaft war. Und wenn man heute beobachtet, daß,
gerade wie sich im Taipingaufstande aus religiösen Reformern allmählich Um¬
stürzler der Dynastie entpuppten, so heute zuerst lokale Unordnung entsteht,
sich Banden zeigen, die gegen die Fremden vorgehn, allmählich aber hie und
da eine Richtung gegen die Mandschudhnastie auftaucht; wie man bald eine
Boxerbande ihre Farbe ändern sieht, indem sie gestern dem Prinzen Tucu
gegen die Fremden, heute aber einem unbekannten Führer gegen die Truppen
Tucms zu folgen scheint; wenn man das allmähliche Umsichgreifen der Be¬
wegung nach Süden hin in die rein chinesischen Provinzen beobachtet, so
scheint nur noch ein entschlossener Führer, wie im Taipingaufstande, zu fehlen,
daß aus dem Sturm gegen die europäischen Fremden ein Sturm gegen die
fremden Mandschuherrscher wird. Ein solcher Führer kann alle Tage auf¬
treten. Werden die europäischen Mächte dann aus Graf Waldersee einen
zweiten Gordon machen, werden sie wieder China unter das Joch der Mandschu
beugen helfen?

Ich sagte vorhin, daß es meines Erachtens für Europa am besten wäre,
wenn China nur für den Warenverkehr geöffnet würde, im übrigen möglichst
abgeschlossen bliebe. Aber leider ist diese Möglichkeit sehr gering. Aus dem
Warenverkehr ergiebt sich von selbst eine Annäherung, die unwillkürlich innigere
Beziehungen schafft, die nicht nur europäische Dinge, sondern auch europäische
Menschen und Ideen immer weiter ins Innere Chinas verschiebt, und die not¬
wendig auch die schützende Hand der Staaten nach sich ziehn muß. Wenn


China

es leidet keinen Zweifel, daß die Dynastie seit einigen Jahren den Schutz des
Himmels nicht mehr hat; das Volk hegt Haß und Verachtung gegen seine
Herrscher. Es ist keine kindliche Pietät mehr unter uns, und das Reich wird
zusammenstürzen.« Von einem andern Mandarinen erzählt Huc: Der Sturz
der Mcmdschudhnastie würde diesen Mnudariuen nicht betrüben, er hielt es für
natürlich, daß China auch einen chinesischen Kaiser habe. Aber die große
Volksmasse bekümmert sich wenig um den Staat. Doch ist die Abneigung
gegen die fremden Eroberer (die Mandschu) vorhanden."

Wenn man diese im Jahre 1846 gemachten Aufzeichnungen im Zusammen¬
hang mit dem 1851 beginnenden großen Aufstand erwögt, und wenn man sich
ferner erinnert, daß die vereinigten Engländer und Franzosen 1860 die Opfer
eines Kriegs brachten, um sich in dem Frieden von Peking die Eingänge zu
dem chinesischen Reiche offen zu erhalten; wenn man sich ferner erinnert, daß
der Taipingaufstand mit Hilfe der Engländer und wesentlich durch General
Gordon als Befehlshaber des chinesischen Heers niedergeworfen wurde: so wird
sich einem die Frage aufdrängen, ob diese Unterstützung der chinesischen Regie¬
rung nicht ein arger Fehler war. Wenn die Mandschuherrschaft das haupt¬
sächliche Hindernis für die Öffnung Chinas ist, und wenn England keine Er¬
oberungen, sondern nur eben diese Öffnung des Landes für den Weltverkehr
anstrebte, so hätte es logischerweise im Interesse Englands liegen müssen,
nicht die Regierung, sondern die Aufstündischen zu unterstützen, deren Ziel eben
der Sturz der Mandschuherrschaft war. Und wenn man heute beobachtet, daß,
gerade wie sich im Taipingaufstande aus religiösen Reformern allmählich Um¬
stürzler der Dynastie entpuppten, so heute zuerst lokale Unordnung entsteht,
sich Banden zeigen, die gegen die Fremden vorgehn, allmählich aber hie und
da eine Richtung gegen die Mandschudhnastie auftaucht; wie man bald eine
Boxerbande ihre Farbe ändern sieht, indem sie gestern dem Prinzen Tucu
gegen die Fremden, heute aber einem unbekannten Führer gegen die Truppen
Tucms zu folgen scheint; wenn man das allmähliche Umsichgreifen der Be¬
wegung nach Süden hin in die rein chinesischen Provinzen beobachtet, so
scheint nur noch ein entschlossener Führer, wie im Taipingaufstande, zu fehlen,
daß aus dem Sturm gegen die europäischen Fremden ein Sturm gegen die
fremden Mandschuherrscher wird. Ein solcher Führer kann alle Tage auf¬
treten. Werden die europäischen Mächte dann aus Graf Waldersee einen
zweiten Gordon machen, werden sie wieder China unter das Joch der Mandschu
beugen helfen?

Ich sagte vorhin, daß es meines Erachtens für Europa am besten wäre,
wenn China nur für den Warenverkehr geöffnet würde, im übrigen möglichst
abgeschlossen bliebe. Aber leider ist diese Möglichkeit sehr gering. Aus dem
Warenverkehr ergiebt sich von selbst eine Annäherung, die unwillkürlich innigere
Beziehungen schafft, die nicht nur europäische Dinge, sondern auch europäische
Menschen und Ideen immer weiter ins Innere Chinas verschiebt, und die not¬
wendig auch die schützende Hand der Staaten nach sich ziehn muß. Wenn


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[0345] China es leidet keinen Zweifel, daß die Dynastie seit einigen Jahren den Schutz des Himmels nicht mehr hat; das Volk hegt Haß und Verachtung gegen seine Herrscher. Es ist keine kindliche Pietät mehr unter uns, und das Reich wird zusammenstürzen.« Von einem andern Mandarinen erzählt Huc: Der Sturz der Mcmdschudhnastie würde diesen Mnudariuen nicht betrüben, er hielt es für natürlich, daß China auch einen chinesischen Kaiser habe. Aber die große Volksmasse bekümmert sich wenig um den Staat. Doch ist die Abneigung gegen die fremden Eroberer (die Mandschu) vorhanden." Wenn man diese im Jahre 1846 gemachten Aufzeichnungen im Zusammen¬ hang mit dem 1851 beginnenden großen Aufstand erwögt, und wenn man sich ferner erinnert, daß die vereinigten Engländer und Franzosen 1860 die Opfer eines Kriegs brachten, um sich in dem Frieden von Peking die Eingänge zu dem chinesischen Reiche offen zu erhalten; wenn man sich ferner erinnert, daß der Taipingaufstand mit Hilfe der Engländer und wesentlich durch General Gordon als Befehlshaber des chinesischen Heers niedergeworfen wurde: so wird sich einem die Frage aufdrängen, ob diese Unterstützung der chinesischen Regie¬ rung nicht ein arger Fehler war. Wenn die Mandschuherrschaft das haupt¬ sächliche Hindernis für die Öffnung Chinas ist, und wenn England keine Er¬ oberungen, sondern nur eben diese Öffnung des Landes für den Weltverkehr anstrebte, so hätte es logischerweise im Interesse Englands liegen müssen, nicht die Regierung, sondern die Aufstündischen zu unterstützen, deren Ziel eben der Sturz der Mandschuherrschaft war. Und wenn man heute beobachtet, daß, gerade wie sich im Taipingaufstande aus religiösen Reformern allmählich Um¬ stürzler der Dynastie entpuppten, so heute zuerst lokale Unordnung entsteht, sich Banden zeigen, die gegen die Fremden vorgehn, allmählich aber hie und da eine Richtung gegen die Mandschudhnastie auftaucht; wie man bald eine Boxerbande ihre Farbe ändern sieht, indem sie gestern dem Prinzen Tucu gegen die Fremden, heute aber einem unbekannten Führer gegen die Truppen Tucms zu folgen scheint; wenn man das allmähliche Umsichgreifen der Be¬ wegung nach Süden hin in die rein chinesischen Provinzen beobachtet, so scheint nur noch ein entschlossener Führer, wie im Taipingaufstande, zu fehlen, daß aus dem Sturm gegen die europäischen Fremden ein Sturm gegen die fremden Mandschuherrscher wird. Ein solcher Führer kann alle Tage auf¬ treten. Werden die europäischen Mächte dann aus Graf Waldersee einen zweiten Gordon machen, werden sie wieder China unter das Joch der Mandschu beugen helfen? Ich sagte vorhin, daß es meines Erachtens für Europa am besten wäre, wenn China nur für den Warenverkehr geöffnet würde, im übrigen möglichst abgeschlossen bliebe. Aber leider ist diese Möglichkeit sehr gering. Aus dem Warenverkehr ergiebt sich von selbst eine Annäherung, die unwillkürlich innigere Beziehungen schafft, die nicht nur europäische Dinge, sondern auch europäische Menschen und Ideen immer weiter ins Innere Chinas verschiebt, und die not¬ wendig auch die schützende Hand der Staaten nach sich ziehn muß. Wenn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/345>, abgerufen am 28.09.2024.