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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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daß alle Chinesen eine gleichartige Masse seien; der Unterschied zwischen den
verschiednen Provinzen ist vielleicht noch stärker als der zwischen den ver-
schiednen europäischen Ländern. . , .

"In dieser Weise ist die chinesische Staatsgesellschaft seit Beginn der
Mandschudynastie mehr und mehr von Verderbnis angefressen worden. Man
hat in Europa eigentümliche Borstellungen über die vermeintliche Unbeweglich-
keit dieses Volks. Man glaubt, daß Neuerungen, die doch von den Eroberern
eingeführt wurden, alte Einrichtungen und aus dem ganzen Wesen des chine¬
sischen Volks entsprungen seien. Man glaubt ferner, daß der Chinese Ab¬
neigung gegen alles Ausländische habe. Und doch ist beides unrichtig. Der
Geist der Ausschließlichkeit und das Fernhalten fremder Elemente ist mehr den
Mandschumongolen eigen; erst sie wollten das Reich hermetisch abschließen.
Denn früher standen die Chinesen mit den übrigen asiatischen Nationen in
Verkehr. Araber, Perser und Inder durften ihre Häfen besuchen und dort
Handel treiben; auch war ihnen keineswegs verboten, das Binnenland zu be¬
suchen. . . . Missionare konnten ganz China durchwandern und unbehindert
ihre Religion verkündigen. Marco Polo wurde mit seinem Vater und seinen:
Oheim zweimal sehr wohlwollend am kaiserlichen Hofe aufgenommen. Diese
Venetianer bekleideten einflußreiche Ämter. Marco Polo war sogar Statthalter
einer Provinz. Zu jener Zeit lebte in Peking ein Erzbischof, die Christen
genossen freie Ausübung ihres Gottesdienstes. . . . Die Chinesen haben also
keineswegs eine eingewurzelte Abneigung gegen die Ausländer. Viele Man¬
darinen, mit denen wir diesen Gegenstand besprachen, erklärten geradezu, daß
die Ausschließungsmaßregeln lediglich ein Werk der Mandschu feien. Diese
wollen um jeden Preis ihre Herrschaft behaupten; sie sind eine kleine Minder¬
zahl und fürchten immer, daß Fremde ihnen eine Beute entreißen könnten,
die ihnen so leicht geworden war. Deshalb schlössen sie alle Häfen, um die
Fremden überhaupt fern zu halten, und im Innern suchten sie ihre Gegner
zu verstreuen. Beide Mittel waren bis in die jüngste Zeit hinein durchaus
wirksam: eine Handvoll Nomaden hat zwei Jahrhunderte lang ohne Anfechtung
über das am stärksten bevölkerte Reich der Welt geherrscht. Aber dieselben
Mittel sind nun auch wirksam, diese Herrschaft zu untergraben. Und eines
Tages werden die Fremden, die Barbaren, alle Pforten, die der Eingang zu
diesem Reich sind, in Trümmer schlagen und dann ein Volk ohne Zusammen¬
hang finden.

"Der edle und ehrwürdige Beamte in Seng-tsche-hier, ein Chinese aus der
guten alten Zeit, beklagte tief den Verfall seines Vaterlands. Er sagte:
"Seitdem wir von den geheiligten Überlieferungen unsrer Vorfahren abgewichen
sind, hat uns der Himmel verlassen. Wer die Dinge in ihrem ganzen Gange
verfolgt, wer da sieht, wie selbstsüchtig die Beamten sind, wie tief die Ver¬
derbnis des Volks ist, kann sich einer düstern Ahnung nicht erwehren; wir
stehn am Vorabend eines ungeheuern Umsturzes. Was kommen wird, und
welchen Verlauf die Dinge nehmen werden, vermag niemand zu sagen. Aber


China

daß alle Chinesen eine gleichartige Masse seien; der Unterschied zwischen den
verschiednen Provinzen ist vielleicht noch stärker als der zwischen den ver-
schiednen europäischen Ländern. . , .

„In dieser Weise ist die chinesische Staatsgesellschaft seit Beginn der
Mandschudynastie mehr und mehr von Verderbnis angefressen worden. Man
hat in Europa eigentümliche Borstellungen über die vermeintliche Unbeweglich-
keit dieses Volks. Man glaubt, daß Neuerungen, die doch von den Eroberern
eingeführt wurden, alte Einrichtungen und aus dem ganzen Wesen des chine¬
sischen Volks entsprungen seien. Man glaubt ferner, daß der Chinese Ab¬
neigung gegen alles Ausländische habe. Und doch ist beides unrichtig. Der
Geist der Ausschließlichkeit und das Fernhalten fremder Elemente ist mehr den
Mandschumongolen eigen; erst sie wollten das Reich hermetisch abschließen.
Denn früher standen die Chinesen mit den übrigen asiatischen Nationen in
Verkehr. Araber, Perser und Inder durften ihre Häfen besuchen und dort
Handel treiben; auch war ihnen keineswegs verboten, das Binnenland zu be¬
suchen. . . . Missionare konnten ganz China durchwandern und unbehindert
ihre Religion verkündigen. Marco Polo wurde mit seinem Vater und seinen:
Oheim zweimal sehr wohlwollend am kaiserlichen Hofe aufgenommen. Diese
Venetianer bekleideten einflußreiche Ämter. Marco Polo war sogar Statthalter
einer Provinz. Zu jener Zeit lebte in Peking ein Erzbischof, die Christen
genossen freie Ausübung ihres Gottesdienstes. . . . Die Chinesen haben also
keineswegs eine eingewurzelte Abneigung gegen die Ausländer. Viele Man¬
darinen, mit denen wir diesen Gegenstand besprachen, erklärten geradezu, daß
die Ausschließungsmaßregeln lediglich ein Werk der Mandschu feien. Diese
wollen um jeden Preis ihre Herrschaft behaupten; sie sind eine kleine Minder¬
zahl und fürchten immer, daß Fremde ihnen eine Beute entreißen könnten,
die ihnen so leicht geworden war. Deshalb schlössen sie alle Häfen, um die
Fremden überhaupt fern zu halten, und im Innern suchten sie ihre Gegner
zu verstreuen. Beide Mittel waren bis in die jüngste Zeit hinein durchaus
wirksam: eine Handvoll Nomaden hat zwei Jahrhunderte lang ohne Anfechtung
über das am stärksten bevölkerte Reich der Welt geherrscht. Aber dieselben
Mittel sind nun auch wirksam, diese Herrschaft zu untergraben. Und eines
Tages werden die Fremden, die Barbaren, alle Pforten, die der Eingang zu
diesem Reich sind, in Trümmer schlagen und dann ein Volk ohne Zusammen¬
hang finden.

„Der edle und ehrwürdige Beamte in Seng-tsche-hier, ein Chinese aus der
guten alten Zeit, beklagte tief den Verfall seines Vaterlands. Er sagte:
»Seitdem wir von den geheiligten Überlieferungen unsrer Vorfahren abgewichen
sind, hat uns der Himmel verlassen. Wer die Dinge in ihrem ganzen Gange
verfolgt, wer da sieht, wie selbstsüchtig die Beamten sind, wie tief die Ver¬
derbnis des Volks ist, kann sich einer düstern Ahnung nicht erwehren; wir
stehn am Vorabend eines ungeheuern Umsturzes. Was kommen wird, und
welchen Verlauf die Dinge nehmen werden, vermag niemand zu sagen. Aber


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[0344] China daß alle Chinesen eine gleichartige Masse seien; der Unterschied zwischen den verschiednen Provinzen ist vielleicht noch stärker als der zwischen den ver- schiednen europäischen Ländern. . , . „In dieser Weise ist die chinesische Staatsgesellschaft seit Beginn der Mandschudynastie mehr und mehr von Verderbnis angefressen worden. Man hat in Europa eigentümliche Borstellungen über die vermeintliche Unbeweglich- keit dieses Volks. Man glaubt, daß Neuerungen, die doch von den Eroberern eingeführt wurden, alte Einrichtungen und aus dem ganzen Wesen des chine¬ sischen Volks entsprungen seien. Man glaubt ferner, daß der Chinese Ab¬ neigung gegen alles Ausländische habe. Und doch ist beides unrichtig. Der Geist der Ausschließlichkeit und das Fernhalten fremder Elemente ist mehr den Mandschumongolen eigen; erst sie wollten das Reich hermetisch abschließen. Denn früher standen die Chinesen mit den übrigen asiatischen Nationen in Verkehr. Araber, Perser und Inder durften ihre Häfen besuchen und dort Handel treiben; auch war ihnen keineswegs verboten, das Binnenland zu be¬ suchen. . . . Missionare konnten ganz China durchwandern und unbehindert ihre Religion verkündigen. Marco Polo wurde mit seinem Vater und seinen: Oheim zweimal sehr wohlwollend am kaiserlichen Hofe aufgenommen. Diese Venetianer bekleideten einflußreiche Ämter. Marco Polo war sogar Statthalter einer Provinz. Zu jener Zeit lebte in Peking ein Erzbischof, die Christen genossen freie Ausübung ihres Gottesdienstes. . . . Die Chinesen haben also keineswegs eine eingewurzelte Abneigung gegen die Ausländer. Viele Man¬ darinen, mit denen wir diesen Gegenstand besprachen, erklärten geradezu, daß die Ausschließungsmaßregeln lediglich ein Werk der Mandschu feien. Diese wollen um jeden Preis ihre Herrschaft behaupten; sie sind eine kleine Minder¬ zahl und fürchten immer, daß Fremde ihnen eine Beute entreißen könnten, die ihnen so leicht geworden war. Deshalb schlössen sie alle Häfen, um die Fremden überhaupt fern zu halten, und im Innern suchten sie ihre Gegner zu verstreuen. Beide Mittel waren bis in die jüngste Zeit hinein durchaus wirksam: eine Handvoll Nomaden hat zwei Jahrhunderte lang ohne Anfechtung über das am stärksten bevölkerte Reich der Welt geherrscht. Aber dieselben Mittel sind nun auch wirksam, diese Herrschaft zu untergraben. Und eines Tages werden die Fremden, die Barbaren, alle Pforten, die der Eingang zu diesem Reich sind, in Trümmer schlagen und dann ein Volk ohne Zusammen¬ hang finden. „Der edle und ehrwürdige Beamte in Seng-tsche-hier, ein Chinese aus der guten alten Zeit, beklagte tief den Verfall seines Vaterlands. Er sagte: »Seitdem wir von den geheiligten Überlieferungen unsrer Vorfahren abgewichen sind, hat uns der Himmel verlassen. Wer die Dinge in ihrem ganzen Gange verfolgt, wer da sieht, wie selbstsüchtig die Beamten sind, wie tief die Ver¬ derbnis des Volks ist, kann sich einer düstern Ahnung nicht erwehren; wir stehn am Vorabend eines ungeheuern Umsturzes. Was kommen wird, und welchen Verlauf die Dinge nehmen werden, vermag niemand zu sagen. Aber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/344>, abgerufen am 29.06.2024.