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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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China

Kollegien in Peking wurden an Zahl verdoppelt und zur einen Hälfte mit
Mandschu, zur andern mit Chinesen besetzt. Den Chinesen blieb auch die ge¬
samte Provinzialverwaltnng, mit Ausnahme der höhern Militärstellen und der
Befehlshaber in den Festungen. Trotz alledem war es schwer, die neue Ge¬
walt zu befestigen; denn die gestürzte Herrscherfamilie hatte unter den höhern
Beamten viele Anhänger, und diese konnten ihren Einfluß geltend machen. . . .
Dem begegnete man, indem der Mandarin seiner Heimat entfremdet wurde:
in seinem neuen Wirkungskreise konnte er keinen festen Boden gewinnen, weil
er eben nur drei Jahre lang an einem und demselben Orte blieb. Die
Mandschudynastie gab allerdings für diese Neuerung eine Menge von Schein¬
gründen an, die sie aus dem öffentlichen Nutzen und der Sorgfalt für das
Wohlergehn des Volks herleitete; sie machte insbesondre geltend, daß die
Beamten von allen Vorurteilen und Familieneinflüssen unabhängig seien, wenn
sie außerhalb ihrer Heimat angestellt würden. Der Hauptgrund lag aber, wie
schon gesagt worden ist, darin, daß man den Einfluß der Beamten brechen, sie
selbst lediglich von der Negierung in Peking abhängig machen wollte. Die
Dynastie hat in dieser Beziehung seit zwei Jahrhunderten ihre Absicht voll¬
kommen erreicht: die höhern Beamten werden aus einer Provinz in die andre
versetzt, können nirgends tiefe Wurzeln im Boden schlagen und treten in kein
näheres Einvernehmen mit dem Volke; die Parteihäupter der national-chine¬
sischen Richtung konnten sich nicht auf Beamte stützen, deren Amtsdauer nur
kurze Zeit währte, und so brachen denn anch keine Verschwörungen aus. Aber
diese Politik, die ganz geeignet war, eine noch neue Gewalt zu befestigen,
mußte nach und nach überwiegend große Übelstände im Gefolge haben. . . .
Beamte, die nur zeitweilig an einem Orte leben, bleiben dort eigentlich fremd
und haben keine innern Beziehungen zur Einwohnerschaft; sie machen möglichst
viel Geld, werden versetzt und treiben an jedem andern Orte dasselbe, bis sie
so viel zusammengescharrt haben, daß sie in ihrer Heimat unabhängig leben
können. Sie kümmern sich wenig um die Verwünschungen und den Haß der
Bedrückten, denn heute sind sie hier, und in ein paar Wochen um einige hundert
Meilen von hier entfernt.

"So ist es gekommen, daß die Mandarinen selbstsüchtig und gleichgiltig
gegen das Gemeinwohl geworden sind. Das Grundprinzip der chinesischen
Monarchie ist zerstört worden, seitdem der Beamte nicht mehr wie ein Familien¬
vater unter seinen Kindern lebt, sondern wie ein Zugvogel wandert. Seit der
Herrschaft der Mandschu ist alles im Reiche erschlafft, und vieles ist abge¬
storben. Große Arbeiten zum allgemeinen Nutzen, dergleichen die frühern
Dynastien unternahmen, Kanäle, hohe Türme, prächtige Brücken, breite Straßen
über die Gebirge, Eindeichungen der Ströme, das alles haben die Mandschu
unbeachtet gelassen; was frühere Zeiten Großes geschaffen haben, zerfällt in
Trümmer. Die Beamten wechseln so häufig, daß sie gar nicht Zeit haben,
ihren Verwaltungsbezirk auch nur einigermaßen genau kennen zu lernen; oft
verstehn sie nicht einmal die Volkssprache. Denn man darf nicht etwa glauben,


China

Kollegien in Peking wurden an Zahl verdoppelt und zur einen Hälfte mit
Mandschu, zur andern mit Chinesen besetzt. Den Chinesen blieb auch die ge¬
samte Provinzialverwaltnng, mit Ausnahme der höhern Militärstellen und der
Befehlshaber in den Festungen. Trotz alledem war es schwer, die neue Ge¬
walt zu befestigen; denn die gestürzte Herrscherfamilie hatte unter den höhern
Beamten viele Anhänger, und diese konnten ihren Einfluß geltend machen. . . .
Dem begegnete man, indem der Mandarin seiner Heimat entfremdet wurde:
in seinem neuen Wirkungskreise konnte er keinen festen Boden gewinnen, weil
er eben nur drei Jahre lang an einem und demselben Orte blieb. Die
Mandschudynastie gab allerdings für diese Neuerung eine Menge von Schein¬
gründen an, die sie aus dem öffentlichen Nutzen und der Sorgfalt für das
Wohlergehn des Volks herleitete; sie machte insbesondre geltend, daß die
Beamten von allen Vorurteilen und Familieneinflüssen unabhängig seien, wenn
sie außerhalb ihrer Heimat angestellt würden. Der Hauptgrund lag aber, wie
schon gesagt worden ist, darin, daß man den Einfluß der Beamten brechen, sie
selbst lediglich von der Negierung in Peking abhängig machen wollte. Die
Dynastie hat in dieser Beziehung seit zwei Jahrhunderten ihre Absicht voll¬
kommen erreicht: die höhern Beamten werden aus einer Provinz in die andre
versetzt, können nirgends tiefe Wurzeln im Boden schlagen und treten in kein
näheres Einvernehmen mit dem Volke; die Parteihäupter der national-chine¬
sischen Richtung konnten sich nicht auf Beamte stützen, deren Amtsdauer nur
kurze Zeit währte, und so brachen denn anch keine Verschwörungen aus. Aber
diese Politik, die ganz geeignet war, eine noch neue Gewalt zu befestigen,
mußte nach und nach überwiegend große Übelstände im Gefolge haben. . . .
Beamte, die nur zeitweilig an einem Orte leben, bleiben dort eigentlich fremd
und haben keine innern Beziehungen zur Einwohnerschaft; sie machen möglichst
viel Geld, werden versetzt und treiben an jedem andern Orte dasselbe, bis sie
so viel zusammengescharrt haben, daß sie in ihrer Heimat unabhängig leben
können. Sie kümmern sich wenig um die Verwünschungen und den Haß der
Bedrückten, denn heute sind sie hier, und in ein paar Wochen um einige hundert
Meilen von hier entfernt.

„So ist es gekommen, daß die Mandarinen selbstsüchtig und gleichgiltig
gegen das Gemeinwohl geworden sind. Das Grundprinzip der chinesischen
Monarchie ist zerstört worden, seitdem der Beamte nicht mehr wie ein Familien¬
vater unter seinen Kindern lebt, sondern wie ein Zugvogel wandert. Seit der
Herrschaft der Mandschu ist alles im Reiche erschlafft, und vieles ist abge¬
storben. Große Arbeiten zum allgemeinen Nutzen, dergleichen die frühern
Dynastien unternahmen, Kanäle, hohe Türme, prächtige Brücken, breite Straßen
über die Gebirge, Eindeichungen der Ströme, das alles haben die Mandschu
unbeachtet gelassen; was frühere Zeiten Großes geschaffen haben, zerfällt in
Trümmer. Die Beamten wechseln so häufig, daß sie gar nicht Zeit haben,
ihren Verwaltungsbezirk auch nur einigermaßen genau kennen zu lernen; oft
verstehn sie nicht einmal die Volkssprache. Denn man darf nicht etwa glauben,


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[0343] China Kollegien in Peking wurden an Zahl verdoppelt und zur einen Hälfte mit Mandschu, zur andern mit Chinesen besetzt. Den Chinesen blieb auch die ge¬ samte Provinzialverwaltnng, mit Ausnahme der höhern Militärstellen und der Befehlshaber in den Festungen. Trotz alledem war es schwer, die neue Ge¬ walt zu befestigen; denn die gestürzte Herrscherfamilie hatte unter den höhern Beamten viele Anhänger, und diese konnten ihren Einfluß geltend machen. . . . Dem begegnete man, indem der Mandarin seiner Heimat entfremdet wurde: in seinem neuen Wirkungskreise konnte er keinen festen Boden gewinnen, weil er eben nur drei Jahre lang an einem und demselben Orte blieb. Die Mandschudynastie gab allerdings für diese Neuerung eine Menge von Schein¬ gründen an, die sie aus dem öffentlichen Nutzen und der Sorgfalt für das Wohlergehn des Volks herleitete; sie machte insbesondre geltend, daß die Beamten von allen Vorurteilen und Familieneinflüssen unabhängig seien, wenn sie außerhalb ihrer Heimat angestellt würden. Der Hauptgrund lag aber, wie schon gesagt worden ist, darin, daß man den Einfluß der Beamten brechen, sie selbst lediglich von der Negierung in Peking abhängig machen wollte. Die Dynastie hat in dieser Beziehung seit zwei Jahrhunderten ihre Absicht voll¬ kommen erreicht: die höhern Beamten werden aus einer Provinz in die andre versetzt, können nirgends tiefe Wurzeln im Boden schlagen und treten in kein näheres Einvernehmen mit dem Volke; die Parteihäupter der national-chine¬ sischen Richtung konnten sich nicht auf Beamte stützen, deren Amtsdauer nur kurze Zeit währte, und so brachen denn anch keine Verschwörungen aus. Aber diese Politik, die ganz geeignet war, eine noch neue Gewalt zu befestigen, mußte nach und nach überwiegend große Übelstände im Gefolge haben. . . . Beamte, die nur zeitweilig an einem Orte leben, bleiben dort eigentlich fremd und haben keine innern Beziehungen zur Einwohnerschaft; sie machen möglichst viel Geld, werden versetzt und treiben an jedem andern Orte dasselbe, bis sie so viel zusammengescharrt haben, daß sie in ihrer Heimat unabhängig leben können. Sie kümmern sich wenig um die Verwünschungen und den Haß der Bedrückten, denn heute sind sie hier, und in ein paar Wochen um einige hundert Meilen von hier entfernt. „So ist es gekommen, daß die Mandarinen selbstsüchtig und gleichgiltig gegen das Gemeinwohl geworden sind. Das Grundprinzip der chinesischen Monarchie ist zerstört worden, seitdem der Beamte nicht mehr wie ein Familien¬ vater unter seinen Kindern lebt, sondern wie ein Zugvogel wandert. Seit der Herrschaft der Mandschu ist alles im Reiche erschlafft, und vieles ist abge¬ storben. Große Arbeiten zum allgemeinen Nutzen, dergleichen die frühern Dynastien unternahmen, Kanäle, hohe Türme, prächtige Brücken, breite Straßen über die Gebirge, Eindeichungen der Ströme, das alles haben die Mandschu unbeachtet gelassen; was frühere Zeiten Großes geschaffen haben, zerfällt in Trümmer. Die Beamten wechseln so häufig, daß sie gar nicht Zeit haben, ihren Verwaltungsbezirk auch nur einigermaßen genau kennen zu lernen; oft verstehn sie nicht einmal die Volkssprache. Denn man darf nicht etwa glauben,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/343>, abgerufen am 29.06.2024.