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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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bei Schanghai und an andern Orten ja auch schon die Fabriken in voller
Thätigkeit, um das europäische, mühsam eroberte Absatzgebiet wieder für China
zurückzuerobern. Vorläufig noch meist von Europäern geleitete Anlagen mit
chinesischen Arbeitern. Aber der Chinese, zwar kein erfinderischer Geist, aber
ein vortreffliches nachahmendes Talent, wird der Lehrer nicht lange bedürfen
und wird dann den Spieß gegen uns umkehren. Indem wir, noch dazu mit
blindem Stolz, der Verpflanzung europäischer Industrie nach China Vorschub
leisten, statt sie mit allen, auch den gewaltsamsten Mitteln zu verhindern, sägen
wir den Ast selbst ab, auf dem wir sitzen.

Wollen wir uns China als Absatzgebiet erhalten -- und ein andres prak¬
tisches Interesse hat es ja vorläufig für uns nicht --, so müssen wir seine
Abgeschlossenheit sowohl in Rücksicht auf die chinesische Auswandrung als in
Rücksicht auf das Eindringen europäischer Industrie wünschen, und wir müssen
vor allem möglichst verhindern, daß sich China unter europäischer Schulung
und mit europäischen Waffen ein unsern Truppen ebenbürtiges Heer und eine
ebenbürtige Flotte schafft. Von diesem Standpunkt aus haben wir ein Inter¬
esse an der Erhaltung des chinesischen Reichs in seinem gegenwärtigen Bestände
und an der Erhaltung der gegenwärtig herrschenden Dynastie.

Die Herrschaft der Mandschu über China wurde bekanntlich im Jahre 1644
begründet, und es wird uns berichtet, daß der Stillstand der Kultur, der unsre
Verwundrung hervorruft, hauptsächlich seit dem Emporkommen dieser Herrschaft
eingetreten sei. Die Mandschu sind ein Herrscherstamm, der in verhältnis¬
mäßig geringer Zahl aus dem rauhen Norden vorbrechend die ungeheure
Masse des weichern Volkes der Chinesen mit kräftiger Faust unter seine Ge¬
walt beugte und durch ein fest geordnetes Beamtenheer unter mandschurischer
Führung in seiner Gewalt erhielt. In der vortrefflichen Reisebeschreibung von
Huc und Gabel*) wird immer wieder auf den Verfall des einst vorzüglich ge¬
ordneten Reichs unter der Mandschudynastie hingewiesen. "Es verfällt -- so
schreibt Huc am Schluß der vierziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts --
immer mehr und geht vielleicht schon in naher Zukunft einem entsetzlichen
Ruin entgegen. Wir haben den Ursachen dieser allgemeinen Zersetzung und
Verderbnis nachgeforscht, und wir finden, daß sie vorzugsweise daher kommen, daß
die Mandschudynastie das alte Regierungssystem in vielen wesentlichen Punkten
sehr empfindlich beeinträchtigt hat. Sie hat angeordnet, daß ein Mandarin
sein Amt an einem und demselben Ort nicht länger als drei Jahre bekleiden solle,
und daß keiner in seiner Heimatprovinz Beamter werden und sein könne. Es
liegt auf der flachen Hand, was damit bezweckt werden soll. Die Mandschu
kamen als Eroberer nach China und erschraken über ihre geringe Zahl. . . .
Die Zahl der Mandschu reichte nicht aus, alle Beamtenstellen zu besetzen, auch
hätte eine solche Maßregel einen allzu gehässigen Charakter gehabt. Die Be¬
siegten sollten also nach wie vor Beamtenstellen bekleiden. Die bei den höchsten



*) Wanderung durch das chinesische Reich, deutsch bearbeitet von Andree. Leipzig, 18S5,
Lhinci

bei Schanghai und an andern Orten ja auch schon die Fabriken in voller
Thätigkeit, um das europäische, mühsam eroberte Absatzgebiet wieder für China
zurückzuerobern. Vorläufig noch meist von Europäern geleitete Anlagen mit
chinesischen Arbeitern. Aber der Chinese, zwar kein erfinderischer Geist, aber
ein vortreffliches nachahmendes Talent, wird der Lehrer nicht lange bedürfen
und wird dann den Spieß gegen uns umkehren. Indem wir, noch dazu mit
blindem Stolz, der Verpflanzung europäischer Industrie nach China Vorschub
leisten, statt sie mit allen, auch den gewaltsamsten Mitteln zu verhindern, sägen
wir den Ast selbst ab, auf dem wir sitzen.

Wollen wir uns China als Absatzgebiet erhalten — und ein andres prak¬
tisches Interesse hat es ja vorläufig für uns nicht —, so müssen wir seine
Abgeschlossenheit sowohl in Rücksicht auf die chinesische Auswandrung als in
Rücksicht auf das Eindringen europäischer Industrie wünschen, und wir müssen
vor allem möglichst verhindern, daß sich China unter europäischer Schulung
und mit europäischen Waffen ein unsern Truppen ebenbürtiges Heer und eine
ebenbürtige Flotte schafft. Von diesem Standpunkt aus haben wir ein Inter¬
esse an der Erhaltung des chinesischen Reichs in seinem gegenwärtigen Bestände
und an der Erhaltung der gegenwärtig herrschenden Dynastie.

Die Herrschaft der Mandschu über China wurde bekanntlich im Jahre 1644
begründet, und es wird uns berichtet, daß der Stillstand der Kultur, der unsre
Verwundrung hervorruft, hauptsächlich seit dem Emporkommen dieser Herrschaft
eingetreten sei. Die Mandschu sind ein Herrscherstamm, der in verhältnis¬
mäßig geringer Zahl aus dem rauhen Norden vorbrechend die ungeheure
Masse des weichern Volkes der Chinesen mit kräftiger Faust unter seine Ge¬
walt beugte und durch ein fest geordnetes Beamtenheer unter mandschurischer
Führung in seiner Gewalt erhielt. In der vortrefflichen Reisebeschreibung von
Huc und Gabel*) wird immer wieder auf den Verfall des einst vorzüglich ge¬
ordneten Reichs unter der Mandschudynastie hingewiesen. „Es verfällt — so
schreibt Huc am Schluß der vierziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts —
immer mehr und geht vielleicht schon in naher Zukunft einem entsetzlichen
Ruin entgegen. Wir haben den Ursachen dieser allgemeinen Zersetzung und
Verderbnis nachgeforscht, und wir finden, daß sie vorzugsweise daher kommen, daß
die Mandschudynastie das alte Regierungssystem in vielen wesentlichen Punkten
sehr empfindlich beeinträchtigt hat. Sie hat angeordnet, daß ein Mandarin
sein Amt an einem und demselben Ort nicht länger als drei Jahre bekleiden solle,
und daß keiner in seiner Heimatprovinz Beamter werden und sein könne. Es
liegt auf der flachen Hand, was damit bezweckt werden soll. Die Mandschu
kamen als Eroberer nach China und erschraken über ihre geringe Zahl. . . .
Die Zahl der Mandschu reichte nicht aus, alle Beamtenstellen zu besetzen, auch
hätte eine solche Maßregel einen allzu gehässigen Charakter gehabt. Die Be¬
siegten sollten also nach wie vor Beamtenstellen bekleiden. Die bei den höchsten



*) Wanderung durch das chinesische Reich, deutsch bearbeitet von Andree. Leipzig, 18S5,
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[0342] Lhinci bei Schanghai und an andern Orten ja auch schon die Fabriken in voller Thätigkeit, um das europäische, mühsam eroberte Absatzgebiet wieder für China zurückzuerobern. Vorläufig noch meist von Europäern geleitete Anlagen mit chinesischen Arbeitern. Aber der Chinese, zwar kein erfinderischer Geist, aber ein vortreffliches nachahmendes Talent, wird der Lehrer nicht lange bedürfen und wird dann den Spieß gegen uns umkehren. Indem wir, noch dazu mit blindem Stolz, der Verpflanzung europäischer Industrie nach China Vorschub leisten, statt sie mit allen, auch den gewaltsamsten Mitteln zu verhindern, sägen wir den Ast selbst ab, auf dem wir sitzen. Wollen wir uns China als Absatzgebiet erhalten — und ein andres prak¬ tisches Interesse hat es ja vorläufig für uns nicht —, so müssen wir seine Abgeschlossenheit sowohl in Rücksicht auf die chinesische Auswandrung als in Rücksicht auf das Eindringen europäischer Industrie wünschen, und wir müssen vor allem möglichst verhindern, daß sich China unter europäischer Schulung und mit europäischen Waffen ein unsern Truppen ebenbürtiges Heer und eine ebenbürtige Flotte schafft. Von diesem Standpunkt aus haben wir ein Inter¬ esse an der Erhaltung des chinesischen Reichs in seinem gegenwärtigen Bestände und an der Erhaltung der gegenwärtig herrschenden Dynastie. Die Herrschaft der Mandschu über China wurde bekanntlich im Jahre 1644 begründet, und es wird uns berichtet, daß der Stillstand der Kultur, der unsre Verwundrung hervorruft, hauptsächlich seit dem Emporkommen dieser Herrschaft eingetreten sei. Die Mandschu sind ein Herrscherstamm, der in verhältnis¬ mäßig geringer Zahl aus dem rauhen Norden vorbrechend die ungeheure Masse des weichern Volkes der Chinesen mit kräftiger Faust unter seine Ge¬ walt beugte und durch ein fest geordnetes Beamtenheer unter mandschurischer Führung in seiner Gewalt erhielt. In der vortrefflichen Reisebeschreibung von Huc und Gabel*) wird immer wieder auf den Verfall des einst vorzüglich ge¬ ordneten Reichs unter der Mandschudynastie hingewiesen. „Es verfällt — so schreibt Huc am Schluß der vierziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts — immer mehr und geht vielleicht schon in naher Zukunft einem entsetzlichen Ruin entgegen. Wir haben den Ursachen dieser allgemeinen Zersetzung und Verderbnis nachgeforscht, und wir finden, daß sie vorzugsweise daher kommen, daß die Mandschudynastie das alte Regierungssystem in vielen wesentlichen Punkten sehr empfindlich beeinträchtigt hat. Sie hat angeordnet, daß ein Mandarin sein Amt an einem und demselben Ort nicht länger als drei Jahre bekleiden solle, und daß keiner in seiner Heimatprovinz Beamter werden und sein könne. Es liegt auf der flachen Hand, was damit bezweckt werden soll. Die Mandschu kamen als Eroberer nach China und erschraken über ihre geringe Zahl. . . . Die Zahl der Mandschu reichte nicht aus, alle Beamtenstellen zu besetzen, auch hätte eine solche Maßregel einen allzu gehässigen Charakter gehabt. Die Be¬ siegten sollten also nach wie vor Beamtenstellen bekleiden. Die bei den höchsten *) Wanderung durch das chinesische Reich, deutsch bearbeitet von Andree. Leipzig, 18S5,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/342>, abgerufen am 29.06.2024.