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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Lernjahre eines Theologen

Deckung und Halt bei fremden Organismen. Das eigne religiöse Erleben ist
damit zum größern Teil erspart. Das Erleben andrer tritt stellvertretend
dafür ein. Man hat nur nötig, sich die Gedanken andrer anzueignen. Wer
aber schon etwas von Religion erlebt hat, der weiß, daß der Mensch in ihr
rücksichtslos wahr sein muß. Zu der Unwahrheit, die er zuerst ablegen muß,
wenn er Gott finden will, gehören auch alle die angelernten oder angequälten
fremden Glaubensgedanken. Mit ihnen darf er nicht seine jämmerliche Blöße
zu verhüllen suchen, sondern Auge in Auge soll er vor Gott treten und nichts
andres als wahr gelten lassen, als was im tiefsten Innern ihm als göttliche
Wahrheit kund wird. Nur so gelangen wir zu den uns heute so besonders not¬
wendigen religiösen Persönlichkeiten, die nur in eigentümlicher, scharfgeschnittner
Originalität zu wirken vermögen. Besser daß ein solcher Charakter nur eine
Seite der Religion vertritt, als daß in dem heute üblichen sentimentalen
Phrasenbrei des religiösen Parasitentums jedes selbständige religiöse Leben er¬
stickt wird.

Also wichtiger als daß ein Geistlicher in übertriebner Pietät gegen ehr¬
würdige Traditionen seine persönliche Art verliert, ist, daß er ein selbständiges
religiöses Leben hat und es nährt. Die Hauptfrage für einen Theologen, der
vor dem Eintritt in das Pfarramt steht, ist nicht: Ist die Masse des über¬
lieferten Stoffs, den ich für richtig halte, auch groß genug? Denn Religion
besteht nicht im Markten und Feilschen um ein Mehr oder Weniger von Lehr¬
sätzen der Überlieferung, sondern in ernstem, wahrhaftigen Leben in Gott.
Ich werde nicht frommer, wenn ich mich quäle, das "empfangen vom heiligen
Geist, geboren von der Jungfrau Maria" zu glauben oder mich von der Echt¬
heit möglichst vieler nentestmnentlicher Schriften zu überzeugen. Die eigentliche
Grundfrage für einen Theologen, der ein Pfarramt übernehmen will, ist viel¬
mehr: Bist du selbst ein Mensch, der in Gott lebt, oder ist dir die Religion
nur etwas äußerlich Angelerntes, etwas Ererbtes oder Angequirltes? Nietzsche,
der scharfe Psycholog menschlicher Schwächen, hat in einer auf viele zutreffenden
Weise den menschlichen Selbstbetrug aufgedeckt:

"Verlobte, die die Konvenienz zusammengefügt hat, bemühen sich häufig
verliebt zu werden, um über den Vorwurf der kalten, berechnenden Nützlichkeit
hinweg zu kommen. Ebenso bemühen sich viele, die ihres Vorteils wegen zum
Christentum umlenken, wirklich fromm zu werden, denn so wird das religiöse
Mienenspiel ihnen leichter." "Wenn einer sehr lange und hartnäckig etwas
scheinen will, so wird es ihm zuletzt schwer, etwas andres znsein." "Priester,
die als junge Männer gewöhnlich bewußt oder unbewußt Heuchler werden,
werden zuletzt natürlich und sind ohne alle Affektation -- eben Priester."*)
Wenn man auch gegen ungerechte Verallgemeinerung solcher Sätze protestieren
muß, sy muß doch zugegeben werden, daß Nietzsche hier scharfsinnig die Gefahr,
sich unwahrhaftig in die Religion hineinzuleben, durchschaut hat. Darum sollte



Menschliches, Allzumenschliches, S. 2S6, S. 57.
Grenzboten IV 1900
Lernjahre eines Theologen

Deckung und Halt bei fremden Organismen. Das eigne religiöse Erleben ist
damit zum größern Teil erspart. Das Erleben andrer tritt stellvertretend
dafür ein. Man hat nur nötig, sich die Gedanken andrer anzueignen. Wer
aber schon etwas von Religion erlebt hat, der weiß, daß der Mensch in ihr
rücksichtslos wahr sein muß. Zu der Unwahrheit, die er zuerst ablegen muß,
wenn er Gott finden will, gehören auch alle die angelernten oder angequälten
fremden Glaubensgedanken. Mit ihnen darf er nicht seine jämmerliche Blöße
zu verhüllen suchen, sondern Auge in Auge soll er vor Gott treten und nichts
andres als wahr gelten lassen, als was im tiefsten Innern ihm als göttliche
Wahrheit kund wird. Nur so gelangen wir zu den uns heute so besonders not¬
wendigen religiösen Persönlichkeiten, die nur in eigentümlicher, scharfgeschnittner
Originalität zu wirken vermögen. Besser daß ein solcher Charakter nur eine
Seite der Religion vertritt, als daß in dem heute üblichen sentimentalen
Phrasenbrei des religiösen Parasitentums jedes selbständige religiöse Leben er¬
stickt wird.

Also wichtiger als daß ein Geistlicher in übertriebner Pietät gegen ehr¬
würdige Traditionen seine persönliche Art verliert, ist, daß er ein selbständiges
religiöses Leben hat und es nährt. Die Hauptfrage für einen Theologen, der
vor dem Eintritt in das Pfarramt steht, ist nicht: Ist die Masse des über¬
lieferten Stoffs, den ich für richtig halte, auch groß genug? Denn Religion
besteht nicht im Markten und Feilschen um ein Mehr oder Weniger von Lehr¬
sätzen der Überlieferung, sondern in ernstem, wahrhaftigen Leben in Gott.
Ich werde nicht frommer, wenn ich mich quäle, das „empfangen vom heiligen
Geist, geboren von der Jungfrau Maria" zu glauben oder mich von der Echt¬
heit möglichst vieler nentestmnentlicher Schriften zu überzeugen. Die eigentliche
Grundfrage für einen Theologen, der ein Pfarramt übernehmen will, ist viel¬
mehr: Bist du selbst ein Mensch, der in Gott lebt, oder ist dir die Religion
nur etwas äußerlich Angelerntes, etwas Ererbtes oder Angequirltes? Nietzsche,
der scharfe Psycholog menschlicher Schwächen, hat in einer auf viele zutreffenden
Weise den menschlichen Selbstbetrug aufgedeckt:

„Verlobte, die die Konvenienz zusammengefügt hat, bemühen sich häufig
verliebt zu werden, um über den Vorwurf der kalten, berechnenden Nützlichkeit
hinweg zu kommen. Ebenso bemühen sich viele, die ihres Vorteils wegen zum
Christentum umlenken, wirklich fromm zu werden, denn so wird das religiöse
Mienenspiel ihnen leichter." „Wenn einer sehr lange und hartnäckig etwas
scheinen will, so wird es ihm zuletzt schwer, etwas andres znsein." „Priester,
die als junge Männer gewöhnlich bewußt oder unbewußt Heuchler werden,
werden zuletzt natürlich und sind ohne alle Affektation — eben Priester."*)
Wenn man auch gegen ungerechte Verallgemeinerung solcher Sätze protestieren
muß, sy muß doch zugegeben werden, daß Nietzsche hier scharfsinnig die Gefahr,
sich unwahrhaftig in die Religion hineinzuleben, durchschaut hat. Darum sollte



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[0303] Lernjahre eines Theologen Deckung und Halt bei fremden Organismen. Das eigne religiöse Erleben ist damit zum größern Teil erspart. Das Erleben andrer tritt stellvertretend dafür ein. Man hat nur nötig, sich die Gedanken andrer anzueignen. Wer aber schon etwas von Religion erlebt hat, der weiß, daß der Mensch in ihr rücksichtslos wahr sein muß. Zu der Unwahrheit, die er zuerst ablegen muß, wenn er Gott finden will, gehören auch alle die angelernten oder angequälten fremden Glaubensgedanken. Mit ihnen darf er nicht seine jämmerliche Blöße zu verhüllen suchen, sondern Auge in Auge soll er vor Gott treten und nichts andres als wahr gelten lassen, als was im tiefsten Innern ihm als göttliche Wahrheit kund wird. Nur so gelangen wir zu den uns heute so besonders not¬ wendigen religiösen Persönlichkeiten, die nur in eigentümlicher, scharfgeschnittner Originalität zu wirken vermögen. Besser daß ein solcher Charakter nur eine Seite der Religion vertritt, als daß in dem heute üblichen sentimentalen Phrasenbrei des religiösen Parasitentums jedes selbständige religiöse Leben er¬ stickt wird. Also wichtiger als daß ein Geistlicher in übertriebner Pietät gegen ehr¬ würdige Traditionen seine persönliche Art verliert, ist, daß er ein selbständiges religiöses Leben hat und es nährt. Die Hauptfrage für einen Theologen, der vor dem Eintritt in das Pfarramt steht, ist nicht: Ist die Masse des über¬ lieferten Stoffs, den ich für richtig halte, auch groß genug? Denn Religion besteht nicht im Markten und Feilschen um ein Mehr oder Weniger von Lehr¬ sätzen der Überlieferung, sondern in ernstem, wahrhaftigen Leben in Gott. Ich werde nicht frommer, wenn ich mich quäle, das „empfangen vom heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria" zu glauben oder mich von der Echt¬ heit möglichst vieler nentestmnentlicher Schriften zu überzeugen. Die eigentliche Grundfrage für einen Theologen, der ein Pfarramt übernehmen will, ist viel¬ mehr: Bist du selbst ein Mensch, der in Gott lebt, oder ist dir die Religion nur etwas äußerlich Angelerntes, etwas Ererbtes oder Angequirltes? Nietzsche, der scharfe Psycholog menschlicher Schwächen, hat in einer auf viele zutreffenden Weise den menschlichen Selbstbetrug aufgedeckt: „Verlobte, die die Konvenienz zusammengefügt hat, bemühen sich häufig verliebt zu werden, um über den Vorwurf der kalten, berechnenden Nützlichkeit hinweg zu kommen. Ebenso bemühen sich viele, die ihres Vorteils wegen zum Christentum umlenken, wirklich fromm zu werden, denn so wird das religiöse Mienenspiel ihnen leichter." „Wenn einer sehr lange und hartnäckig etwas scheinen will, so wird es ihm zuletzt schwer, etwas andres znsein." „Priester, die als junge Männer gewöhnlich bewußt oder unbewußt Heuchler werden, werden zuletzt natürlich und sind ohne alle Affektation — eben Priester."*) Wenn man auch gegen ungerechte Verallgemeinerung solcher Sätze protestieren muß, sy muß doch zugegeben werden, daß Nietzsche hier scharfsinnig die Gefahr, sich unwahrhaftig in die Religion hineinzuleben, durchschaut hat. Darum sollte Menschliches, Allzumenschliches, S. 2S6, S. 57. Grenzboten IV 1900

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/303>, abgerufen am 29.06.2024.