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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Lernjahre eines Theologen

fähiger Geistlicher zu sein. Wissenschaftliche Erforschung der Wahrheit und
die Fähigkeit, die Wahrheit wirksam mitzuteilen und zu vertreten, fallen oft
auseinander.

In der Theologie sind es jedoch noch zwei besondre Gründe, die eine
große Kluft zwischen Wissenschaft und Praxis aufgethan haben. In den Pfarr¬
häusern weht meist eine vollkommen andre Luft als in Universitätskreisen.
Ein jüngerer Dozent äußerte sich einst zu mir: Wer einmal Geistlicher gewesen
ist, ist für die Wissenschaft verloren. Andrerseits sind die Anklagen, die auf
kirchlichen Synoden und Pastoralkonferenzen gegen die Universitätstheologie
erhoben werden, bekannt genug: sie entfremde ihre Jünger dem Glauben der
Kirche, sie erziehe sie in einem Geist des Kritizismus, sie suche ihre Ehre
darin, die altheiliger Urkunden des Glaubens in ihrer Glaubwürdigkeit zu ver¬
dächtigen, kurz sie erreiche alles andre eher, als daß sie geeignete praktische
Geistliche erziehe.

Für viele Theologen ist dieser Gegensatz der fortgeschrittenen Universitäts-
thevlogie zu der stagnierenden, in der Kirche herrschenden Durchschuittsmcinung
der Grund, warum sie dem kirchlichen Amt den Rücken kehren. Und sehr viele,
sowohl orthodoxe wie der Kirche entfremdete Menschen, die auch hier in der
Beurteilung Hand in Hand gehn, loben solche Leute, daß sie ehrlich dem kirch¬
lichen Amt den Rücken kehren, anstatt unwahr zu werden und ihren Geist in
drückende Fesseln schlagen zu lassen. Ich halte diese Ansicht für unrichtig.
Denn kirchenrechtlich ist in der Gegenwart nicht festgelegt, was die geltende
Kirchenlehre ist. An den alten Symbolen wird dem Buchstaben nach nicht
mehr festgehalten, und der in ihnen lebende Geist läßt sich nicht in Para¬
graphen fassen. Infolgedessen herrscht heutzutage vollkommne Rechtsunsicher-
heit. Die Behörden der Kirche haben die Macht, je nach Gutdünken die Be¬
kenntnisse strenger oder weiter als Norm für den Geistlichen zu fassen. Glück¬
licherweise sind die Konsistorien nun auch nicht unabhängig von dem in die
Kirche eindringenden neuen Geist, der die Schale der alten Dogmen gern hin¬
giebt, wenn sie brüchig geworden ist. Zwar pflegen die Konsistorien im Durch¬
schnitt dreißig bis vierzig Jahre hinter der Entwicklung der Zeit zurückzubleiben,
aber sie sind doch keine starre, unveränderliche Größe; auch haben sie die
Wahrheit und den heiligen Geist nicht für sich gepachtet; sondern der Geist
weht, wo er will, auch in der für abtrünnig angesehenen Universitätstheologie.

Weit wichtiger jedoch als die gegenwärtige rechtliche Lage ist die religiöse
Frage. Hier ist es der Grundfehler der mit dem radikalen Unglauben einigen
Orthodoxie, daß sie das religiöse Leben etwa wie das Leben der Schmarotzer¬
pflanzen und -Tiere betrachtet: Der religiöse Mensch lebe, indem er sich von
den religiösen Gedanken der Überlieferung nähre. Er eigne sich, sei es mit
gewaltsamer Unterdrückung seines Ichs, seines gesunden Denkens, Fühlens und
Wollens, sei es mit ehrfürchtiger Demut die Gedanken an, die die religiösen
Genien in ihrem innersten Selbst erlebt haben. Das religiöse Leben ist nach
dieser Meinung kein selbständiger Organismus, soudern es sucht Unterschlupf,


Lernjahre eines Theologen

fähiger Geistlicher zu sein. Wissenschaftliche Erforschung der Wahrheit und
die Fähigkeit, die Wahrheit wirksam mitzuteilen und zu vertreten, fallen oft
auseinander.

In der Theologie sind es jedoch noch zwei besondre Gründe, die eine
große Kluft zwischen Wissenschaft und Praxis aufgethan haben. In den Pfarr¬
häusern weht meist eine vollkommen andre Luft als in Universitätskreisen.
Ein jüngerer Dozent äußerte sich einst zu mir: Wer einmal Geistlicher gewesen
ist, ist für die Wissenschaft verloren. Andrerseits sind die Anklagen, die auf
kirchlichen Synoden und Pastoralkonferenzen gegen die Universitätstheologie
erhoben werden, bekannt genug: sie entfremde ihre Jünger dem Glauben der
Kirche, sie erziehe sie in einem Geist des Kritizismus, sie suche ihre Ehre
darin, die altheiliger Urkunden des Glaubens in ihrer Glaubwürdigkeit zu ver¬
dächtigen, kurz sie erreiche alles andre eher, als daß sie geeignete praktische
Geistliche erziehe.

Für viele Theologen ist dieser Gegensatz der fortgeschrittenen Universitäts-
thevlogie zu der stagnierenden, in der Kirche herrschenden Durchschuittsmcinung
der Grund, warum sie dem kirchlichen Amt den Rücken kehren. Und sehr viele,
sowohl orthodoxe wie der Kirche entfremdete Menschen, die auch hier in der
Beurteilung Hand in Hand gehn, loben solche Leute, daß sie ehrlich dem kirch¬
lichen Amt den Rücken kehren, anstatt unwahr zu werden und ihren Geist in
drückende Fesseln schlagen zu lassen. Ich halte diese Ansicht für unrichtig.
Denn kirchenrechtlich ist in der Gegenwart nicht festgelegt, was die geltende
Kirchenlehre ist. An den alten Symbolen wird dem Buchstaben nach nicht
mehr festgehalten, und der in ihnen lebende Geist läßt sich nicht in Para¬
graphen fassen. Infolgedessen herrscht heutzutage vollkommne Rechtsunsicher-
heit. Die Behörden der Kirche haben die Macht, je nach Gutdünken die Be¬
kenntnisse strenger oder weiter als Norm für den Geistlichen zu fassen. Glück¬
licherweise sind die Konsistorien nun auch nicht unabhängig von dem in die
Kirche eindringenden neuen Geist, der die Schale der alten Dogmen gern hin¬
giebt, wenn sie brüchig geworden ist. Zwar pflegen die Konsistorien im Durch¬
schnitt dreißig bis vierzig Jahre hinter der Entwicklung der Zeit zurückzubleiben,
aber sie sind doch keine starre, unveränderliche Größe; auch haben sie die
Wahrheit und den heiligen Geist nicht für sich gepachtet; sondern der Geist
weht, wo er will, auch in der für abtrünnig angesehenen Universitätstheologie.

Weit wichtiger jedoch als die gegenwärtige rechtliche Lage ist die religiöse
Frage. Hier ist es der Grundfehler der mit dem radikalen Unglauben einigen
Orthodoxie, daß sie das religiöse Leben etwa wie das Leben der Schmarotzer¬
pflanzen und -Tiere betrachtet: Der religiöse Mensch lebe, indem er sich von
den religiösen Gedanken der Überlieferung nähre. Er eigne sich, sei es mit
gewaltsamer Unterdrückung seines Ichs, seines gesunden Denkens, Fühlens und
Wollens, sei es mit ehrfürchtiger Demut die Gedanken an, die die religiösen
Genien in ihrem innersten Selbst erlebt haben. Das religiöse Leben ist nach
dieser Meinung kein selbständiger Organismus, soudern es sucht Unterschlupf,


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[0302] Lernjahre eines Theologen fähiger Geistlicher zu sein. Wissenschaftliche Erforschung der Wahrheit und die Fähigkeit, die Wahrheit wirksam mitzuteilen und zu vertreten, fallen oft auseinander. In der Theologie sind es jedoch noch zwei besondre Gründe, die eine große Kluft zwischen Wissenschaft und Praxis aufgethan haben. In den Pfarr¬ häusern weht meist eine vollkommen andre Luft als in Universitätskreisen. Ein jüngerer Dozent äußerte sich einst zu mir: Wer einmal Geistlicher gewesen ist, ist für die Wissenschaft verloren. Andrerseits sind die Anklagen, die auf kirchlichen Synoden und Pastoralkonferenzen gegen die Universitätstheologie erhoben werden, bekannt genug: sie entfremde ihre Jünger dem Glauben der Kirche, sie erziehe sie in einem Geist des Kritizismus, sie suche ihre Ehre darin, die altheiliger Urkunden des Glaubens in ihrer Glaubwürdigkeit zu ver¬ dächtigen, kurz sie erreiche alles andre eher, als daß sie geeignete praktische Geistliche erziehe. Für viele Theologen ist dieser Gegensatz der fortgeschrittenen Universitäts- thevlogie zu der stagnierenden, in der Kirche herrschenden Durchschuittsmcinung der Grund, warum sie dem kirchlichen Amt den Rücken kehren. Und sehr viele, sowohl orthodoxe wie der Kirche entfremdete Menschen, die auch hier in der Beurteilung Hand in Hand gehn, loben solche Leute, daß sie ehrlich dem kirch¬ lichen Amt den Rücken kehren, anstatt unwahr zu werden und ihren Geist in drückende Fesseln schlagen zu lassen. Ich halte diese Ansicht für unrichtig. Denn kirchenrechtlich ist in der Gegenwart nicht festgelegt, was die geltende Kirchenlehre ist. An den alten Symbolen wird dem Buchstaben nach nicht mehr festgehalten, und der in ihnen lebende Geist läßt sich nicht in Para¬ graphen fassen. Infolgedessen herrscht heutzutage vollkommne Rechtsunsicher- heit. Die Behörden der Kirche haben die Macht, je nach Gutdünken die Be¬ kenntnisse strenger oder weiter als Norm für den Geistlichen zu fassen. Glück¬ licherweise sind die Konsistorien nun auch nicht unabhängig von dem in die Kirche eindringenden neuen Geist, der die Schale der alten Dogmen gern hin¬ giebt, wenn sie brüchig geworden ist. Zwar pflegen die Konsistorien im Durch¬ schnitt dreißig bis vierzig Jahre hinter der Entwicklung der Zeit zurückzubleiben, aber sie sind doch keine starre, unveränderliche Größe; auch haben sie die Wahrheit und den heiligen Geist nicht für sich gepachtet; sondern der Geist weht, wo er will, auch in der für abtrünnig angesehenen Universitätstheologie. Weit wichtiger jedoch als die gegenwärtige rechtliche Lage ist die religiöse Frage. Hier ist es der Grundfehler der mit dem radikalen Unglauben einigen Orthodoxie, daß sie das religiöse Leben etwa wie das Leben der Schmarotzer¬ pflanzen und -Tiere betrachtet: Der religiöse Mensch lebe, indem er sich von den religiösen Gedanken der Überlieferung nähre. Er eigne sich, sei es mit gewaltsamer Unterdrückung seines Ichs, seines gesunden Denkens, Fühlens und Wollens, sei es mit ehrfürchtiger Demut die Gedanken an, die die religiösen Genien in ihrem innersten Selbst erlebt haben. Das religiöse Leben ist nach dieser Meinung kein selbständiger Organismus, soudern es sucht Unterschlupf,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/302>, abgerufen am 29.06.2024.