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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Latifundien und Bauerngut

gesetzlich beschränkte Hörigkeit. Aber eS bestimmte außerdem, "daß der einzelne
Bauernwirt ein nnentziehbares, vererbbares, öffentliches Nutzungs¬
recht an dein ihm angewiesenen Bauernhofe genießen solle." Mit der An¬
nahme dieses Prinzips, daß trotz des rechtlich anerkannten Eigentums des Guts¬
herrn an dem Boden, den er bis dahin durch den gleichfalls ihm gehörenden
Leibeignen hatte bewirtschaften lassen, und obgleich dieser Bauer nicht die persön¬
liche Freiheit erlangte, dem Bauern dennoch das Nutzungsrecht an dem bewirt¬
schafteten Boden zustehn sollte durch die Annahme dieses Prinzips wurde
der Grund gelegt für die fernere agrarische Entwicklung des Landes, ein Grund,
der diese Entwicklung auf völlig andre Wege brachte als die um dieselbe Zeit
in Europa üblichen. Denn in dem Europa des römischen Stadtrechts und
der gallischen Freiheitsidee forderte man Gleichstellung der Person für alle,
ohne sich viel darum zu kümmern, was ans den befreiten Personen werden
würde, und gab dem Bnnern dann sein Banerngnt meist auf Kosten des Edel¬
manns zu eigen nach demselben Recht, wie der Edelmann sein Gut besaß.

Dieser theoretische Liberalismus kam dann von Frankreich und Preußen
her unter dem schwärmerischen Zaren Alexander 1. nach Rußland, wo dieser
Herrscher nicht hinter den Reformatoren des Westens zurückstehn wollte. Die
Agrargesetze Preußens und die von Napoleon für Polen dekretierte Bauern¬
befreiung haben wohl den Anlaß und das Borbild für die zwischen 1816 und
1819 in den drei baltischen Provinzen durchgeführte Abschaffung der persön¬
lichen Unfreiheit des Bauern abgegeben. Die Hörigkeit wurde nun auch
abgeschafft wie 1804 die Leibeigenschaft, der Bauer wurde persönlich frei --
und das wurde dann als eine Großthat eines anfgetlürten Adels und eines
gleich aufgeklärten Herrschers gehörig gepriesen. Aber dieser doktrinäre Libe¬
ralismus glaubte damit alles gethan zu haben: jenes Recht des Bauern ans
die Nutzung des Bodens stand weder im napoleonischen noch in einem andern
Kodex Europas, und der Landtag von 1818, von der Regierung in diese
liberal-doktrinäre Richtung mit guten und bösen Mitteln hineingedrängt,
schaffte in Livland dnrch die Bauernverordnung von 1819 dieses Recht ab, das
der Adel Livlands im Jahre 1803 anerkannt oder geschaffen hatte.

Sehr bald aber merkte die livländische Ritterschaft, daß sie ans einen für
sie und besonders für den Bauern falschen Weg geraten war; es brach sich
nnter dem Adel die Uberzeugung Bahn, daß die Verkehrsfreiheit beiden Teilen
gefahrbringend zu werden drohe, und es entstand eine Reformbewegung, die
mit der Errichtung eines weitgehenden Bauernschutzcs in Gestalt einer Art
bäuerlichen Gesamtfideikommifses abschloß.*)

Ich kaun hier uicht auf eine Schilderung dieser Reformbewegung eingehn,
die seit den dreißiger Jahren unter dem livlündischen Adel Platz griff und ihn



") Tobler a. a. O, S. 440. Leider endet dieser erste Band schon hier, doch nicht ohne
das Versprechen des Verfassers, seine Arbeit bis zur heutigen Ausgestaltung der bäuerlichen
Verhältnisse Livlands fortzusetzen.
Latifundien und Bauerngut

gesetzlich beschränkte Hörigkeit. Aber eS bestimmte außerdem, „daß der einzelne
Bauernwirt ein nnentziehbares, vererbbares, öffentliches Nutzungs¬
recht an dein ihm angewiesenen Bauernhofe genießen solle." Mit der An¬
nahme dieses Prinzips, daß trotz des rechtlich anerkannten Eigentums des Guts¬
herrn an dem Boden, den er bis dahin durch den gleichfalls ihm gehörenden
Leibeignen hatte bewirtschaften lassen, und obgleich dieser Bauer nicht die persön¬
liche Freiheit erlangte, dem Bauern dennoch das Nutzungsrecht an dem bewirt¬
schafteten Boden zustehn sollte durch die Annahme dieses Prinzips wurde
der Grund gelegt für die fernere agrarische Entwicklung des Landes, ein Grund,
der diese Entwicklung auf völlig andre Wege brachte als die um dieselbe Zeit
in Europa üblichen. Denn in dem Europa des römischen Stadtrechts und
der gallischen Freiheitsidee forderte man Gleichstellung der Person für alle,
ohne sich viel darum zu kümmern, was ans den befreiten Personen werden
würde, und gab dem Bnnern dann sein Banerngnt meist auf Kosten des Edel¬
manns zu eigen nach demselben Recht, wie der Edelmann sein Gut besaß.

Dieser theoretische Liberalismus kam dann von Frankreich und Preußen
her unter dem schwärmerischen Zaren Alexander 1. nach Rußland, wo dieser
Herrscher nicht hinter den Reformatoren des Westens zurückstehn wollte. Die
Agrargesetze Preußens und die von Napoleon für Polen dekretierte Bauern¬
befreiung haben wohl den Anlaß und das Borbild für die zwischen 1816 und
1819 in den drei baltischen Provinzen durchgeführte Abschaffung der persön¬
lichen Unfreiheit des Bauern abgegeben. Die Hörigkeit wurde nun auch
abgeschafft wie 1804 die Leibeigenschaft, der Bauer wurde persönlich frei —
und das wurde dann als eine Großthat eines anfgetlürten Adels und eines
gleich aufgeklärten Herrschers gehörig gepriesen. Aber dieser doktrinäre Libe¬
ralismus glaubte damit alles gethan zu haben: jenes Recht des Bauern ans
die Nutzung des Bodens stand weder im napoleonischen noch in einem andern
Kodex Europas, und der Landtag von 1818, von der Regierung in diese
liberal-doktrinäre Richtung mit guten und bösen Mitteln hineingedrängt,
schaffte in Livland dnrch die Bauernverordnung von 1819 dieses Recht ab, das
der Adel Livlands im Jahre 1803 anerkannt oder geschaffen hatte.

Sehr bald aber merkte die livländische Ritterschaft, daß sie ans einen für
sie und besonders für den Bauern falschen Weg geraten war; es brach sich
nnter dem Adel die Uberzeugung Bahn, daß die Verkehrsfreiheit beiden Teilen
gefahrbringend zu werden drohe, und es entstand eine Reformbewegung, die
mit der Errichtung eines weitgehenden Bauernschutzcs in Gestalt einer Art
bäuerlichen Gesamtfideikommifses abschloß.*)

Ich kaun hier uicht auf eine Schilderung dieser Reformbewegung eingehn,
die seit den dreißiger Jahren unter dem livlündischen Adel Platz griff und ihn



") Tobler a. a. O, S. 440. Leider endet dieser erste Band schon hier, doch nicht ohne
das Versprechen des Verfassers, seine Arbeit bis zur heutigen Ausgestaltung der bäuerlichen
Verhältnisse Livlands fortzusetzen.
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[0292] Latifundien und Bauerngut gesetzlich beschränkte Hörigkeit. Aber eS bestimmte außerdem, „daß der einzelne Bauernwirt ein nnentziehbares, vererbbares, öffentliches Nutzungs¬ recht an dein ihm angewiesenen Bauernhofe genießen solle." Mit der An¬ nahme dieses Prinzips, daß trotz des rechtlich anerkannten Eigentums des Guts¬ herrn an dem Boden, den er bis dahin durch den gleichfalls ihm gehörenden Leibeignen hatte bewirtschaften lassen, und obgleich dieser Bauer nicht die persön¬ liche Freiheit erlangte, dem Bauern dennoch das Nutzungsrecht an dem bewirt¬ schafteten Boden zustehn sollte durch die Annahme dieses Prinzips wurde der Grund gelegt für die fernere agrarische Entwicklung des Landes, ein Grund, der diese Entwicklung auf völlig andre Wege brachte als die um dieselbe Zeit in Europa üblichen. Denn in dem Europa des römischen Stadtrechts und der gallischen Freiheitsidee forderte man Gleichstellung der Person für alle, ohne sich viel darum zu kümmern, was ans den befreiten Personen werden würde, und gab dem Bnnern dann sein Banerngnt meist auf Kosten des Edel¬ manns zu eigen nach demselben Recht, wie der Edelmann sein Gut besaß. Dieser theoretische Liberalismus kam dann von Frankreich und Preußen her unter dem schwärmerischen Zaren Alexander 1. nach Rußland, wo dieser Herrscher nicht hinter den Reformatoren des Westens zurückstehn wollte. Die Agrargesetze Preußens und die von Napoleon für Polen dekretierte Bauern¬ befreiung haben wohl den Anlaß und das Borbild für die zwischen 1816 und 1819 in den drei baltischen Provinzen durchgeführte Abschaffung der persön¬ lichen Unfreiheit des Bauern abgegeben. Die Hörigkeit wurde nun auch abgeschafft wie 1804 die Leibeigenschaft, der Bauer wurde persönlich frei — und das wurde dann als eine Großthat eines anfgetlürten Adels und eines gleich aufgeklärten Herrschers gehörig gepriesen. Aber dieser doktrinäre Libe¬ ralismus glaubte damit alles gethan zu haben: jenes Recht des Bauern ans die Nutzung des Bodens stand weder im napoleonischen noch in einem andern Kodex Europas, und der Landtag von 1818, von der Regierung in diese liberal-doktrinäre Richtung mit guten und bösen Mitteln hineingedrängt, schaffte in Livland dnrch die Bauernverordnung von 1819 dieses Recht ab, das der Adel Livlands im Jahre 1803 anerkannt oder geschaffen hatte. Sehr bald aber merkte die livländische Ritterschaft, daß sie ans einen für sie und besonders für den Bauern falschen Weg geraten war; es brach sich nnter dem Adel die Uberzeugung Bahn, daß die Verkehrsfreiheit beiden Teilen gefahrbringend zu werden drohe, und es entstand eine Reformbewegung, die mit der Errichtung eines weitgehenden Bauernschutzcs in Gestalt einer Art bäuerlichen Gesamtfideikommifses abschloß.*) Ich kaun hier uicht auf eine Schilderung dieser Reformbewegung eingehn, die seit den dreißiger Jahren unter dem livlündischen Adel Platz griff und ihn ") Tobler a. a. O, S. 440. Leider endet dieser erste Band schon hier, doch nicht ohne das Versprechen des Verfassers, seine Arbeit bis zur heutigen Ausgestaltung der bäuerlichen Verhältnisse Livlands fortzusetzen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/292>, abgerufen am 29.06.2024.