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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Bücher über Ibsen

doch Gestalt habe". Brands Gesellschaftsbau endet denn auch ganz folge¬
richtig im ewigen Eise, d. h. im Tode, im Nichts, Reich sagt ganz gut:
"Dem Brand mangelt wohl das, woran es seinem Schöpfer gebrach, der selbst
in Gefahr schwebte, ein Dichter der Eiskirchc zu werden; erstellt, auch hierin
Kantianer, die sittliche Forderung als drohendes Schreckgespenst hin und be¬
wirkt dadurch Zittern statt Hinneigung." Das ist richtig, trifft aber den Kern¬
punkt nicht: die gänzliche Inhaltlosigkeit, Unmöglichkeit und Undenkbarkeit
dieser sogenannten sittlichen Forderung. Nach Wverner soll der fünfte Akt
nichts andres vorstellen, als eine symbolische Wiederholung dessen, was Brand
in den ersten vier Akten gethan und gelitten hat. Ob es erlaubt ist, an vier
Akte, die wirkliche Geschehnisse darstellen, einen symbolischen anzuhängen, mögen
die Ästhetiker entscheiden; wenigstens kommt man mit dieser Erklärung um die
Notwendigkeit herum, Brand für vollkommen wahnsinnig und die ihm folgende
Gemeinde für unzurechnungsfähig halten zu müssen. So verstanden befriedigt
das Stück auch als Lehrgedicht; es zeigt, daß ein Mensch von außerordent¬
licher Willensstärke und kühnem Schwung untergeht, ohne eine Frucht seines
Strebens zu hinterlassen, wenn es ihm an menschlicher Empfindung und ver¬
nünftigen Zielen fehlt. Übrigens erfahren wir aus Woerner, daß Ibsen nach
seinem eignen Geständnis den Charakter und die Schicksale eines Pfarrers
Lammers, der sein einträgliches Amt aufgegeben und eine "freie apostolisch¬
christliche Gemeinde" gegründet hatte, als Modell für seinen Brand benutzt hat.
Den Julianus Apostata deutet Reich günstig, Woerner ungünstig für das
Christentum. Reich schreibt: "Julians welthistorische Mission bestand darin,
das in Verfall geratne Christentum zu regenerieren. Diese Sendung muß er
erfüllen, sei es nun, daß er seiner eigentlichen Bestimmung gemäß als Ver¬
künder des reinen Gotteswortes, sei es, daß er als christlich gesinnter Herrscher
die Kirche von ihren Ausartungen reinigt, sei es endlich, wie dies thatsächlich
geschieht, indem er, wider den Stachel lockend, als Verfolger des Glaubens
anftritt und die Kirche wider Willen reinigt." Er ist also untergegangen als
die Verkörperung eines Teils von jener Kraft, die stets das Böse will und
stets das Gute schafft, als einer von denen, die des Schöpfers Pläne wider¬
strebend oder vielmehr durch ihr Widerstreben ausführen. Reich fügt hinzu,
Kaiser und Galilüer sei "das am größten gedachte, jedoch am schwächsten aus¬
geführte Werk der Vollreife Ibsens." Nach Wverner dagegen ist Julian "kein
Unentschlossener aus Willensschwäche, das bezeugen seine Kriegsthaten; kein
Feiger aus Schuldbewußtsein wie Konstantins -- vielmehr eine heidnische
Seele von des christlichen Gedankens Blässe angekränkelt, in ihrem freien
natürlichen Streben geknickt, der Wahrhaftigkeit des Willens beraubt." Doch
nähert sich Woerner insofern dem Standpunkte Reichs, als er das Stück als
Schicksnlstragödie auffaßt, nicht im Sinne der Alten, denen das Schicksal eine
den Menschen von anßen fassende und zermalmende Macht war, sondern im
Sinne des Schopenhancrischcn Weltwillens, der den einzelnen zwingt, das in
den Weltplan passende zu wollen und so sich selbst den Untergang zu bereiten.


Bücher über Ibsen

doch Gestalt habe». Brands Gesellschaftsbau endet denn auch ganz folge¬
richtig im ewigen Eise, d. h. im Tode, im Nichts, Reich sagt ganz gut:
„Dem Brand mangelt wohl das, woran es seinem Schöpfer gebrach, der selbst
in Gefahr schwebte, ein Dichter der Eiskirchc zu werden; erstellt, auch hierin
Kantianer, die sittliche Forderung als drohendes Schreckgespenst hin und be¬
wirkt dadurch Zittern statt Hinneigung." Das ist richtig, trifft aber den Kern¬
punkt nicht: die gänzliche Inhaltlosigkeit, Unmöglichkeit und Undenkbarkeit
dieser sogenannten sittlichen Forderung. Nach Wverner soll der fünfte Akt
nichts andres vorstellen, als eine symbolische Wiederholung dessen, was Brand
in den ersten vier Akten gethan und gelitten hat. Ob es erlaubt ist, an vier
Akte, die wirkliche Geschehnisse darstellen, einen symbolischen anzuhängen, mögen
die Ästhetiker entscheiden; wenigstens kommt man mit dieser Erklärung um die
Notwendigkeit herum, Brand für vollkommen wahnsinnig und die ihm folgende
Gemeinde für unzurechnungsfähig halten zu müssen. So verstanden befriedigt
das Stück auch als Lehrgedicht; es zeigt, daß ein Mensch von außerordent¬
licher Willensstärke und kühnem Schwung untergeht, ohne eine Frucht seines
Strebens zu hinterlassen, wenn es ihm an menschlicher Empfindung und ver¬
nünftigen Zielen fehlt. Übrigens erfahren wir aus Woerner, daß Ibsen nach
seinem eignen Geständnis den Charakter und die Schicksale eines Pfarrers
Lammers, der sein einträgliches Amt aufgegeben und eine „freie apostolisch¬
christliche Gemeinde" gegründet hatte, als Modell für seinen Brand benutzt hat.
Den Julianus Apostata deutet Reich günstig, Woerner ungünstig für das
Christentum. Reich schreibt: „Julians welthistorische Mission bestand darin,
das in Verfall geratne Christentum zu regenerieren. Diese Sendung muß er
erfüllen, sei es nun, daß er seiner eigentlichen Bestimmung gemäß als Ver¬
künder des reinen Gotteswortes, sei es, daß er als christlich gesinnter Herrscher
die Kirche von ihren Ausartungen reinigt, sei es endlich, wie dies thatsächlich
geschieht, indem er, wider den Stachel lockend, als Verfolger des Glaubens
anftritt und die Kirche wider Willen reinigt." Er ist also untergegangen als
die Verkörperung eines Teils von jener Kraft, die stets das Böse will und
stets das Gute schafft, als einer von denen, die des Schöpfers Pläne wider¬
strebend oder vielmehr durch ihr Widerstreben ausführen. Reich fügt hinzu,
Kaiser und Galilüer sei „das am größten gedachte, jedoch am schwächsten aus¬
geführte Werk der Vollreife Ibsens." Nach Wverner dagegen ist Julian „kein
Unentschlossener aus Willensschwäche, das bezeugen seine Kriegsthaten; kein
Feiger aus Schuldbewußtsein wie Konstantins — vielmehr eine heidnische
Seele von des christlichen Gedankens Blässe angekränkelt, in ihrem freien
natürlichen Streben geknickt, der Wahrhaftigkeit des Willens beraubt." Doch
nähert sich Woerner insofern dem Standpunkte Reichs, als er das Stück als
Schicksnlstragödie auffaßt, nicht im Sinne der Alten, denen das Schicksal eine
den Menschen von anßen fassende und zermalmende Macht war, sondern im
Sinne des Schopenhancrischcn Weltwillens, der den einzelnen zwingt, das in
den Weltplan passende zu wollen und so sich selbst den Untergang zu bereiten.


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[0246] Bücher über Ibsen doch Gestalt habe». Brands Gesellschaftsbau endet denn auch ganz folge¬ richtig im ewigen Eise, d. h. im Tode, im Nichts, Reich sagt ganz gut: „Dem Brand mangelt wohl das, woran es seinem Schöpfer gebrach, der selbst in Gefahr schwebte, ein Dichter der Eiskirchc zu werden; erstellt, auch hierin Kantianer, die sittliche Forderung als drohendes Schreckgespenst hin und be¬ wirkt dadurch Zittern statt Hinneigung." Das ist richtig, trifft aber den Kern¬ punkt nicht: die gänzliche Inhaltlosigkeit, Unmöglichkeit und Undenkbarkeit dieser sogenannten sittlichen Forderung. Nach Wverner soll der fünfte Akt nichts andres vorstellen, als eine symbolische Wiederholung dessen, was Brand in den ersten vier Akten gethan und gelitten hat. Ob es erlaubt ist, an vier Akte, die wirkliche Geschehnisse darstellen, einen symbolischen anzuhängen, mögen die Ästhetiker entscheiden; wenigstens kommt man mit dieser Erklärung um die Notwendigkeit herum, Brand für vollkommen wahnsinnig und die ihm folgende Gemeinde für unzurechnungsfähig halten zu müssen. So verstanden befriedigt das Stück auch als Lehrgedicht; es zeigt, daß ein Mensch von außerordent¬ licher Willensstärke und kühnem Schwung untergeht, ohne eine Frucht seines Strebens zu hinterlassen, wenn es ihm an menschlicher Empfindung und ver¬ nünftigen Zielen fehlt. Übrigens erfahren wir aus Woerner, daß Ibsen nach seinem eignen Geständnis den Charakter und die Schicksale eines Pfarrers Lammers, der sein einträgliches Amt aufgegeben und eine „freie apostolisch¬ christliche Gemeinde" gegründet hatte, als Modell für seinen Brand benutzt hat. Den Julianus Apostata deutet Reich günstig, Woerner ungünstig für das Christentum. Reich schreibt: „Julians welthistorische Mission bestand darin, das in Verfall geratne Christentum zu regenerieren. Diese Sendung muß er erfüllen, sei es nun, daß er seiner eigentlichen Bestimmung gemäß als Ver¬ künder des reinen Gotteswortes, sei es, daß er als christlich gesinnter Herrscher die Kirche von ihren Ausartungen reinigt, sei es endlich, wie dies thatsächlich geschieht, indem er, wider den Stachel lockend, als Verfolger des Glaubens anftritt und die Kirche wider Willen reinigt." Er ist also untergegangen als die Verkörperung eines Teils von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft, als einer von denen, die des Schöpfers Pläne wider¬ strebend oder vielmehr durch ihr Widerstreben ausführen. Reich fügt hinzu, Kaiser und Galilüer sei „das am größten gedachte, jedoch am schwächsten aus¬ geführte Werk der Vollreife Ibsens." Nach Wverner dagegen ist Julian „kein Unentschlossener aus Willensschwäche, das bezeugen seine Kriegsthaten; kein Feiger aus Schuldbewußtsein wie Konstantins — vielmehr eine heidnische Seele von des christlichen Gedankens Blässe angekränkelt, in ihrem freien natürlichen Streben geknickt, der Wahrhaftigkeit des Willens beraubt." Doch nähert sich Woerner insofern dem Standpunkte Reichs, als er das Stück als Schicksnlstragödie auffaßt, nicht im Sinne der Alten, denen das Schicksal eine den Menschen von anßen fassende und zermalmende Macht war, sondern im Sinne des Schopenhancrischcn Weltwillens, der den einzelnen zwingt, das in den Weltplan passende zu wollen und so sich selbst den Untergang zu bereiten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/246>, abgerufen am 26.06.2024.