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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Bücher über Ibsen

das der Vogel. "Doch dreimal beraubt, da spreitet er sacht die Schwingen
in einer Frühlingsnacht, und mit blutender Brust durch den Nebel hinzieht
er zu sonnigen Küsten -- gen Süd, gen Süd." Den Haß, in den sich die
Liebe zum Vaterland gewandelt hat, speit er im Peer Gynt aus. Dreierlei,
sagt Reich, stecke im Helden dieser Dichtung: "Er stellt zunächst eine Personi¬
fikation des norwegischen Volkes mit seinen Fehlern und Vorzügen dar, so¬
dann das Bild eines Phantasiemenschen überhaupt mit seinen Verirrungen und
Extravaganzen, endlich ist er der Repräsentant aller schwachen, halben Charak¬
tere, die weder im Guten noch im Schlechten bis ans Ende zu gehn wagen,
die nie ganz sie selbst sind." Da aber an dem wunderlichen Burschen keine
Vorzüge zu sehen sind, so wird wohl Woerner das Nichtige getroffen haben,
wenn er meint, Ibsen habe, ohne dabei die zweite und die dritte Absicht aus¬
zuschließen, sein Volk einfach schlecht machen, dem Jdealbilde, das Björnson
gezeichnet hatte, die schlechte Wirklichkeit gegenüberstellen wollen, wie er sie
sah. Wenn Björnsons Thorbjörn (in Synnöve Solbakken) als Sieger im
Kampfspiel glänze, so sei Gynt ein gemeiner Raufbold, wenn Thorbjörn nach
gethaner Arbeit träume, so träume Gynt den ganzen Tag ohne zu arbeiten usw.
Und im spätern Alter, das deutet Reich an, ist dann auch vollends der in der
Jugend eingesogne Haß durchgebrochen: der Haß des Deklassierten gegen die
Gesellschaft, die ihn verachtet.

Wenn Woerner den Brand als die Tragödie des Idealismus bezeichnet,
so kann man sich das gefallen lassen, vorausgesetzt, daß der falsche Idealismus
gemeint ist. Gynts Wahlspruch sei: Lebe dir selbst! Brands dagegen: Sei
du selbst! Versteht man diesen Imperativ so, daß der Mensch seinen Willen
gegen alle andern Willen durchsetzen soll, so haben wir den Titanen, der an
den Schranken der Geschöpflichkeit zerschellen muß. Bedeutet der Wahlspruch,
dnß der Mensch in seiner Seele kein fremdes Element dulden soll, so ist er
damit zum Nichtsein, in gewöhnlicher Sprache zum Tode verurteilt; denn leiblich
wie geistig leben wir von dem Stoff, den uns andre liefern, den wir im
Lebensprozeß assimilieren, in unser eignes Sein verwandeln, und den wir durch
eigne Leistungen vergelten. Jeder Lebensprozeß, auch der geistige, ist ein Stoff¬
wechselprozeß, und der große Geist nur darum groß, weil er mehr andre Geister
gegessen und verdaut hat als der kleine. Freilich, zum großen Manne ge¬
hört außer dem reichen Inhalt auch der starke, feste und reine Wille, der
angeboren und diesem Individuum eigentümlich ist, aber ohne Inhalt, ohne
den Prozeß des fortwährenden Gebens und Nehmens, des Aufnehmens andrer
und des Sichhingebens an andre könnte der Wille gar nicht in Wirksamkeit
treten. So ist denn diese Forderung Brands leer, wie Kants kategorischer
Imperativ, an den sie erinnert; eine menschliche Gesellschaft, in der jeder rein
nur er selbst wäre und kein Bruchstückchen von einem andern an und in sich
hätte, ist nicht denkbar, nicht vorstellbar, es wäre ein Museum steinerner
Bildsäulen, und nicht einmal das, da das Individuum nur durch die Einwir¬
kung andrer seiue Gestalt erhält, und Bildsäulen, wenn auch kein Leben, so


Bücher über Ibsen

das der Vogel. „Doch dreimal beraubt, da spreitet er sacht die Schwingen
in einer Frühlingsnacht, und mit blutender Brust durch den Nebel hinzieht
er zu sonnigen Küsten — gen Süd, gen Süd." Den Haß, in den sich die
Liebe zum Vaterland gewandelt hat, speit er im Peer Gynt aus. Dreierlei,
sagt Reich, stecke im Helden dieser Dichtung: „Er stellt zunächst eine Personi¬
fikation des norwegischen Volkes mit seinen Fehlern und Vorzügen dar, so¬
dann das Bild eines Phantasiemenschen überhaupt mit seinen Verirrungen und
Extravaganzen, endlich ist er der Repräsentant aller schwachen, halben Charak¬
tere, die weder im Guten noch im Schlechten bis ans Ende zu gehn wagen,
die nie ganz sie selbst sind." Da aber an dem wunderlichen Burschen keine
Vorzüge zu sehen sind, so wird wohl Woerner das Nichtige getroffen haben,
wenn er meint, Ibsen habe, ohne dabei die zweite und die dritte Absicht aus¬
zuschließen, sein Volk einfach schlecht machen, dem Jdealbilde, das Björnson
gezeichnet hatte, die schlechte Wirklichkeit gegenüberstellen wollen, wie er sie
sah. Wenn Björnsons Thorbjörn (in Synnöve Solbakken) als Sieger im
Kampfspiel glänze, so sei Gynt ein gemeiner Raufbold, wenn Thorbjörn nach
gethaner Arbeit träume, so träume Gynt den ganzen Tag ohne zu arbeiten usw.
Und im spätern Alter, das deutet Reich an, ist dann auch vollends der in der
Jugend eingesogne Haß durchgebrochen: der Haß des Deklassierten gegen die
Gesellschaft, die ihn verachtet.

Wenn Woerner den Brand als die Tragödie des Idealismus bezeichnet,
so kann man sich das gefallen lassen, vorausgesetzt, daß der falsche Idealismus
gemeint ist. Gynts Wahlspruch sei: Lebe dir selbst! Brands dagegen: Sei
du selbst! Versteht man diesen Imperativ so, daß der Mensch seinen Willen
gegen alle andern Willen durchsetzen soll, so haben wir den Titanen, der an
den Schranken der Geschöpflichkeit zerschellen muß. Bedeutet der Wahlspruch,
dnß der Mensch in seiner Seele kein fremdes Element dulden soll, so ist er
damit zum Nichtsein, in gewöhnlicher Sprache zum Tode verurteilt; denn leiblich
wie geistig leben wir von dem Stoff, den uns andre liefern, den wir im
Lebensprozeß assimilieren, in unser eignes Sein verwandeln, und den wir durch
eigne Leistungen vergelten. Jeder Lebensprozeß, auch der geistige, ist ein Stoff¬
wechselprozeß, und der große Geist nur darum groß, weil er mehr andre Geister
gegessen und verdaut hat als der kleine. Freilich, zum großen Manne ge¬
hört außer dem reichen Inhalt auch der starke, feste und reine Wille, der
angeboren und diesem Individuum eigentümlich ist, aber ohne Inhalt, ohne
den Prozeß des fortwährenden Gebens und Nehmens, des Aufnehmens andrer
und des Sichhingebens an andre könnte der Wille gar nicht in Wirksamkeit
treten. So ist denn diese Forderung Brands leer, wie Kants kategorischer
Imperativ, an den sie erinnert; eine menschliche Gesellschaft, in der jeder rein
nur er selbst wäre und kein Bruchstückchen von einem andern an und in sich
hätte, ist nicht denkbar, nicht vorstellbar, es wäre ein Museum steinerner
Bildsäulen, und nicht einmal das, da das Individuum nur durch die Einwir¬
kung andrer seiue Gestalt erhält, und Bildsäulen, wenn auch kein Leben, so


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/245>, abgerufen am 26.06.2024.