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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Lerujahre eines Theologen

ganzes Leben an die Erforschung der Wahrheit setzt. Die meisten glauben,
Forschen, Suchen, Fragen, Zweifeln sei für den im Pfarramt stehenden Theo¬
logen eine Sünde. Mag es in Deutschland kaum einen evangelischen Geist¬
lichen geben, der diese Zweifel wie Neweome in Warth "Robert Elsmere" mit
körperlicher Askese bekämpft: intellektuelle Askese, erquälter Glaube, Flucht
vor dem Denken sind bei uns die gebräuchlichen Mittel, diesen Gefahren zu
begegnen. Mit dem Verschwinden des Wahrheitsucheus verschwinde" meist alle
höhern Ideale. Die platte Alltäglichkeit gewinnt Macht über Sinnen und
Denken. Der Typus des verbauerten Pastors wie des Salongeistlichen ent¬
steht. Mit dein Anlegen des Pricsterrocks werden in vielen Fällen zugleich
Scheuklappen angelegt, die verhindern, daß alles außerhalb der vier Kirchen¬
mauern sich regende Geistesleben bemerkt werde. Nun bewegt sich alles geistige
Wachstum in Dentschlnnd, seitdem die Reformation in kirchlichen Formen er¬
starrt ist, außerhalb der engen Kirchenpfähle. Es giebt nicht bloß eine Wissen¬
schaft lind Philosophie, eine schöne Litteratur und Kunst, die der Kirche feind¬
lich oder, was noch schlimmer ist, gegen sie gleichgiltig ist -- denn jede Be¬
fehdung bedeutet Achtung vor dem Gegner --, vor allem giebt es eine sittliche
Kultur und Religion, die unabhängig von der Kirche ist und immermehr er¬
starkt. Das ist bei vielen die schlimmste Wirkung der geistlichen Scheuklappen,
daß von diesen Großmächten nichts bemerkt wird. Und wo man sie sehen muß,
da werden sie oft genug bekämpft, weil sie nicht kirchliche Prägung haben
und nicht bei deu kirchlichen Behörden vorher um einen Existenzbercchtignngs-
schein nachgesucht haben. Von dem geistigen Leben der Nation abgesperrt,
verkümmern aber die Kirchen immer mehr und mehr. Nur durch fruchtbare
Wechselwirkung konnte beiden geholfen werden.

Air Stelle dieser Wechselwirkung wird heutzutage die künstliche Absperrung
beider Gebiete, des geistlichen und des weltlichen, als höchste Tugend ange¬
priesen. Manche Geistliche führen ein Doppelleben: als Prediger und Seel¬
sorger einerseits, als Mensch andrerseits. Beides hat nichts miteinander zu
thun. Einige suchen auch den Menschen zu Gunsten des Predigers ganz zu
erwürgen, was doch nur in seltnen Fällen gelingt.

Es ist auffallend, wie wenig von den Kümpfeu in die Öffentlichkeit
dringt, die die meisten Theologen in der Zeit ihrer Entwicklung durchmachen
müsse". Im allgemeinen wollen die Gemeinden jn nicht suchende und kümpfende,
weiter arbeitende Pastoren haben. Etwas schroff, aber doch wohl noch heute
für viele zutreffend, hat Paul de Lagarde^) das Bild des Geistlichen gezeichnet,
das in den Köpfen vieler lebt: "Was ist denn bei dem deutschen Mittelstände
das Ideal eines Pfarrers? Der würdige Vater von Vossens Luise ist es,
in welchem man Geistliches nicht allzuviel finden wird. Frische grüne Erbsen
mit selbstgemachter Schlackwurst, auf dem eignen Hofe erzognen Brathähnchen,
selbstbereitetein Johmmisbeerwein -- wer so viel Gutes besitzt, wie der dress-



") Deutsche Schriften, S. 12.
Lerujahre eines Theologen

ganzes Leben an die Erforschung der Wahrheit setzt. Die meisten glauben,
Forschen, Suchen, Fragen, Zweifeln sei für den im Pfarramt stehenden Theo¬
logen eine Sünde. Mag es in Deutschland kaum einen evangelischen Geist¬
lichen geben, der diese Zweifel wie Neweome in Warth „Robert Elsmere" mit
körperlicher Askese bekämpft: intellektuelle Askese, erquälter Glaube, Flucht
vor dem Denken sind bei uns die gebräuchlichen Mittel, diesen Gefahren zu
begegnen. Mit dem Verschwinden des Wahrheitsucheus verschwinde« meist alle
höhern Ideale. Die platte Alltäglichkeit gewinnt Macht über Sinnen und
Denken. Der Typus des verbauerten Pastors wie des Salongeistlichen ent¬
steht. Mit dein Anlegen des Pricsterrocks werden in vielen Fällen zugleich
Scheuklappen angelegt, die verhindern, daß alles außerhalb der vier Kirchen¬
mauern sich regende Geistesleben bemerkt werde. Nun bewegt sich alles geistige
Wachstum in Dentschlnnd, seitdem die Reformation in kirchlichen Formen er¬
starrt ist, außerhalb der engen Kirchenpfähle. Es giebt nicht bloß eine Wissen¬
schaft lind Philosophie, eine schöne Litteratur und Kunst, die der Kirche feind¬
lich oder, was noch schlimmer ist, gegen sie gleichgiltig ist — denn jede Be¬
fehdung bedeutet Achtung vor dem Gegner —, vor allem giebt es eine sittliche
Kultur und Religion, die unabhängig von der Kirche ist und immermehr er¬
starkt. Das ist bei vielen die schlimmste Wirkung der geistlichen Scheuklappen,
daß von diesen Großmächten nichts bemerkt wird. Und wo man sie sehen muß,
da werden sie oft genug bekämpft, weil sie nicht kirchliche Prägung haben
und nicht bei deu kirchlichen Behörden vorher um einen Existenzbercchtignngs-
schein nachgesucht haben. Von dem geistigen Leben der Nation abgesperrt,
verkümmern aber die Kirchen immer mehr und mehr. Nur durch fruchtbare
Wechselwirkung konnte beiden geholfen werden.

Air Stelle dieser Wechselwirkung wird heutzutage die künstliche Absperrung
beider Gebiete, des geistlichen und des weltlichen, als höchste Tugend ange¬
priesen. Manche Geistliche führen ein Doppelleben: als Prediger und Seel¬
sorger einerseits, als Mensch andrerseits. Beides hat nichts miteinander zu
thun. Einige suchen auch den Menschen zu Gunsten des Predigers ganz zu
erwürgen, was doch nur in seltnen Fällen gelingt.

Es ist auffallend, wie wenig von den Kümpfeu in die Öffentlichkeit
dringt, die die meisten Theologen in der Zeit ihrer Entwicklung durchmachen
müsse». Im allgemeinen wollen die Gemeinden jn nicht suchende und kümpfende,
weiter arbeitende Pastoren haben. Etwas schroff, aber doch wohl noch heute
für viele zutreffend, hat Paul de Lagarde^) das Bild des Geistlichen gezeichnet,
das in den Köpfen vieler lebt: „Was ist denn bei dem deutschen Mittelstände
das Ideal eines Pfarrers? Der würdige Vater von Vossens Luise ist es,
in welchem man Geistliches nicht allzuviel finden wird. Frische grüne Erbsen
mit selbstgemachter Schlackwurst, auf dem eignen Hofe erzognen Brathähnchen,
selbstbereitetein Johmmisbeerwein — wer so viel Gutes besitzt, wie der dress-



") Deutsche Schriften, S. 12.
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[0196] Lerujahre eines Theologen ganzes Leben an die Erforschung der Wahrheit setzt. Die meisten glauben, Forschen, Suchen, Fragen, Zweifeln sei für den im Pfarramt stehenden Theo¬ logen eine Sünde. Mag es in Deutschland kaum einen evangelischen Geist¬ lichen geben, der diese Zweifel wie Neweome in Warth „Robert Elsmere" mit körperlicher Askese bekämpft: intellektuelle Askese, erquälter Glaube, Flucht vor dem Denken sind bei uns die gebräuchlichen Mittel, diesen Gefahren zu begegnen. Mit dem Verschwinden des Wahrheitsucheus verschwinde« meist alle höhern Ideale. Die platte Alltäglichkeit gewinnt Macht über Sinnen und Denken. Der Typus des verbauerten Pastors wie des Salongeistlichen ent¬ steht. Mit dein Anlegen des Pricsterrocks werden in vielen Fällen zugleich Scheuklappen angelegt, die verhindern, daß alles außerhalb der vier Kirchen¬ mauern sich regende Geistesleben bemerkt werde. Nun bewegt sich alles geistige Wachstum in Dentschlnnd, seitdem die Reformation in kirchlichen Formen er¬ starrt ist, außerhalb der engen Kirchenpfähle. Es giebt nicht bloß eine Wissen¬ schaft lind Philosophie, eine schöne Litteratur und Kunst, die der Kirche feind¬ lich oder, was noch schlimmer ist, gegen sie gleichgiltig ist — denn jede Be¬ fehdung bedeutet Achtung vor dem Gegner —, vor allem giebt es eine sittliche Kultur und Religion, die unabhängig von der Kirche ist und immermehr er¬ starkt. Das ist bei vielen die schlimmste Wirkung der geistlichen Scheuklappen, daß von diesen Großmächten nichts bemerkt wird. Und wo man sie sehen muß, da werden sie oft genug bekämpft, weil sie nicht kirchliche Prägung haben und nicht bei deu kirchlichen Behörden vorher um einen Existenzbercchtignngs- schein nachgesucht haben. Von dem geistigen Leben der Nation abgesperrt, verkümmern aber die Kirchen immer mehr und mehr. Nur durch fruchtbare Wechselwirkung konnte beiden geholfen werden. Air Stelle dieser Wechselwirkung wird heutzutage die künstliche Absperrung beider Gebiete, des geistlichen und des weltlichen, als höchste Tugend ange¬ priesen. Manche Geistliche führen ein Doppelleben: als Prediger und Seel¬ sorger einerseits, als Mensch andrerseits. Beides hat nichts miteinander zu thun. Einige suchen auch den Menschen zu Gunsten des Predigers ganz zu erwürgen, was doch nur in seltnen Fällen gelingt. Es ist auffallend, wie wenig von den Kümpfeu in die Öffentlichkeit dringt, die die meisten Theologen in der Zeit ihrer Entwicklung durchmachen müsse». Im allgemeinen wollen die Gemeinden jn nicht suchende und kümpfende, weiter arbeitende Pastoren haben. Etwas schroff, aber doch wohl noch heute für viele zutreffend, hat Paul de Lagarde^) das Bild des Geistlichen gezeichnet, das in den Köpfen vieler lebt: „Was ist denn bei dem deutschen Mittelstände das Ideal eines Pfarrers? Der würdige Vater von Vossens Luise ist es, in welchem man Geistliches nicht allzuviel finden wird. Frische grüne Erbsen mit selbstgemachter Schlackwurst, auf dem eignen Hofe erzognen Brathähnchen, selbstbereitetein Johmmisbeerwein — wer so viel Gutes besitzt, wie der dress- ") Deutsche Schriften, S. 12.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/196>, abgerufen am 26.06.2024.