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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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"ernjahre eines Theologen

ich die Antwort: Dem Schicksal werden wir nicht entgeh" können; dus ist das
Los der Alten. Doch nein! und abermals nein! rief ich dazwischen. Wir
sind zu sehr von der Wahrheit des modernen Entwickinngsbegriffs durch¬
drungen. Der Gedanke des Fortschreitend die Gewißheit, daß neue Strö¬
mungen aufkommen, neue Wahrheiten gefunden, neue führende Geister erstes"
werden, ist uns zu sehr in Fleisch und Blut übergegangen. Wir wissen: Es
gilt nicht, stehn zu bleiben und alte Wahrheiten unermüdlich zu wiederholen,
wenn auch die Welt anders geworden ist, sondern daS bewährte Alte mit
dem guten Neuen zu verbinden. Es gilt von vornherein der Gefahr des
Staguierens, des Einrostens zu begegnen, Herz und Sinne, Kopf und Ge¬
danken den neuen Strömungen offen zu halten und dein Pulsschlag der Zeit
still und nudächtig zu lauschen.

Eine wichtige Entdeckung machte ich im Laufe der Jahre: die Theologen,
die nach Ablauf der Studiensemester am Althergebrachten hingen, hatten kein
großes wissenschaftliches Interesse mehr. Ich glaube, daß es uur wenige Aus¬
nahmen giebt. Bei fast allen überwog die Stimmung: Die Zeit des "wissen¬
schaftlichen" Arbeitens ist vorüber. Jetzt kommt das Pfarramt mit seinen
andersartigen Aufgaben und Erfordernissen. Die Eifriger nnter ihnen warfen
sich auf praktische Fragen, studierten die Leistungen der innern Mission, legten
sich ans die praktische Auslegung der biblischen Schriften, auf das Studium
gedruckter Predigte", nicht bloß um sie auszuschlachten, sondern auch um wirk¬
lich Predigtkunst an ihnen zu lernen. Manche von ihnen sind tüchtige und
rührige Verkünder des Evangeliums geworden und werden von ihren Ge¬
meinden geliebt und verehrt. Aber die Stimmung herrscht in ihnen vor: Ein
Weiterarbeiten und Forschen, ein Dnrchdenken der höchsten Wahrheitsfragen
ist nicht mehr nötig. Du hast ja den Besitz des Heils, die Zweifel sind über¬
wunden. Es gilt nur uoch, in der Technik der Mitteilung dieser Wahrheit
sich weiter zu vervollkommnen. Wieder bei andern wird die durch Amtsthätig¬
keit nicht in Anspruch geuommne Zeit durch Liebhabereien ausgefüllt, im besten
Falle durch edle Kunst, Musik, Geselligkeit. In den Gegenden Deutschlands,
wo das Wort "liberal" einen guten Klang hat, lobt man solche Pfarrhäuser
als liberale. Andre treiben lieber Gartenbau und Bienenzucht; ja von
manchen wird eine mit dein geistigen Leben des Theologen innerlich nicht zu¬
sammenhängende Wissenschaft als eine Art Liebhaberei betrieben.

Gering ist dagegen die Zahl derer, die die höchsten Wahrheitsfragen auch
im Pfarramte noch von neuem durchkämpfen. Daß ein Geistlicher noch im
Pfarramte seine theologische Richtung ändert, kommt zuweilen vor. Teils ist
der persönliche Verkehr mit Andersgerichteten der Anlaß, teils ein zufällig ge¬
lesenes Buch, das ihm Meinungen kund that, an denen er bisher achtlos
vorübergegangen war. Doch dies sind nur Ausnahmen. Nur wenige, wie
z. B. Robertson,") wisse" es, daß uur der aus der Wahrheit ist, der sein



*) Religiöse Reden S, 181.
«ernjahre eines Theologen

ich die Antwort: Dem Schicksal werden wir nicht entgeh» können; dus ist das
Los der Alten. Doch nein! und abermals nein! rief ich dazwischen. Wir
sind zu sehr von der Wahrheit des modernen Entwickinngsbegriffs durch¬
drungen. Der Gedanke des Fortschreitend die Gewißheit, daß neue Strö¬
mungen aufkommen, neue Wahrheiten gefunden, neue führende Geister erstes»
werden, ist uns zu sehr in Fleisch und Blut übergegangen. Wir wissen: Es
gilt nicht, stehn zu bleiben und alte Wahrheiten unermüdlich zu wiederholen,
wenn auch die Welt anders geworden ist, sondern daS bewährte Alte mit
dem guten Neuen zu verbinden. Es gilt von vornherein der Gefahr des
Staguierens, des Einrostens zu begegnen, Herz und Sinne, Kopf und Ge¬
danken den neuen Strömungen offen zu halten und dein Pulsschlag der Zeit
still und nudächtig zu lauschen.

Eine wichtige Entdeckung machte ich im Laufe der Jahre: die Theologen,
die nach Ablauf der Studiensemester am Althergebrachten hingen, hatten kein
großes wissenschaftliches Interesse mehr. Ich glaube, daß es uur wenige Aus¬
nahmen giebt. Bei fast allen überwog die Stimmung: Die Zeit des „wissen¬
schaftlichen" Arbeitens ist vorüber. Jetzt kommt das Pfarramt mit seinen
andersartigen Aufgaben und Erfordernissen. Die Eifriger nnter ihnen warfen
sich auf praktische Fragen, studierten die Leistungen der innern Mission, legten
sich ans die praktische Auslegung der biblischen Schriften, auf das Studium
gedruckter Predigte«, nicht bloß um sie auszuschlachten, sondern auch um wirk¬
lich Predigtkunst an ihnen zu lernen. Manche von ihnen sind tüchtige und
rührige Verkünder des Evangeliums geworden und werden von ihren Ge¬
meinden geliebt und verehrt. Aber die Stimmung herrscht in ihnen vor: Ein
Weiterarbeiten und Forschen, ein Dnrchdenken der höchsten Wahrheitsfragen
ist nicht mehr nötig. Du hast ja den Besitz des Heils, die Zweifel sind über¬
wunden. Es gilt nur uoch, in der Technik der Mitteilung dieser Wahrheit
sich weiter zu vervollkommnen. Wieder bei andern wird die durch Amtsthätig¬
keit nicht in Anspruch geuommne Zeit durch Liebhabereien ausgefüllt, im besten
Falle durch edle Kunst, Musik, Geselligkeit. In den Gegenden Deutschlands,
wo das Wort „liberal" einen guten Klang hat, lobt man solche Pfarrhäuser
als liberale. Andre treiben lieber Gartenbau und Bienenzucht; ja von
manchen wird eine mit dein geistigen Leben des Theologen innerlich nicht zu¬
sammenhängende Wissenschaft als eine Art Liebhaberei betrieben.

Gering ist dagegen die Zahl derer, die die höchsten Wahrheitsfragen auch
im Pfarramte noch von neuem durchkämpfen. Daß ein Geistlicher noch im
Pfarramte seine theologische Richtung ändert, kommt zuweilen vor. Teils ist
der persönliche Verkehr mit Andersgerichteten der Anlaß, teils ein zufällig ge¬
lesenes Buch, das ihm Meinungen kund that, an denen er bisher achtlos
vorübergegangen war. Doch dies sind nur Ausnahmen. Nur wenige, wie
z. B. Robertson,") wisse» es, daß uur der aus der Wahrheit ist, der sein



*) Religiöse Reden S, 181.
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[0195] «ernjahre eines Theologen ich die Antwort: Dem Schicksal werden wir nicht entgeh» können; dus ist das Los der Alten. Doch nein! und abermals nein! rief ich dazwischen. Wir sind zu sehr von der Wahrheit des modernen Entwickinngsbegriffs durch¬ drungen. Der Gedanke des Fortschreitend die Gewißheit, daß neue Strö¬ mungen aufkommen, neue Wahrheiten gefunden, neue führende Geister erstes» werden, ist uns zu sehr in Fleisch und Blut übergegangen. Wir wissen: Es gilt nicht, stehn zu bleiben und alte Wahrheiten unermüdlich zu wiederholen, wenn auch die Welt anders geworden ist, sondern daS bewährte Alte mit dem guten Neuen zu verbinden. Es gilt von vornherein der Gefahr des Staguierens, des Einrostens zu begegnen, Herz und Sinne, Kopf und Ge¬ danken den neuen Strömungen offen zu halten und dein Pulsschlag der Zeit still und nudächtig zu lauschen. Eine wichtige Entdeckung machte ich im Laufe der Jahre: die Theologen, die nach Ablauf der Studiensemester am Althergebrachten hingen, hatten kein großes wissenschaftliches Interesse mehr. Ich glaube, daß es uur wenige Aus¬ nahmen giebt. Bei fast allen überwog die Stimmung: Die Zeit des „wissen¬ schaftlichen" Arbeitens ist vorüber. Jetzt kommt das Pfarramt mit seinen andersartigen Aufgaben und Erfordernissen. Die Eifriger nnter ihnen warfen sich auf praktische Fragen, studierten die Leistungen der innern Mission, legten sich ans die praktische Auslegung der biblischen Schriften, auf das Studium gedruckter Predigte«, nicht bloß um sie auszuschlachten, sondern auch um wirk¬ lich Predigtkunst an ihnen zu lernen. Manche von ihnen sind tüchtige und rührige Verkünder des Evangeliums geworden und werden von ihren Ge¬ meinden geliebt und verehrt. Aber die Stimmung herrscht in ihnen vor: Ein Weiterarbeiten und Forschen, ein Dnrchdenken der höchsten Wahrheitsfragen ist nicht mehr nötig. Du hast ja den Besitz des Heils, die Zweifel sind über¬ wunden. Es gilt nur uoch, in der Technik der Mitteilung dieser Wahrheit sich weiter zu vervollkommnen. Wieder bei andern wird die durch Amtsthätig¬ keit nicht in Anspruch geuommne Zeit durch Liebhabereien ausgefüllt, im besten Falle durch edle Kunst, Musik, Geselligkeit. In den Gegenden Deutschlands, wo das Wort „liberal" einen guten Klang hat, lobt man solche Pfarrhäuser als liberale. Andre treiben lieber Gartenbau und Bienenzucht; ja von manchen wird eine mit dein geistigen Leben des Theologen innerlich nicht zu¬ sammenhängende Wissenschaft als eine Art Liebhaberei betrieben. Gering ist dagegen die Zahl derer, die die höchsten Wahrheitsfragen auch im Pfarramte noch von neuem durchkämpfen. Daß ein Geistlicher noch im Pfarramte seine theologische Richtung ändert, kommt zuweilen vor. Teils ist der persönliche Verkehr mit Andersgerichteten der Anlaß, teils ein zufällig ge¬ lesenes Buch, das ihm Meinungen kund that, an denen er bisher achtlos vorübergegangen war. Doch dies sind nur Ausnahmen. Nur wenige, wie z. B. Robertson,") wisse» es, daß uur der aus der Wahrheit ist, der sein *) Religiöse Reden S, 181.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/195>, abgerufen am 26.06.2024.