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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Kornjahre eines Theologen

sie gehn zu weit; was bleibt dann noch Festes? Da nun die meisten lonsi-
stvrialrätlichen Examinatoren ihr Wissen aas dein Stande der Wissenschaften
vor drei bis vier Jahrzehnten her bezogen haben, so heißt es: Wozu sich mit
neuern Fragen quälen? Dazu klingt der Sirenengesang: Die Hypothesen der
Wissenschaft ändern sich ja jedes Jahrzehnt. Was heute gilt, wird morgen
schon wieder bestritten, Ist es da nicht einfacher, beim Alten zu bleiben?
Nur wird dabei übersehe", daß dieses Alte auch einmal neu war, und daß
verfestigte Irrtümer deu Nimbus des Unveränderlichen, stabilen, ja des ewigen,
göttlichen Rechts erhalten, Dazu wird in dem Neuen der allmähliche, lang¬
same Fortschritt zum Bessern, das erneute Abstoßen der Irrtümer, die oft nicht
geradlinige, sondern spiralförmige Entwicklung zur Wahrheit hin übersehen und
verkannt.

Eine andre Gefahr droht bei vielen, die des Skeptizismus. Es giebt so
viele sich widersprechende Meinungen. Darf da noch jemand behaupten: Ich
habe die Wahrheit? Diese Skepsis, die schließlich den objektiven Wahrheits¬
begriff überhaupt aufhebt, die keinen Mut eigner Meinung mehr hat und
schließlich jede Thatkraft lahmt, ist eine Stütze der herrschenden Überlieferung,
die nicht übersehen werden darf. Wenn die verschiednen Meinungen in der Kirche
gleichberechtigt sind, eine so wahr und so falsch wie die andre, so braucht mau
doch zum täglichen Leben gewisse Meinungen, die man gelegentlich mich wie
"Überzeugungen" handhabt. Da nun die Skepsis jede Energie im Denken und
Handeln ertötet hat, so verfällt man natürlich in den alten Schlendrian, in
die ausgefahrnen Geleise kirchlicher Durchschnittsmeinnngen. Die alte Ortho¬
doxie mit ihren Ecken und Kanten, ihrer Starrheit und Massivität hatte noch
Wucht und Energie, brachte es oft zum Fanatismus. Das bequeme neu¬
modische Kleben an der Tradition ist eine Folge der Schlaffheit im Denken
und Handeln und schließlich der Verzweiflung an objektiver, allgemeiugiltiger
Wahrheit.

Vor vier Jahrzehnten lag eine andre Gefahr als die der Skepsis nahe.
Die Theologen meinten: Es kommt vor allein darauf an, den Strömen der
bewegten, veränderlichen Zeit mit ihren verkehrten Zeitmeinnngen etwas Festes,
Massives entgegenzuhalten. Ein solches fanden viele im lutherischen Kirchen-
tnm. Dies gab ihnen oft eine gewaltige, imponierende Willenskraft, der
gegenüber das heutige jüngere Theologengcschlecht schwächlich und zweifelsüchtig
erscheint. Aber ihr Verstand, einmal abgeschlossen und sich nicht mehr weiter
bildend, blieb dem Fortschritt der Zeit gegenüber geradezu borniert ver¬
schlossen.

Oft fragte ich Gleichaltrige: Werden Nur auch einst nach Jahrzehnten so
verständnislos der neuen Zeit gegenüberstehn wie jetzt die Alten? Meist hörte



*) Vgl. die kostbare Satire Fritz Reuters über die angeblich göttlichen und menschlichen
Rechte' in der "Urgeschicht von Mecllenborg," Der liebe Gott führt dazwischen und sagt: Das
mit den menschlichen Rechten war schon schlimm genug, aber bei dem göttlichen Recht habe ich
schließlich auch noch ein Wort mitzureden.
Kornjahre eines Theologen

sie gehn zu weit; was bleibt dann noch Festes? Da nun die meisten lonsi-
stvrialrätlichen Examinatoren ihr Wissen aas dein Stande der Wissenschaften
vor drei bis vier Jahrzehnten her bezogen haben, so heißt es: Wozu sich mit
neuern Fragen quälen? Dazu klingt der Sirenengesang: Die Hypothesen der
Wissenschaft ändern sich ja jedes Jahrzehnt. Was heute gilt, wird morgen
schon wieder bestritten, Ist es da nicht einfacher, beim Alten zu bleiben?
Nur wird dabei übersehe», daß dieses Alte auch einmal neu war, und daß
verfestigte Irrtümer deu Nimbus des Unveränderlichen, stabilen, ja des ewigen,
göttlichen Rechts erhalten, Dazu wird in dem Neuen der allmähliche, lang¬
same Fortschritt zum Bessern, das erneute Abstoßen der Irrtümer, die oft nicht
geradlinige, sondern spiralförmige Entwicklung zur Wahrheit hin übersehen und
verkannt.

Eine andre Gefahr droht bei vielen, die des Skeptizismus. Es giebt so
viele sich widersprechende Meinungen. Darf da noch jemand behaupten: Ich
habe die Wahrheit? Diese Skepsis, die schließlich den objektiven Wahrheits¬
begriff überhaupt aufhebt, die keinen Mut eigner Meinung mehr hat und
schließlich jede Thatkraft lahmt, ist eine Stütze der herrschenden Überlieferung,
die nicht übersehen werden darf. Wenn die verschiednen Meinungen in der Kirche
gleichberechtigt sind, eine so wahr und so falsch wie die andre, so braucht mau
doch zum täglichen Leben gewisse Meinungen, die man gelegentlich mich wie
„Überzeugungen" handhabt. Da nun die Skepsis jede Energie im Denken und
Handeln ertötet hat, so verfällt man natürlich in den alten Schlendrian, in
die ausgefahrnen Geleise kirchlicher Durchschnittsmeinnngen. Die alte Ortho¬
doxie mit ihren Ecken und Kanten, ihrer Starrheit und Massivität hatte noch
Wucht und Energie, brachte es oft zum Fanatismus. Das bequeme neu¬
modische Kleben an der Tradition ist eine Folge der Schlaffheit im Denken
und Handeln und schließlich der Verzweiflung an objektiver, allgemeiugiltiger
Wahrheit.

Vor vier Jahrzehnten lag eine andre Gefahr als die der Skepsis nahe.
Die Theologen meinten: Es kommt vor allein darauf an, den Strömen der
bewegten, veränderlichen Zeit mit ihren verkehrten Zeitmeinnngen etwas Festes,
Massives entgegenzuhalten. Ein solches fanden viele im lutherischen Kirchen-
tnm. Dies gab ihnen oft eine gewaltige, imponierende Willenskraft, der
gegenüber das heutige jüngere Theologengcschlecht schwächlich und zweifelsüchtig
erscheint. Aber ihr Verstand, einmal abgeschlossen und sich nicht mehr weiter
bildend, blieb dem Fortschritt der Zeit gegenüber geradezu borniert ver¬
schlossen.

Oft fragte ich Gleichaltrige: Werden Nur auch einst nach Jahrzehnten so
verständnislos der neuen Zeit gegenüberstehn wie jetzt die Alten? Meist hörte



*) Vgl. die kostbare Satire Fritz Reuters über die angeblich göttlichen und menschlichen
Rechte' in der „Urgeschicht von Mecllenborg," Der liebe Gott führt dazwischen und sagt: Das
mit den menschlichen Rechten war schon schlimm genug, aber bei dem göttlichen Recht habe ich
schließlich auch noch ein Wort mitzureden.
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[0194] Kornjahre eines Theologen sie gehn zu weit; was bleibt dann noch Festes? Da nun die meisten lonsi- stvrialrätlichen Examinatoren ihr Wissen aas dein Stande der Wissenschaften vor drei bis vier Jahrzehnten her bezogen haben, so heißt es: Wozu sich mit neuern Fragen quälen? Dazu klingt der Sirenengesang: Die Hypothesen der Wissenschaft ändern sich ja jedes Jahrzehnt. Was heute gilt, wird morgen schon wieder bestritten, Ist es da nicht einfacher, beim Alten zu bleiben? Nur wird dabei übersehe», daß dieses Alte auch einmal neu war, und daß verfestigte Irrtümer deu Nimbus des Unveränderlichen, stabilen, ja des ewigen, göttlichen Rechts erhalten, Dazu wird in dem Neuen der allmähliche, lang¬ same Fortschritt zum Bessern, das erneute Abstoßen der Irrtümer, die oft nicht geradlinige, sondern spiralförmige Entwicklung zur Wahrheit hin übersehen und verkannt. Eine andre Gefahr droht bei vielen, die des Skeptizismus. Es giebt so viele sich widersprechende Meinungen. Darf da noch jemand behaupten: Ich habe die Wahrheit? Diese Skepsis, die schließlich den objektiven Wahrheits¬ begriff überhaupt aufhebt, die keinen Mut eigner Meinung mehr hat und schließlich jede Thatkraft lahmt, ist eine Stütze der herrschenden Überlieferung, die nicht übersehen werden darf. Wenn die verschiednen Meinungen in der Kirche gleichberechtigt sind, eine so wahr und so falsch wie die andre, so braucht mau doch zum täglichen Leben gewisse Meinungen, die man gelegentlich mich wie „Überzeugungen" handhabt. Da nun die Skepsis jede Energie im Denken und Handeln ertötet hat, so verfällt man natürlich in den alten Schlendrian, in die ausgefahrnen Geleise kirchlicher Durchschnittsmeinnngen. Die alte Ortho¬ doxie mit ihren Ecken und Kanten, ihrer Starrheit und Massivität hatte noch Wucht und Energie, brachte es oft zum Fanatismus. Das bequeme neu¬ modische Kleben an der Tradition ist eine Folge der Schlaffheit im Denken und Handeln und schließlich der Verzweiflung an objektiver, allgemeiugiltiger Wahrheit. Vor vier Jahrzehnten lag eine andre Gefahr als die der Skepsis nahe. Die Theologen meinten: Es kommt vor allein darauf an, den Strömen der bewegten, veränderlichen Zeit mit ihren verkehrten Zeitmeinnngen etwas Festes, Massives entgegenzuhalten. Ein solches fanden viele im lutherischen Kirchen- tnm. Dies gab ihnen oft eine gewaltige, imponierende Willenskraft, der gegenüber das heutige jüngere Theologengcschlecht schwächlich und zweifelsüchtig erscheint. Aber ihr Verstand, einmal abgeschlossen und sich nicht mehr weiter bildend, blieb dem Fortschritt der Zeit gegenüber geradezu borniert ver¬ schlossen. Oft fragte ich Gleichaltrige: Werden Nur auch einst nach Jahrzehnten so verständnislos der neuen Zeit gegenüberstehn wie jetzt die Alten? Meist hörte *) Vgl. die kostbare Satire Fritz Reuters über die angeblich göttlichen und menschlichen Rechte' in der „Urgeschicht von Mecllenborg," Der liebe Gott führt dazwischen und sagt: Das mit den menschlichen Rechten war schon schlimm genug, aber bei dem göttlichen Recht habe ich schließlich auch noch ein Wort mitzureden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/194>, abgerufen am 26.06.2024.