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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Getreidezölle und Handelsverträge

sind zu ergreifet?, sie darauf zu erhalten und vorwärts zu bringen?" Die
"ationalökvnomische Wissenschaft hat in den letzten zwanzig Jahren große Fort¬
schritte gemacht, gerade auch in der Methode der Forschung, zur Vermeidung
der alten Einseitigkeit und Prinzipienreiterei. Das Manchestertum ist voll¬
ständig verschwunden. Die Professoren haben mit vollem Verständnis und
ohne ungünstiges Vorurteil das Schutzsystem zwei Jahrzehnte lang studiert
und seine politischen Wirkungen zu ermitteln gesucht. Es hieße die Bedeutung
der deutschen Nationalökonomie doch arg verkennen, sollten es die Verbündeten
Regierungen und als ihr Organ der Bundesrat gerade bei dem heutigen
Stande der Frage für überflüssig halten, die berufnen, staatlich bestellten Ver¬
treter der Staatswissenschaft über das "geistige Band" ebenso zu konsultieren,
wie sie sich bisher von den Interessenten aus der Praxis die "Teile" haben in
die Hand geben lassen. Die Professoren sind natürlich nicht ganz einig in der
Sache. Ein sehr großer Teil hat gegen die Vorstellungen, die man sich nach
allem, was bisher in die Öffentlichkeit gedrungen ist, an den zunächst verant¬
wortlichen Stellen der Regierung und in den Mehrheitsparteien des Reichs¬
tags über die neue Gestaltung unsrer Zollpolitik macht, ernste Bedenken ge¬
äußert. Vielleicht werden diese Bedenken durch Kenntnis und Prüfung des
von den Interessenten beigebrachten Thatsachenmaterials in wesentlichen Punkten
gemildert werden, vielleicht auch teilweise verschärft. Die große Mehrzahl der
wissenschaftlichen Nationalökonomen tritt dabei unsers Wissens überzeugt für
die Weltpolitik, für die Politik des größern Deutschlands ein, wie der Kaiser
sie als gebvtnes Ziel erkannt und Graf Bülow sie wiederholt formuliert
hat, und von diesem Standpunkt aus beurteilen sie auch die heute brennende
zvllpolitische Frage. Schon deshalb werden es die Negiernngsmänncr schwer
verantworten können, über die Professoren einfach zur Tagesordnung überzu-
gehn, oder mir die wenigen Allerneusten von ihnen zu hören, die grundsätzlich
jede Grundsätzlichkeit und sogenannte "Doktrin" in der Wissenschaft per-
horreszieren.") Es steht doch dem gar nichts entgegen, daß man die deutsche
Staatswissenschaft noch jetzt in aller Form über das aufgestapelte Thatsnchen-
material und die Grundsätze verantwortlich vernimmt. Thut man das nicht,
so wird vielleicht die Kritik der Folgen einer unbedachten Zollrefvrm später
den Gesetzgebern ein recht unrühmliches Denkmal setzen.

Wenn man im besondern das Verhältnis der Getreidezölle zu den Handels¬
verträgen richtig beurteilen will, so ist am allerwenigsten ohne Wissenschaftlich¬
keit und Grundsätzlichkeit auszukommen. Unsre Agrarier sind auch klug genug,
für ihre zum Teil einseitigen und übertriebnen Forderungen allerhand wissen¬
schaftliche Argumente ins Treffen zu führen. Sie werden dabei sogar zuweilen
sehr arge Theoretiker, Prinzipienreiter und Doktrinäre. Die Grnndsntzfcinde
sind hauptsächlich die industriellen Schutzzöllner, die zum Teil selbst nicht zu
wissen scheine" oder es andre nicht wissen lassen möchten, was sie wollen.



*) Wie Van der Borght, Handel und Handelspolitik (Leipzig, L. C. Hirschfeld, 1900)
und Richard Ehrenberq, .Handelspolitik (Jena, Gustav Fischer, 1900).
Getreidezölle und Handelsverträge

sind zu ergreifet?, sie darauf zu erhalten und vorwärts zu bringen?" Die
»ationalökvnomische Wissenschaft hat in den letzten zwanzig Jahren große Fort¬
schritte gemacht, gerade auch in der Methode der Forschung, zur Vermeidung
der alten Einseitigkeit und Prinzipienreiterei. Das Manchestertum ist voll¬
ständig verschwunden. Die Professoren haben mit vollem Verständnis und
ohne ungünstiges Vorurteil das Schutzsystem zwei Jahrzehnte lang studiert
und seine politischen Wirkungen zu ermitteln gesucht. Es hieße die Bedeutung
der deutschen Nationalökonomie doch arg verkennen, sollten es die Verbündeten
Regierungen und als ihr Organ der Bundesrat gerade bei dem heutigen
Stande der Frage für überflüssig halten, die berufnen, staatlich bestellten Ver¬
treter der Staatswissenschaft über das „geistige Band" ebenso zu konsultieren,
wie sie sich bisher von den Interessenten aus der Praxis die „Teile" haben in
die Hand geben lassen. Die Professoren sind natürlich nicht ganz einig in der
Sache. Ein sehr großer Teil hat gegen die Vorstellungen, die man sich nach
allem, was bisher in die Öffentlichkeit gedrungen ist, an den zunächst verant¬
wortlichen Stellen der Regierung und in den Mehrheitsparteien des Reichs¬
tags über die neue Gestaltung unsrer Zollpolitik macht, ernste Bedenken ge¬
äußert. Vielleicht werden diese Bedenken durch Kenntnis und Prüfung des
von den Interessenten beigebrachten Thatsachenmaterials in wesentlichen Punkten
gemildert werden, vielleicht auch teilweise verschärft. Die große Mehrzahl der
wissenschaftlichen Nationalökonomen tritt dabei unsers Wissens überzeugt für
die Weltpolitik, für die Politik des größern Deutschlands ein, wie der Kaiser
sie als gebvtnes Ziel erkannt und Graf Bülow sie wiederholt formuliert
hat, und von diesem Standpunkt aus beurteilen sie auch die heute brennende
zvllpolitische Frage. Schon deshalb werden es die Negiernngsmänncr schwer
verantworten können, über die Professoren einfach zur Tagesordnung überzu-
gehn, oder mir die wenigen Allerneusten von ihnen zu hören, die grundsätzlich
jede Grundsätzlichkeit und sogenannte „Doktrin" in der Wissenschaft per-
horreszieren.") Es steht doch dem gar nichts entgegen, daß man die deutsche
Staatswissenschaft noch jetzt in aller Form über das aufgestapelte Thatsnchen-
material und die Grundsätze verantwortlich vernimmt. Thut man das nicht,
so wird vielleicht die Kritik der Folgen einer unbedachten Zollrefvrm später
den Gesetzgebern ein recht unrühmliches Denkmal setzen.

Wenn man im besondern das Verhältnis der Getreidezölle zu den Handels¬
verträgen richtig beurteilen will, so ist am allerwenigsten ohne Wissenschaftlich¬
keit und Grundsätzlichkeit auszukommen. Unsre Agrarier sind auch klug genug,
für ihre zum Teil einseitigen und übertriebnen Forderungen allerhand wissen¬
schaftliche Argumente ins Treffen zu führen. Sie werden dabei sogar zuweilen
sehr arge Theoretiker, Prinzipienreiter und Doktrinäre. Die Grnndsntzfcinde
sind hauptsächlich die industriellen Schutzzöllner, die zum Teil selbst nicht zu
wissen scheine» oder es andre nicht wissen lassen möchten, was sie wollen.



*) Wie Van der Borght, Handel und Handelspolitik (Leipzig, L. C. Hirschfeld, 1900)
und Richard Ehrenberq, .Handelspolitik (Jena, Gustav Fischer, 1900).
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[0179] Getreidezölle und Handelsverträge sind zu ergreifet?, sie darauf zu erhalten und vorwärts zu bringen?" Die »ationalökvnomische Wissenschaft hat in den letzten zwanzig Jahren große Fort¬ schritte gemacht, gerade auch in der Methode der Forschung, zur Vermeidung der alten Einseitigkeit und Prinzipienreiterei. Das Manchestertum ist voll¬ ständig verschwunden. Die Professoren haben mit vollem Verständnis und ohne ungünstiges Vorurteil das Schutzsystem zwei Jahrzehnte lang studiert und seine politischen Wirkungen zu ermitteln gesucht. Es hieße die Bedeutung der deutschen Nationalökonomie doch arg verkennen, sollten es die Verbündeten Regierungen und als ihr Organ der Bundesrat gerade bei dem heutigen Stande der Frage für überflüssig halten, die berufnen, staatlich bestellten Ver¬ treter der Staatswissenschaft über das „geistige Band" ebenso zu konsultieren, wie sie sich bisher von den Interessenten aus der Praxis die „Teile" haben in die Hand geben lassen. Die Professoren sind natürlich nicht ganz einig in der Sache. Ein sehr großer Teil hat gegen die Vorstellungen, die man sich nach allem, was bisher in die Öffentlichkeit gedrungen ist, an den zunächst verant¬ wortlichen Stellen der Regierung und in den Mehrheitsparteien des Reichs¬ tags über die neue Gestaltung unsrer Zollpolitik macht, ernste Bedenken ge¬ äußert. Vielleicht werden diese Bedenken durch Kenntnis und Prüfung des von den Interessenten beigebrachten Thatsachenmaterials in wesentlichen Punkten gemildert werden, vielleicht auch teilweise verschärft. Die große Mehrzahl der wissenschaftlichen Nationalökonomen tritt dabei unsers Wissens überzeugt für die Weltpolitik, für die Politik des größern Deutschlands ein, wie der Kaiser sie als gebvtnes Ziel erkannt und Graf Bülow sie wiederholt formuliert hat, und von diesem Standpunkt aus beurteilen sie auch die heute brennende zvllpolitische Frage. Schon deshalb werden es die Negiernngsmänncr schwer verantworten können, über die Professoren einfach zur Tagesordnung überzu- gehn, oder mir die wenigen Allerneusten von ihnen zu hören, die grundsätzlich jede Grundsätzlichkeit und sogenannte „Doktrin" in der Wissenschaft per- horreszieren.") Es steht doch dem gar nichts entgegen, daß man die deutsche Staatswissenschaft noch jetzt in aller Form über das aufgestapelte Thatsnchen- material und die Grundsätze verantwortlich vernimmt. Thut man das nicht, so wird vielleicht die Kritik der Folgen einer unbedachten Zollrefvrm später den Gesetzgebern ein recht unrühmliches Denkmal setzen. Wenn man im besondern das Verhältnis der Getreidezölle zu den Handels¬ verträgen richtig beurteilen will, so ist am allerwenigsten ohne Wissenschaftlich¬ keit und Grundsätzlichkeit auszukommen. Unsre Agrarier sind auch klug genug, für ihre zum Teil einseitigen und übertriebnen Forderungen allerhand wissen¬ schaftliche Argumente ins Treffen zu führen. Sie werden dabei sogar zuweilen sehr arge Theoretiker, Prinzipienreiter und Doktrinäre. Die Grnndsntzfcinde sind hauptsächlich die industriellen Schutzzöllner, die zum Teil selbst nicht zu wissen scheine» oder es andre nicht wissen lassen möchten, was sie wollen. *) Wie Van der Borght, Handel und Handelspolitik (Leipzig, L. C. Hirschfeld, 1900) und Richard Ehrenberq, .Handelspolitik (Jena, Gustav Fischer, 1900).

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/179>, abgerufen am 26.06.2024.